Wie in Trance lässt Lu mit sich verfahren, wie in Trance hört sie die gesprochenen Worte des doch sehr merkwürdigen Mannes. Wie in Trance nimmt sie den Beutel entgegen, sieht in aus großen, dunklen Augen an, mit einem Blick, der ebenfalls einfach nur offen und ehrlich ist, erstaunt und doch irgendwie ausdruckslos. Erst als er sich auf sein Lager niederlegt, um endlich zur Ruhe zu kommen, scheint Lu aus diesem Zustand der vermeintlichen Entrücktheit zu erwachen. Sie öffnet den Beutel gerade so weit, dass sie den Inhalt erkennen kann. Sie wird rot im Gesicht. Der Beutel enthält eine Tagesration an Dörrfleisch für die gesamte Familie, wenn man sie mit etwas Grütze und Wasser vermengt, und Brot, das man freilich dazu geben kann, aber nicht einmal muss. Dann ist da noch dieses Messer, von einer Qualität, die jenes, das Lu als ihren größten Schatz in einem Versteck ihres Heimes aufbewahrt, jemals erreicht haben wird. Sie sieht den Mann an, der nun, ihr den Rücken zugewandt, vor ihr liegt. Schon nur dieser Umstand ist doch, da er ja recht wohlhabend erscheint, ein riesiges Zeichen des Vertrauens. Wer sonst würde einem dahergelaufen Außenbezirkler ein Messer in die Hand drücken, um ihm dann den Rücken zuzuwenden? Recht fassungslos steht Lu also vor ihm, einige Augenblicke lang. Oft hat sie sich verletzt, selten hat sich jemand um die Verletzung gekümmert. Und nie hat ihr jemand, einfach so, ein solches Geschenk gemacht. Sie sinkt vor ihm - oder, um genau zu sein, hinter ihm - auf die Knie, legt sacht ihre Hand auf seinen Oberarm.
"Ich weiß nicht wie ich Euch danken soll," sagt sie dann leise. "Ich hoffe, es kommt der Tag, an dem ich Euch es verdenken kann."
Sie zieht die Hand zurück. Steht wieder auf. Sie wartet auf keine Reaktion, hat der Mann ihr doch eindeutig klar gemacht, dass er jetzt zu ruhen gedenkt. Sie braucht nicht lange nachzudenken. Es gibt in Pelorn eine Unzahl von Menschen, die der großen Masse absolut unbekannt sind. Lu gehört selbst zu diesen Leuten. Es gibt Leute, die wohl einige Berühmtheit erlangt haben, der Mehrzahl der Pelorner trotzdem fremd sind. Kuv mag man zu dieser Gruppe zählen. Und dann gibt es solche, die jedem Pelorner irgendwie geläufig sind. Die Oberhäupter der großen Häuser freilich. Aber auch so mancher der Unterwelt. Meist ist es so, dass jeder weiß, um wen es sich handelt, dass jeder weiß, wo diese Leute wohnen, keiner jedoch einen dieser Leute auf der Straße erkennen würde. Und so weiß Lu wohl, dass Margral ein äußerst gewichtiger Mann ist, dass er in der Nähe der Melenischen Brücke zu Hause ist. Dass Margral einer jener Leute ist, die mit einem Fingerschnippen das Schicksal eines Menschen grundlegend verändern können. Sie weiß aber auch, dass jegliche Kontaktaufnahme mit ihm absolute Lebensgefahr bedeutet, wenn man keinen ordentlichen Fürsprecher hat. Und so ist gerade ihr größter Traum wahr geworden. Sie wird von jemandem geschickt, der wohl etwas zu sagen hat, und ist womöglich am selben Abend schon ihre gesamten Sorgen los. Sie fragt nicht, welcher Art diese Arbeit sein könnte. Es ist ihr, gelinde gesagt, ziemlich egal. Essen und Kleidung, jeden Tag, genügend für alle der kleinen Familie, jeder jener armen Schlucker in dieser darniederliegenden Stadt würde alles dafür tun.
"Sieben Arkh der Schwarzen Schlange," murmelt sie zum Abschied, ganz bewusst diesen in dem gesamten Imeria-Gebiet geläufigen Unterwelt-Gruß verwendend. Dann steckt sie den Beutel zu den bereits gesammelten Lebensmitteln und schleicht von dannen.
Dass sie ihre Schritte nun zur Melenischen Brücke wendet, ist zwar schon von vorneherein klar gewesen, nun aber jedoch mehr als je zuvor verständlich. Sie läuft mehr die leicht abschüssige Straße hinunter, als sie sie denn entlanggeht. Zu sehr ist sie nun aufgeregt, ja enthusiastisch. Vergessen scheint die herbe Enttäuschung des Vortages, als sie sich ebenfalls am Ziel wähnte, dann aber schwer enttäuscht wurde. Je näher sie dieser Brücke kommt, desto besser scheinen die Gebäude zu beiden Seiten der Straße erhalten zu sein, bis sie schließlich, unmittelbar vor der Brücke, an ihr Ziel kommt. Ein dreistöckiges Haus, stattlich anzusehen, doch ohne überflüssigen Zierat steht hier, so wie es eben der Stil auf dieser Seite des Olifern ist. Vor langer Zeit war dies Coveani-Gebiet, und Coveani war immer schon ein Handelshaus gewesen, das auf Zweckmäßigkeit gebaut hat. Die Prachtbauten stehen mehr auf der Westseite des Olifern. Ein massives Tor aus Holz verschließt das Gebäude zur Straße hin. Ebenso massive, eiserne Beschläge sind zwar etwas angerostet, aber immer noch intakt. Zwei, drei Mal lässt sie einen schweren Klopfer auf das Tor niederfahren, in Erwartung, dass ihr geöffnet würde. Was danach geschehen würde, das lag ohnehin in den Händen der Zwillinge.