Fri, Jan 26th 2024 07:03
Edited on Wed, Jan 31st 2024 11:17
Leise öffnet Ailis die Fensterläden im dritten Stock. Von ihrem Zimmer aus hat sie morgens direkten Blick auf den Sonnenaufgang. So auch an diesem Morgen nach einer Nacht voller Gedanken und Träume. Wie die dünnen Wolkenvorhänge am Himmel, wollen sie sich weder manifestieren, noch ganz fortziehen. Doch anders als in ihrem Kopf fangen sie am Himmel den Funken der aufgehenden Sonne ein und setzen ihn in Brand. Mit der Schale warmen, mit einem winzigen Tropfen Honig gesüßten Haferbreis lässt sie sich auf dem inneren Fenstersims nieder und schaut diesem Schauspiel zu, um einen Moment lang zu vergessen, welche Aufgaben der Tag für sie bereithält.
“Ist die Werkstatt gefegt, Toren?” fragt sie den Lehrjungen, nachdem sie ihr Frühstück in Ruhe beendet hat und ins Erdgeschoss zurückgekehrt ist. Der Bursche nickt eifrig. “Großmutter sagt, ich könnte dich heute bei der Auslieferung begleiten.” plappert er hoffnungsvoll drauf los. Mit bemüht strengem Blick sieht die Töpferin den Jungen an. “Erstens, sie ist meine Großmutter, also nennst du sie Meisterin Casteres oder auch Meisterin Tessaya. Und Zweitens werden wir sehen, ob dafür Gelegenheit ist. Hilf der Meisterin beim Abwasch und dann hol Wasser und bereite den Ton vor. Ich werde derweil den Ofen neu befüllen.”
Schon vor dem Frühstück - als die Nacht noch nicht bereit gewesen war, den Tag frei zu geben - hat sie den Ofen geöffnet und die fertige Salzkeramik herausgeholt. Es waren die üblichen Vorratsbehältnisse, deren Herstellung sie beinahe im Schlaf beherrschte. Erst der Deckel, dann der bauchige Topf, nach dem Trocknen die Bemalung und den eigentlichen Zauber erledigte das Salz, welches im richtigen Moment in den Ofen zugeführt wurde.
Ailis liebte und hasste es gleichermaßen. Aber die Salzkeramik sicherte ihr regelmäßiges Einkommen, es war Loyalität von beiden Seiten. Vom Haus Coveani, für das Haus Coveani.
Sie hatte lange mit ihrer Großmutter zusammengesessen, um eine Entscheidung zu fällen. In ihrem Herzen hatte sich dieser Funke eingenistet, der nur allzu bereit war ein Risiko einzugehen, nur um ein wenig von dem zurück zu bekommen, wie es vor dem zweiten Häuserkrieg war. Sie wollte das Gefühl zurück, das sie im Skriptorium empfunden hatte.
Sie betrachtete den ungebrannten Krug in ihrer Hand und seufzte. Ihre Großmutter hatte zugestimmt, sie bei allem zu unterstützen, aber sie hatte auch Einwände gehabt. Und neben Hoffnung verspürte Ailis auch Angst. Wenn die Gräfin diesen Auftrag für Gregorian Vellez als Verrat ansähe, dann hätten sie alles verspielt. Schon, um diese eine Vase zu fertigen, war sie ein hohes Risiko eingegangen. Als Verräter zu gelten, würde jedes Familienmitglied beschämen, das in diesem unsäglichen Krieg gestorben war.
Sobald der Ofen befüllt ist und Toren sich unter Anleitung ihrer Großmutter ans Zumauern macht, geht Ailis ins Skriptorium, um Herrn Velez ihre Entscheidung mitzuteilen und ihm seine Scherbe zurückzugeben. Und danach macht sie sich auf, um sich um die Sache mit Fiete und Halvar zu kümmern.