Volk der Summiar

"Was denkst du wird mit ihnen passieren?", flüsterte Sera dem Soldaten neben sich zu, welcher mit ihr gemeinsam das Schlusslicht ihrer Gruppe bildete. Er schreckte aus seinem Trott auf. Ein kurzes Schaudern durchfuhr seinen Körper während er die, mit Ketten an Armen und Beinen aneinander gefesselte, Prozession aus Körpern betrachtete und merklich an einem kleinen Mädchen hängen blieb. Die Kleine schaffte es nur mit Mühe die schwere Kette mit ihren geschundenen Beinen anzuheben. Ihr ganzer Körper zitterte, gleichermaßen vor Anstrengung als auch durch das stete Weinen das von ihr zu kommen schien.

"Ich will gar nicht darüber nachdenken.", erwiderte er schließlich, bevor seinen Blick losriss und sich auf die Lippe biss. Schließlich ließ die Spannung in seinem Kiefer nach, bevor er seufzte und zeitgleich mit Sera einfror. Klirrend fiel eine der Ketten zu Boden, prallte an einem hervorragenden Stein ab und landete im weißen Schnee. Ein zweites Klirren als auch die Fußkette des Mannes fiel, welcher ganz hinten in der Schlange stand.

Ihr Begleiter fing sich vor Sera und riss sein Schwert mit zittrigen Fingern aus der Scheide: "Ganz ruhig. Mach nichts, was du später bereust." Er streckte eine Hand behutsam nach vorne in Richtung des Mannes, der sich langsam umdrehte und sie fokussierte. Sein Blick war eindeutig. Er verstand kein Wort, so wie niemand aus ihrem Volk die Soldaten verstanden hatte, die plötzlich in ihr Dorf gekommen waren. Der Moment, in welchem sich die beiden fokussierten, verging so schnell, wie er gekommen war.

"Bitte nicht.", flüsterte der Soldat zu sich selbst. Ein kurzes Zucken vorwärts, dann befand sich der Gefangene in vollem Sprint in das Durcheinander der vom Winter erkargten Landschaft.
"Verflucht", keifte Sera, doch weder sie, noch ihr Kamerad neben ihr setzten sich in Bewegung. Beide standen wie angewurzelt. Er das Schwert in der Hand, sie die flache Hand nach vorne gerichtet. Ihre Hand war ausgestreckt, bildete eine Linie zwischen ihren Augen und dem Bereich zwischen ihrem Ring- und Zeigefinger. Mit präzisen Bewegungen hielt sie den Flüchtenden optisch innerhalb dieses Bereichs, während die Magie von ihrem Nacken her kribbelte und sich als warme Linie von dort zu ihrer ausgestreckten Hand bewegte. Sie war bereit. Sie musste die Kraft nur entladen. Nur ein Impuls. Sie musste nur loslassen. Komm schon. Komm schon, du Feigling!

Das Volk der Summiar war das erste Volk, welches zu Beginn des fünften Zeitalters durch den Rat der Magier in die neue menschliche Gesellschaft eingegliedert werden sollte. Ihrer Weigerung folgte eine Verbannung der schlimmsten Art.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Wie die meisten Nomadenvölker, die in der stillen Zeit als Konsequenz des Erwachens ohne Erinnerungen und Rückzugsorte zu sich kamen, waren die Summiar gezwungen sich in der unendlichen Wildnis von Uras durchzuschlagen. Ihre Revier umfasste primär das spätere Mas'Orat. Sie lebten Zeit ihrer Existenz in enger Verbundenheit mit den Tieren und waren insbesondere gerühmt dafür Wolfsrudel an sich selbst gewöhnt zu haben und diese zu domestizieren.

Die Summiar überdauerten die gesamte stille Zeit, wurden jedoch vertrieben, als das fünfte Zeitalter anbrach und der Rat der Magier begann die umliegenden Gebiete um Alphis unter ihre Kontrolle zu bringen. Hierbei war das bescheiden lebende Volk ihr erstes Opfer und gleichermaßen auch ihr erster Widerstand, der nicht bereit war sich ihren Forderungen zu beugen.

Leben

Die Summiar waren ein starkes Volk, welches den widrigen Elementen trotzen konnte. Sie jagten primär nach großen Elchartigen Wesen, die in ihren Jagdgebieten lebten und nutzten deren Pelze als Kleidung, sowie für die Bedeckung ihrer Zelte. Gleichermaßen konnten sie große Wolfsrudel domestizieren, indem das Fleisch der Kreaturen mit ihnen teilten. Die Kombination dieser Verfügbarkeit von wärmender Kleidung, sowie dem Schutz durch die unterwürfigen Wölfe verlieh den Summiar nicht nur ein akzeptables Leben, sondern auch eine gewisse Reputation.

Das Volk der Summiar umfasste mehrere Stämme, die stets ein Maximum von etwa 140 Personen pflegten. Wuchs ein Stamm über diesen Punkt hinaus an, spaltete sich eine kleinere Gruppe ab, entweder freiwillig oder auf Drängen der Stammesältesten. Die einzelnen Stämme der Summiar kamen in regelmäßigen Abständen zusammen, feierten Feste gemeinsam oder trieben Handel und mischten sich in einigen Fällen auch, um neue Konstellationen ihrer Stämme hervorzubringen.

Aufeinandertreffen mit dem Rat

Nachdem der Rat der Magier die Geheimnisse des Weltenschreins entschlüsselt hatte, erklärten sie ihren Versuch die Menschen des Kontinents von den Gefahren von Bestien und anderen Bedrohungen zu befreien und initiierten somit den ersten menschlichen Befreiungskrieg. Unglücklicherweise können die genauen Geschehnisse, die sich zwischen dem Rat und den Summiar ereigneten, nur aus Sicht des Rates zusammengetragen werden.

"Den Aufzeichnungen des Rates selbst nach wurden damals über 200 Jungmagier, sowie drei Generäle entsandt, um den Summiar das Angebot ihrer Annektierung in die neuen, menschlichen Strukturen zu unterbreiten. Diese eindeutige Übermacht gegenüber einem Volk, welches weder über die Waffen des Rates, noch ihren Zugriff auf Magie verfügte, war gewiss damals bereits ein eindeutiges Zeichen. Eine neue Zeit war angebrochen und es galt sich zu fügen oder unterzugehen. In den Jahren des ersten menschlichen Befreiungskriegs und den Nachkriegsjahren wurden tausende Berichte ob des Zusammentreffens mit fremden Völkern angefertigt und obwohl es von Seiten des Rates und der Kirche klare Anweisungen gab, blieb die Handlungsbefugnis bei den Generälen vor Ort. Sie schrieben die Geschichte und in den chaotischen Gründungs- und Organisationsjahren des Rates, welche von hinterhältigen Manövern und politischen Gestricken torpediert waren, wurden ihre Erzählungen akzeptiert und es wurde zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung übergegangen."
- Anthropologe Jakob Waster


Heute ist zu vermuten, dass die Summiar sich schlichtweg weigerten, sich den Bedingungen des Rates (zumeist die Aufgabe der eigenen Götzen, die Niederlegung der eigenen Sprache und die Auflösung eigener politischer und organisatorischer Strukturen, sowie die Beisteuerung neuer Soldaten zum menschlichen Heer) zu fügen, falls überhaupt irgendeine Form von Kommunikation möglich gewesen war. Begleitend zu den Versuchen der Annektierungen bemühte sich der Rat in ihren eigenen Reihen Magier auszubilden, welche über besondere Kommunikations- und Verständigungsmagien verfügten, um die Sprachbarrieren zwischen sich und den verschiedenen Völkern zu überwinden. Im Fall der Summiar ist nicht bekannt, ob ein solcher Magier zur Verfügung stand.

Verbannung

Im Angesicht der Annektierung in die Reihen der neuen Menschheit, schien die Verbannung und die Bewahrung der eigenen Identität kein schlechtes Schicksal zu sein. Verwässerung des eigenen Volkes bedeutet immerhin nichts anderes als ein Untergang der eigenen Kultur, der eigenen Sitten, gar der eigenen Namen und es bedeutete eine Abwendung von dem Glauben, der seit 900 Jahren praktiziert worden war. Die Verbannung des Rates im Fall der Summiar konnte jedoch keinesfalls als Gnade verstanden werden.

Spätere Völker, die sich weigerten, sich der neuen Ordnung zu fügen, wurden schlichtweg ausgerottet, vor Ort niedergebrannt. Die Summiar allerdings wurden nach Harmos getrieben, zur Heimat der Kirche des Lichts, die über dem Abgrund schwebende Stadt der Ame. Hier erhielten sie eine letzte Gelegenheit sich zu fügen, die sie jedoch ein weiteres Mal ablehnten. Berichte erzählen davon, dass jeder einzelne der Summiar im Angesicht der gewährten Gnade auf den Boden spuckte.

Als Strafe für ihren Frevel auf heiligem Boden entschied die amtierende Mahia die Verbannung des Volks hinab in den Abgrund selbst. Ihre Götzenbilder wurden in den endlosen Schlund geworfen und der Rechtsprechung zufolge sollte es den Summiar erst wieder gestattet werden die ewige Finsternis des Abgrunds zu verlassen, sobald sie 100 ihrer Götzen vereint hätten. Selbst bei späteren Expeditionen der Kirche hinab in den Schlund wurde nie wieder auch nur ein einziges Lebenszeichen der Summiar gefunden, abgesehen von der Leiche eines kleinen Mädchens, nur wenige hundert Meter vom Eingang des Abgrunds entfernt.


Cover image: by CSor96 using Midjourney

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