Von meiner Position im Geäst war es schwer zu erkennen, aber Wiatt war sichtlich nervös, zappelte herum und bewegte sich mehrmals - immer noch angekettet - um den Baum, bis er endlich außerhalb meines Sichtfeldes zur Ruhe kam; vielleicht würde er die NAcht durchschlafen? Nach einiger Zeit sah ich Grauer, wie er verwundert den Kopf schieflegte. Er sollte ja eigentlich darauf achten, dass wir von außerhalb ungestört blieben, aber irgendwas am Baum hatte ihn neugierig gemacht. Nachdem er sich die Stelle, wo Wiatt schlafen sollte, genauer beäugt hatte, flüsterte er mit der Leisigkeit von Donnern in fernen Bergen zu mir herauf, dass Wiatt weg sei. Fluchend kraxelte ich also hinunter, um mir das selbst anzusehen. Auch Salaîne war auf das Flüstern aufmerksam geworden (so wie alle Wesen im Wald, vermutlich) und schickte ihre Eule Allomer zum selben Baum, um sich einen Überblick zu verschaffen. Tatsächlich war ein Kettenglied in der Nähe der Handfessel komplett aufgesprengt, Wiatt fürs Erste verschwunden. Es half also alles nichts, wir mussten ihm folgen und daran hindern, sich und andere in Gefahr zu bringen. Grauer würde auf die Pferde aufpassen müssen und Allomer würde Salaîne verständigen, falls hier etwas schief liefe. Die Hexe und ich würden Wiatt hinterherlaufen und seinen Spuren folgen müssen.
Zwei Stunden folgten wir seinen Stiefelabdrücken durchs Unterholz. Immer wieder spielte mir das helle Mondlicht - offenbar folgte er mehr oder weniger dem Verlauf der Mondbahn, oder er floh vor irgendwas oder verfolgte etwas schnurstracks - einen Streich, oft kreuzten sich seine Abdrücke mit denen von Tieren und Monstern, von denen einige selbst mir unbekannt waren. An dieser Stelle war eine Kuhle in den Boden gegraben worden von einem Wesen, das sich in Schmerzen wand. Da die Menschenspuren hier aufhörten und große Wolfstatzenabdrücke begannen, war dies offensichtlich der Punkt, an dem sich Wiatt in einen Wolf verwandelt hatte. Er hatte erstaunlich lang der Verwandlung standgehalten, wenn man bedenkt, wie schnell das bei nur einem leichten Lichtschimmer in der Zelle seiner alten Lehrmeisterin geschehen war. Kurz schien es, als würde sich eine zweite Tatzenspur zu seiner gesellen, aber als ich genauer hinsehen wollte, waren sie nicht mehr da - also nur ein weiterer Hinweis darauf, dass der volle Mond es mir nicht leichtmachen würde, sein "gesegnetes Wesen" zu finden. Wir müssen auch einen Zahn zulegen, da Wiatt in einen Tarb übergegangen war, aber glücklicherweise erhellte Salaîne mit ihrer Laterne die Nacht genug, dass wir die Spuren nicht verloren. Sie war auch eine große Hilfe dabei, mich über Grate oder Felsen auf dem Weg zu hieven, sonst wären wir wohl noch bis zum Morgengrauen unterwegs gewesen.
Nach einigen weiteren Stunden der Verfolgung gelangten wir aus dem Vorgebirge raus, dafür in einen lichteren Teil des Waldes. Die Insekten, die Bäume, die Luft an sich scheint uns hier feindlich gesonnen sein und es fühte sich an, als würden wir seit ein paar Minuten schon beobachtet werden. Ein tiefes Knurren, brechende Zweige und ab und an ein Schemen am Rand des Laternenscheins ließen uns wissen, dass wir langsam von Wiatt in seiner Wolfsform umkreist wurden. Seine Kreise wurden auch immer enger, immer öfter traute er sich in das helle Licht. Salaîne versuchte, sich mit ihm zu unterhalten, dem Menschen im Monster zu erreichen, leider mit wenig Erfolg. Nur einmal zuckte er kurz und legte die Ohren an, als sie ihm mehr oder weniger befahl, "Sitz" zu machen, aber ihre Stimme schien ihn eher dazu zu motivieren, näher zu kommen und seine Zähne zu blecken. Als er entgültig zum Sprung ansetzte, ließ ich etwas von meinen Venxaroncas-gesegneten Reflexen an Salaîne überlaufen, während ich Schild und Donnerschwert hob, um den Wolf spüren zu lassen, was es bedeuten würde, sich nicht wieder zurückzuziehen. Es half nur nichts und bald schon klang Knacksen und Knistern, Reißen und Quietschen durch den Wald, als meine Klinge auf Wiatts Dickschädel und seine Zähne auf Fleisch und Stahl trafen. In einem Geistesblitz verdunkelte die Hexe das Gebiet, um das Mondlicht auszublenden, und hieß mich ihn zu heilen, da das in der Vergangenheit und nach William (in Ermangelung einer Silberwaffe) helfen würde. Tatsächlich lag schnell ein zurückverwandelter Wiatt vor uns, und auch der Mond ging schon unter, also bräuchten wir uns keine Sorgen machen, dass wir das Ganze in dieser Nacht wiederholen müssten.
Nachdem er sich von der Metamorphose erholt hatte, war es nun an Wiatt, unsere Fragen zu beantworten, und hier kam der Kracher: Er wäre von Súlfr höchstselbst befreit worden! Sie wäre ihm wie damals Andar erschienen, um seine Ketten zu sprengen, und hätte sich auf dem Weg munter mit ihm über seine Natur und seine Loyalitäten unterhalten. Irgendwas von wegen, dass seine Familie und die Gilde nicht sein "wahres Rudel" wären und die Hexe mehr dazu wüsste. Die zog sich aus dem Gespräch, indem sie sagte, dass sie wirklich viel wüsste, dann aber schwieg, als ich ihn ob seiner Wahnvorstellung und seiner Loyalität befragte. Es kann ja auch nicht sein, dass jemand, der so gar nicht gläubig ist, noch vor einem treuen Diener wie mir ein heiliges (oder dreimal verdammtes wie Súlfr) Wesen antreffen würde. Andererseits bin ich nunmal ein Kobold, also würde sich wohl eh keines zu mir herablassen...
Als Wiatt aber meinte, dass "Súlfr" ihm angeraten hatte, seine Situation zu überdenken, und er sich nun doch nicht mehr so sicher war, dass er seinen Fluch loswerden will, schaltete sich Salaîne entrüstet in unseren Streit ein, da sie mit nicht wenig Erschöpfung meinte, dass all die Arbeit der letzten Monate ja nun nicht umsonst gewesen sein sollte. Das geht ein wenig hin und her, bis die Hexe mit der Wahrheit über Wiatts Familie herauszurücken droht, wenn dieser wirklich die Verantwortung für das übernehmen wollte, was nun herauskam: Seine Eltern waren eigentlich seine Tante und Onkel, seine Schwester demnach seine Cousine! Wiatt trug es mit Fassung, hielt es für einen Streich, der ihm als Kind schon oft von seiner "Schwester" gespielt worden war, aber immerhin war das Gezanke fürs Erste verklungen.
Nachdem ich mich hab überzeugen lassen, dass Menschenrücken sensibler sind als ihre Füße, liefen wir die vielen Stunden zurück zu Grauer und den Pferden. Ersterer war augenscheinlich gut erholt und löcherte uns mit Fragen, die ich kurz angebunden beantwortete. Bald kam Wiatt zu ihm, um sich bei ihm auszukotzen, also konnte ich endlich schlafen, während Grauer unterhalten war. Am Ritt des folgenden Tages näherte sich Wiatt mit Pferd Salaîne und Nocta, um über seine Situation zu sprechen, also konnte ich mir Grauers Zusicherung holen, dass er mich nicht für den Geist eines dahergelaufenen Gottes verlassen würde, auch wenn wir nicht miteinander verwandt sind.
[Wiatt erklärte, dass Súlfr ihm davon erzählt hätte, dass es gar nicht so übel wäre, ein Werwolf zu sein, wenn man nur lernte, mit dem Wolf in sich umzugehen und ihn zu lenken. Salaîne war zunehmend erfreut über seinen Sinneswandel, bedeutete der doch, dass Wiatt seine Natur und die damit einhergehende Macht akzeptierte. Zudem wäre sein Zustand nicht ansteckend, was beruhigend war. Er hätte auch zunächst Súlfrs Angebot abgelehnt, ihn von der Lycanthropie zu befreien, und meinte, dass nun also auch seine Not, das Ritual, das die Vanjaróns durchführen wollten, für seinen Zustand nutzen zu müssen, verschwunden sei - vielleicht könnte man es ja für Salaînes Familie nutzen. Das Thema einmal angesprochen, waren sie sich nun eindeutiger darin inig, dass der Plan der Vanjaróns definitiv zu antagonisieren wäre, auch wenn Salaîne niemals einen Auftrag aufgeben würde, man also bis zu dessen Abschluss warten und den Kobold irgendwie in einer etwaigen Planung nicht vergessen dürfte.]
Die nächsten Tage übernachteten wir aus Rücksicht zum zerbrechlichen Rückgrat der Menschen in den Tavernen auf dem Weg zu Skandergard, wobei wir vergeblich versuchten, nicht wie Fremde zu wirken. Das biss uns spätestens dann, als eine Stimme im Schankraum eines Abends nach einer Gruppe mit einem Kobold fragte und die Inhaberin dieser Stimme schnurstracks zu uns geleitet wurde. Ich versteckte mich unter dem Tisch, aber die Frau gab sich schnell als Späherin Monedas zu erkennen, woraufhin ich wieder hervorkommen und ihre Identität bestätigen konnte, auch wenn sie noch nicht allzu lange zur Truppe gehörte. Sie hatte kurze Haare und einen noch kürzeren Atem von ihrem Ritt, um uns einzuholen, und hatte eine Lieferung von Semanca dabei (die sie als "Möhrrüben" in ihrem Sack bezeichnete), die sie uns übergab, bevor sie wieder zu ihrer Spähergruppe zurückkehrte, die nur wenige Tage hinter uns folgte. Als wir den Sack in unserem Zimmer öffneten, kam ein exzellent gearbeiteter Dolch mit Bronzering im Knauf zum Vorschein, zusammen mit einer Botschaft Ihrer Hoheit Madalena, der seine Fähigkeit erläuterte, einmal am Tag ein Botschaft verschicken zu können. Ich konnte die Handschrift nur kurz bewundern, denn dieses Dokument musste natürlich sofort verbrannt werden, um meinem Eid Folge zu leisten, sie nicht in unser Unterfangen zu verwickeln. Da nun die Späher*innen offensichtlich über unseren Zustand wussten, stand es uns in den nächsten Tagen frei, wen wir damit kontaktieren wollten.
Am ersten Tag schickte Salaîne Perseis eine Botschaft mit der Bitte um eine Audienz eine diplomatische Rückfrage betreffend. [Sie bekam sofort eine telepathische Botschaft mit einer Frage um Dringlichkeit und Aufenthaltsort zurück, von der sie nur erstere beantwortete, dass es bis zum nächsten Neumond warten könnte.]
Am zweiten Tag formulierte Wiatt unnötigerweise laut eine Nachricht an Kaya, in der er sie beruhigte, dass seine Bisse den Fluch nicht übertragen würden (gut, dass er uns das sagte, dann hätten wir nicht Panik schieben müssen..!). Dass sie die Nachricht erhielt, beruhigte andererseit den Blutjäger, da dies ein Hinweis darauf war, dass sie noch lebte.
Am dritten Tag nahm ich mir einige Minuten, in denen ich Isma süße Nichtigkeiten zusäuselte. Sie antwortete am darauf folgenden Morgen mit einer illusorischen Rose auf meinem Beistelltisch, die sodann in Asche zerfiel. Obwohl Salaîne zugeben musste, dass es ein hohes Maß an Meisterschaft voraussetzte, eine Illusion über eine so große Distanz zu erschaffen, rollte sie die Augen darüber, dass Isma schon so früh am Morgen so viel magische Energie auf so ein Zeichen verschwendete, was mich die Bedeutung hinter dem Zauber nur noch höher schätzen ließ.
Einige Tage später umrundeten wir eine weitere zerklüftete Bergkette, und anders als Colvera, das schon von weitem sichtbar und so für alle Monedaer ein Zeichen für die Macht und Sicherheit war, welche die Vanjaróns ausstrahlten, tauchte nun plätzlich das Stadtbild Skandergards vor uns auf. Wie ein junger Landhai schmiegten sich die weißen Gebäude mit ihren schwarzen Dächern halb an das Gebirge, halb schienen sie sich dort hineinzugraben. Die Stadtmauer war anständig, die Umgebung für längere Belagerungen nicht geeignet - anders als in Moneda ging man hier also davon aus, dass eine gegnerische Armee sich bis hierher durchkämpfen könnte. Armselig!
Die Hexe leierte die Sehenswürdigkeiten und kulturellen Besonderheiten der Stadt herunter, wobei ich nicht wirklich zuhörte. Hier war nun also die Höhle des Manticors, die Stadt voller frevelhafter Tölen - mal abgesehen von den ganzen Jagdhunden in ihren Gassen, von denen sich nun Grauer ernähren dürfte. Zum Glück würden wir nicht lange bleiben können, da der Tag der Übergabe auf Ceryls Zettelchen immer näher rückte.