Abschied Gérins Prose in Bacreia | World Anvil
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Abschied Gérins

Ich hätte nie gedacht, dass der Tag dämmern würde, an dem die Tinte in meiner Feder versiegt. Nun scheint es, als wäre es der Mangel an Seiten, der mich zum Schweigen bringt.
Tausende Gedichte habe ich geschrieben, zehntausende Strophen, abertausende Zeilen. Und all diese Worte nur für dich, meine geliebte Dämonin aus den Wellen. Doch ich weiß, wie zuwider dir gerade Zahlen sind, also hier noch ein letztes Sonett:

Die heiße Flamm‘ verglüht wie sie entsteht
Zu schnell sind Holzscheite von ihr verzehrt
Und sie kann nicht sein, was ewiglich währt.
Was bleibt, ist Asche, die der Wind verweht.

  Doch auch der Staub kann wieder Licht gebär’n
Von Drachenglut entzündet es sich neu
Und zieht mich her; obgleich ich es bereu
Muss ich stets an dies Feuer zurückkehr’n.

  Dort klingt der Laute zärtlich Melodie
Aus deren Lied mein‘ ewig Liebe spricht
Bevor ich morgens schließlich weiterzieh

  Um meinen Tod, mein Dämon, weine nicht
Denn wahrhaft trennen können sie uns nie
Ich lebe fort in deiner Blitze Licht.

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, heute am Abend meines Seins, so kann ich mit Freuden feststellen, dass ich es für gut erachte. So sehr es mich auch grämt, meine Kräfte für Gewalt und Zerstörung gegeben zu haben, halte ich die meisten meiner Taten für rechtens. Selbstverständlich bin ich mit Reue wohl bekannt, denn ich bin sterblich und somit fehlbar. Doch glaube ich auch von ganzem Herzen, dass ich mit meinen Gaben mehr Glück als Leid bringen durfte.
Kenne ich doch Regen und Trauer, so sind die meisten meiner Erinnerungen voll Freude und Sonnenstrahlen. Ich habe gelacht. Ich habe gelebt. Und ich habe geliebt.
Vielleicht niemanden so sehr wie dich, mein Prikur. Oh Prikur, mein Prikur, wie ich dich vermissen werde. Deine Küsten und Meere, deine Gipfel und Täler, deine Wälder, Wiesen und Wege. Kann man Schönheit kennen, ohne dich je erblickt zu haben?
Wie gerne ich dir die Freiheit geschenkt hätte, doch scheint es als hätte Schicksal andere Pläne. Vielleicht in einem Jahrtausend oder zwei, wird die Welt eine bessere sein und mein Traum in Erfüllung gehen.
Es ist nun an der Zeit, Abschied zu nehmen. An meine Freunde: Lebt wohl. Lebt viel. Lebt ohne Furcht.
Silvain, Hüter meines Geistes, mögen deine Blüten gedeihen und deine Bücher nicht verrotten. Sorge dich um meine Schriften.
Ansure, Hüter meiner Stärke, lächle ohne Zurückhaltung, liebe ohne Furcht und lebe ohne Reue. Schütze die, die keine Schilde tragen können.
Vierras, Hüter meiner Seele, vergiss mich nicht wenn du über Wolken segelst. Gute Winde, guten Flug, gute Rast.
Dashil, Hüterin meines Herzens, für dich habe ich nur einen Wunsch: Lebe, meine Liebe, lebe. Und wenn du mich vermisst, komm hinaus aufs Meer für einen letzten Tanz.
Wer du auch bist, der diese Zeilen liest, trauere nicht um mich. Ich bin alt und gehe gern. Singt stattdessen, und tanzt. Singt für mich und meinen Traum:

Steht auf, steht auf,
Legt ab eure Furcht.
Der Sturm nimmt seinen Lauf.
Ein Narr ist, wer sich Fluten widersetzt.
Ein Narr, wer uns im Wege steht.

In Liebe,
Ginette Gérin

Diesen letzten Brief verfasste Ginette Gérin am Abend vor ihrer Ermordung. Sie verabschiedet sich von den anderen Mitgliedern der Ascheallianz (Silvain Ardouin, Ansure, le Bleu, Vierras und Dashil Rissia) und sinniert über Prikur. Am Ende des Briefes steht die zuvor unveröffentlichte letzte Strophe des Sturmlieds, das später von Rissia veröffentlicht und zu einem Symbol prikurischer Unabhängigkeit wird.