Treppenaugen in Trigger | World Anvil

Treppenaugen

Kein Raum im Civis bleibt ungenutzt. Und selbst die toten Räume unter und zwischen den zahlreichen Treppen des Civis - die für die Treppenkonstruktion notwendigen Freiräume in der Mitte - dienen als Lebensraum und Nische für die Verlorenen, Verlassenen und Übergangenen. Es ist eine Tradition im Civis, Waisenkinder im Auge einer Treppe abzulegen, wo sie von allen angeschlossenen Etagen gesehen werden, ihre Schreie auf allen Etagen gehört werden können, und etliche Passanten an ihnen vorbeikommen. Und auch die Kinder, die dort bleiben, existieren in einem Zwischenzustand aus Präsenz und Unsichtbarkeit.  
  Das Civis ist voll von wunderlichen Geschichten über Findelkinder, die in den Aufzugskörben von Treppenaugen auf großen Wendeltreppen, die die Stadtteile verbinden, von barmherzigen Seelen gefunden und aufgenommen werden. Von reuigen Müttern, die Treppe um Treppe auf- und abrennen, bis sie ihr aufgewachsenes Kind auf den ersten Blick erkennen, schluchzend in die Arme schließen und nach Hause bringen. Von Treppengemeinden, die ein schreiendes Baby im Auge ihrer Stiege vorfinden und zu 'ihrem' Treppenkind erklären, das fortan von allen ansässigen Familien aufgezogen wird und die meisten Geschwister im ganzen Civis hat. Es sind Geschichten, die die zahllosen Waisenkinder, die die Treppenaugen, in denen sie ausgesetzt wurden, frequentieren, nie müde werden, sich gegenseitig zu erzählen. Doch die Wirklichkeit ist erbarmungslos, denn obgleich diese Kinder im Zentrum der meist hochfrequentierten Rampen, Aufzüge und Treppen gut sichtbar leben, betteln und niedere Dienste anbieten, wird doch meist an ihnen vorbeigegangen, über sie hinweggesehen oder werden sie aus dem Weg gestoßen. Findelkinder in Aufzugskörben werden von anderen Waisen entdeckt und aufgenommen. Reuige Mütter gibt es fast nie - und falls doch, würden sie nie ihr ausgesetztes Baby wiedererkennen. Und die meisten Türen der Treppenfamilien bleiben geschlossen, wenn ein Waisenkind um Hilfe bettelt.   Dennoch haben die Treppenaugen etwas Gutes an sich, wenn es um Waisenkinder geht. Denn die Aufzugschächte in ihrem Inneren, die häufig mit Flaschenzügen für Korb-Ketten ausgestattet sind, bieten barmherzigen Spendern eine effektive und anonyme Gelegenheit, Nahrung oder Medizin an die in den Treppen lebenden Kinder zu geben. Treppenamen der Hilfsorganisation 'Humaner Bund' - erkennbar an ihren roten Tripelhelix-Bändern an einem Arm - suchen regelmäßig die großen Wendeltreppen des Civis auf, um dort mit den Kindern zu sprechen, neu abgegebene Waisen abzuholen und Spendengaben zu verteilen. Durch die Treppenaugen können die Ammen schnell einsehen, wo Waisenkinder Hilfe brauchen, mit ihnen Kontakt aufnehmen und Hilfsgüter hinuntersenden. Ander herum wissen auch die Straßenkinder des Civis, dass sie die Treppenaugen aufsuchen können, um Hilfe zu erhalten und womöglich eine Amme zu finden - auch wenn sie nicht in den Treppen heimisch sind.      

Treppenkinder

Die Kinder, die in den toten Räumen unter den Treppenwindungen Unterschlupf finden, bleiben meist nicht nur dort, weil sie Versorgung und Zuwendung, sowie gute Stellen zum Betteln oder Stehlen an den Passanten der Treppen haben. Sie hoffen vielmehr auch, von ihren Eltern wiedergefunden zu werden, falls diese zu dem Treppenauge zurückkehren, wo sie sie einst abgelegt hatten. Dieses Dasein ist zweischneidig: Es gibt ihnen Hoffnung, irgendwann wiedergefunden zu werden und ihre reuigen Eltern doch noch in die Arme schließen zu können, doch zugleich bleibt es ein permanentes Andenken an das Trauma ihrer Aussetzung - sie sehen ständig den Ort, an dem ihre Eltern womöglich final entschieden haben, sie als Kind nicht zu wollen. Auch die Waisenkinder, die womöglich durch Krankheit, Unfalltod oder andere Unglücke elternlos wurden, haben selten diese Gewissheit und kämpfen daher mit dem schrecklich nagendem Gefühl, nicht gewollt zu sein - wofür das Treppenauge, in dem sie leben bleiben, eine unbarmherzige Mahnung ist.
Doch zugleich bleiben Kinder an ihre Treppenaugen gebunden, weil die schiere Angst, ihre Eltern zu verpassen, falls sie die Stiege verlassen, sie lähmt und festhält. So lange die Hoffnung in ihnen besteht, dort draußen Eltern zu haben, die nach ihnen suchen könnten, bleiben die Treppenkinder an diesem Ort, wie durch Fesseln an ihrem Trauma festgebunden.   'Aus der Stiege kommen' ist daher ein Sprichwort im Civis, die Vergangenheit abzulegen und ein neues Leben zu beginnen. Obgleich jedes Waisenkind eine andere Zeitspanne braucht, um sowohl Trauma des Verlassens, als auch Hoffnung auf Wiederentdeckung aufzugeben und auf die eigene, auf sich selbst gestellte Zukunft zu schauen, entwachsen doch die meisten ehemaligen Treppenkinder ihrem Stiegendasein und verlassen die Treppenaugen, um draußen im Civis ihr eigenes Glück zu suchen. Sie kommen aus der Stiege und werden reguläre Straßenkinder, schließen sich den SurgeRats oder anderen Straßenbanden an, suchen Arbeit (z.B. wenn sie noch nicht zu alt geworden sind, als Schachtbälger) oder kommen mit einer Treppenamme mit, um in ein klassisches Waisenhaus zu gehen. Die wenigen, die ihr Leben lang in den Treppenaugen bleiben, finden womöglich Bestimmung darin, neu abgegebene Treppenkinder aufzunehmen und ihnen eine neue Familie zu sein. Ansonsten bleiben sie vom Trauma ihrer Aussetzung zerschmetterte Existenzen, die durch Drogen oder Gewalt eher früher als später umkommen - ohne je ein Leben außerhalb der Treppen kennengelernt zu haben.


Cover image: by MidJourney AI

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