BUILD YOUR OWN WORLD Like what you see? Become the Master of your own Universe!
Tue, Mar 14th 2023 03:52   Edited on Wed, Dec 13th 2023 01:19

Dienstantritt

Es ist der Tag der Tage. Es ist der Tag, an dem das Schicksal der kleinen Familie eine andere Richtung einschlagen sollte. Nie wieder Hunger leiden, nie wieder Angst haben, dass einer ihnen das Wenige, das sie haben, auch noch wegnimmt. Es ist wenig verwunderlich, dass sämtliche Mitglieder der Familie schon früh wach sind.   “Wascht euch heute so gründlich, wie ihr euch noch nie gewaschen habt,” sagt Lua. “Heute müsst ihr einen guten Eindruck erwecken. Ich weiß ganz genau, dass ihr gute Kinder seid, aber gerade heute müsst ihr noch besser sein.”   Es gibt kein Murren, es gibt keine Widerrede. Jeder Einzelne weiß, was auf dem Spiel steht. Zwei Mahlzeiten am Tag! Das allein ist jedes Opfer recht. Und so macht sich die gesamte Familie auf zum Olifern, steigt in die Fluten. Jeder wäscht sich selbst, dann waschen sich alle noch einmal gegenseitig. Niemand soll den Eindruck haben, als wären sie ungepflegt, als wären sie zufrieden mit ihrem tristen Dasein. Es ist der Tag der Tage, an dem jeder erkennen muss, dass es ihnen ernst ist mit ihren neuen Beschäftigungen, mit ihrem neuen Leben. Und doch ist Lua nicht bar jeder Sorge. Es ist das Brandmal, das ihr zu denken gibt. Gern beißt sie die Zähne zusammen, um das glühende Eisen auf ihrem Körper zu empfangen. Und doch graut es ihr davor, dass es ihren Geschwistern gleich ergehen könnte. Sie hofft, dass das Jammern und Klagen, das Weinen und Schreien der Kleinen die Oberen an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht zu einem Umdenken führen könnte. Aber es ist das Beste. Es ist das Beste für sie alle. Sicherheit, zwei Mahlzeiten am Tag, und noch einige Filis für Kleidung und etwaigen Luxus, den Lua sich im Moment noch gar nicht vorstellen kann.   Die Sonne geht auf über dem Olifern. Die kleine Familie sitzt am Ufer. Lua schaut auf ihre Geschwister. “Seit brav, seid ruhig, schaut niemandem direkt in die Augen,” ermahnt sie sie noch einmal. “Verneigt euch vor den Leuten da. Jammert nicht und stellt keine Fragen. Heute kommt es wirklich darauf an. Morgen können wir reich sein, immer genug zu essen haben, ein Bett, ein gutes Zimmer. Oder wir können wieder hier sein. Es kommt ganz auf euch an. Also, bitte, gerade heute, reißt euch zusammen. Auch wenn euch jemand anfasst, auch wenn euch jemand dort anfasst, wo ich euch immer sagte, es darf nicht sein. Heute ist alles anders. Heute ist der erste Tag unseres neuen Lebens.”   Nun beginnt sie selbst nachzudenken über das, was sie gerade gesagt hat. Sie öffnet einen zusätzlichen Knopf an ihrem Hemd. Nein, sie selbst will diejenige sein, die von irgendeiner Wache missbraucht wird, nicht jemand der Kleinen. Wobei… es ist das letzte Mal gut gegangen. Es wird auch heute gut gehen.   Es ist Markttag. Nicht, dass der Markttag für einen Mittellosen irgendein Festtag sein könnte. Aber trotzdem: Am Markttag kann man sich in der gesamten Stadt ziemlich unbehelligt bewegen. Irgendwann hat das Haus Thornhoff den Anfang gemacht, sämtliche Mitglieder aller Häuser in ihrem Gebiet zu dulden. Und die anderen Häuser haben ziemlich ungefragt nachgezogen. Und so ist der Markttag der friedlichste Tag der Woche. Bis in die untersten Schichten ist es durchgesickert, dass man am Markttag die Stände in Ruhe lässt, dass die Besucher der Märkte unbehelligt dazwischen flanieren können. Der Markttag ist ein Tag, in dem der offene Kampf um das Überleben eine Pause macht. Der Markttag ist ein Tag, an dem man auch einmal ein Almosen kriegt, an dem die Reichen auf die Armen achten, und die Armen die Reichen reich sein lassen. Und so muss Lua sich keine Gedanken machen, welchen weg sie nun zu dem Gebäude einschlägt, jenseits der Melenischen Brücke, das im gemeinen Wortlaut einfach “Mehras’ Tempel” heißt, obwohl es mit einem Tempel genausoviel zu tun hat wie ein Ochse mit einer Blumenvase. Von dem jeder meint, dass es besonders Blut und Tod bedeutet, und oft damit nicht einmal Unrecht hat. Und das nun die neue Bleibe der kleinen Familie werden würde.   Es dauert nicht lang, da kommen sie auf den Platz, an dem der Markt stattfindet. Die meisten Stände sind schon aufgebaut, es gibt Gaukler, die bereits ihre Kunststücke aufführen, die ersten Marktschreier sind bereits in ihrem Element. Lua kann sich nichts kaufen, sie kann den Gauklern nicht geben, und das ist ihr anzusehen. Und so werden sie weitestgehend ignoriert. Wohl wird von ihnen Notiz genommen, denn so hässlich ist die Familie nicht anzusehen, irgendwie alle einander ähnlich und doch reichlich verschieden, aber es ist eben so, wie es ist: Jeder will am Markt Geld verdienen, und mit Leuten, die kein Geld haben, kann man nur wenig verdienen. Sie gehen über die Brücke. Keiner würde auch nur im Traum daran denken, jemanden an der Brücke aufzuhalten. Es ist Markttag, und gerade an den sonst so gefährlichen Brücken wird peinlichst darauf geachtet, niemanden in seiner Freiheit einzuschränken. Und schon stehen sie vor dem Gebäude, das eben “Mehras’ Tempel” genannt wird.   Lua, die Älteste, ist zwar noch in ihrer Jugend, aber doch zu einer vollendeten Frau herangewachsen. Mehr als alle anderen kann man sie als Schönheit bezeichnen, mit ihrem athletischen und doch weiblichen Körperbau, ihrem ebenmäßigen Gesicht, den wachen Augen. Lonya, die zweitälteste, ist eben dabei, vom Kind zur Frau zu werden. Doch sind die Augen zu nahe beieinander, die Schneidezähne etwas zu weit nach vorne stehend, als dass die Attraktivität ihrer großen Schwester bei ihr zu erahnen ist. Auch ist die sich ausbreitende Akne in ihrem Gesicht nicht gerade zuträglich für irgendwelche Phantasien, die sich in wolllüstigen Männern entwickeln mögen. Die dritte im Bunde ist Laraya, sie ist noch weit davon entfernt, als Frau bezeichnet zu werden. Sie hat das vollste Haar der drei, das ihr in geradezu wirren Locken über die Schultern fällt, große neugierige Augen und den Ansatz eines Schmollmundes. Ansonsten ist sie geradezu hager, fast ausgehungert, und doch muss man sie als überaus hübsches Kind bezeichnen. Dann sind da noch die drei Buben, höchstens halbwüchsig. Rondur hat für sein Alter breite Schultern, ist überhaupt relativ kräftig. Auch er hat diese energischen, dunklen Augen, die allen so eigen sind, kurzes, recht unbedarft geschnittenes, fast schwarzes Haar. Harkas ist um einiges kleiner und auch jünger, ihm sonst jedoch überaus ähnlich, nur hat er eine recht unansehnliche Narbe auf der rechten Wange, die ihm etwas Verwegenes verleiht, wenn dies auch ob seines jungen Alters geradezu abwegig erscheint. Der Kleinste der Familie, Arcus, sticht geradezu heraus. Auch er hat zwar das schwarze, schlecht geschnittene, kurze Haar, doch sind seine Augen stahlblau. Er hinkt etwas über den rechten Fuß, ist fast ein Krüppel, was jedoch in Anbetracht der dauerhaften Unterernährung der untersten Bevölkerungsschicht recht häufig ist. Doch seine Augen erwecken Aufmerksamkeit, nicht nur wegen des Kontrastes zu dem dunklen Haar, vielmehr als dass sie geradezu die gesamte Umgebung aufzusaugen erscheinen, als dass jedes Detail seiner Umgebung von geradezu überragendem Interesse zu sein scheint. Und so ist er es, der immer wieder zurück bleibt, nicht nur wegen seines Handicaps, und der immer wieder von Lua zur Eile angemahnt wird.   “Jetzt gilt es,” ermahnt Lua noch einmal ihren Anhang. Dann nimmt sie zum zweiten Mal den Klopfer in die Hand und lässt ihn auf die Tür knallen. Ihr einziger Gedanke im Moment ist der, dass die Wache wohl wieder sie aussuchen wird, seinen Stock zwischen die Beine zu halten, über das Gesicht zu lecken, und was immer ihm gerade einfallen wird. Sie streift den Kragen ihrer Bluse etwas zur Seite, um eben so begehrenswert wie möglich zu erscheinen. Nicht, um ihn zu beeindrucken, nur deshalb, um seine Aufmerksamkeit von ihren Geschwistern abzulenken.
Wed, Mar 22nd 2023 05:37   Edited on Wed, Mar 22nd 2023 05:55

Das Haupttor öffnet sich. Die Mehras ist wach, im Innenhof vor ihnen, herrscht geschäftiges Treiben. Hammerschläge und das Bellen von Hunden hallen durch kalte Gänge. Heute ist der Weg vor ihnen hell erleuchtet, aber der Ausblick spendet ihnen keinen Trost. Sie gehen auf Stein, Stroh und alter Erde, frische Tierscheiße klebt an ihren Füßen wie aufgequollenes Harz, nichts, was jemanden aus Pelorn fremd wäre und doch wirkt es wie ein langsamer Treppenabstieg in eine Gruft. Keiner der Wachen hält sie auf, sie werden kurz gemustert und schnell durchgewunken. Die Stimme der Frau, welche sie Nefri nennen, durchdringt den großen Torbogen, der zur Arena führt. Sie gibt Befehle, Diener und Handwerker gehorchen. Hinter ihnen schließt sich das Haupttor. Holz schlägt auf Eisen, Eisen auf Stein, es ist ein ohrenbetäubendes Geräusch. Das Geräusch erregt Nefris Aufmerksamkeit, ihr Blick fällt auf die Neuankömmlinge, die durch den Gang auf sie zukommen wie im Entenmarsch, sie faltet ihre Hände und lächelt frohgestimmt und erwartungsvoll. Als Lua nur noch wenige Schritte von der wohlgenährten Frau entfernt ist, klatscht sie, ein Mal. Wachen brüllen Kommandos, zwei von ihnen stellen sich neben sie. Sie sind eingesperrt...   Die Geräusche der Mehras verstummen. Nur noch das Rascheln und das Knistern von Gewändern ist zu hören. Über ihr füllen sich die Stockwerke als Menschen aus ihren Zimmern treten, ausdruckslose Gesichter schauen auf Lua herab, Frauen und Männer besetzen die Geländer, bis keine Lücken mehr zu erkennen sind. Sie sehen dies nicht zum ersten Mal und dennoch sind Ihre Blicke fortwährend auf sie gerichtet. Die Arena wirkt wie ein riesiges Feld, wie sie es von den Außenbezirken kennt, nicht bedeckt mit Erde, hier bedeckt mit Sand. Zu ihrer Linken der offene Himmel über dem großen Innenhof, aber dieses Mal, berührt sie kein Licht...   Es ist still geworden. Der erbarmungslose Schlag, der sie in den Bauch trifft, kommt schnell und unvermittelt. Er raubt ihr die Luft, noch bevor sich der krampfhafte Schmerz in ihrem Unterleib ausbreiten kann. Die Imeria Wache, die näher getreten war und sie geschlagen hatte, wirft sie in den Sand. Noch ist er kalt und grobkörnig, er sticht wie tausend kleine Nägel auf ihrer Haut. Noch im Fallen kann sie Nefri für einen Moment sehen, die sich den Kindern zuwendet, bis der Sand ihre Sicht verdunkelt. Ihr Kleid aschfarben und ihr Rücken frei. Auf ihm prangt die Mutterspinne, schwarz, liegt sie über Speckfalten tätowiert. Die Beine riesig und gespreizt, von einer Schulter bis zur anderen. Spinnenkönigin…   Die Wachen trennen die Kinder von Lua. Der Schmerz hat ihren Bauch in ein hartes, unbewegliches Brett verwandelt, als ob sie das Atmen erst wieder erlernen müsse, zwingt der Reflex, der sie vor der Ohnmacht bewahrt, Luft in ihre Lungenflügel zu pressen. Nachdem sich ihre Bauchdecke langsam wieder entspannt, kommt die Übelkeit. Schritte im Sand… Es ist Nefri, welche Luas Gesicht vom Sand befreit, vorsichtig, fast zärtlich. „Mhhh, wie viele Mädchen haben sich in Kuvs Spinnennetz verfangen…“, Nefri deutet auf die vielen Gesichter, selbst der Rand der Arena und der Säulengang, der sie umfasst sind nun voll mit Gesinde. Sie beugt sich tief herab, um mit ihr zu sprechen.   „Er hat seinen Köder perfektioniert und damit seiner Königin gut gedient. Es ist Hoffnung, welche Mädchen wie dich in die Mehras spült wie Treibholz. Sei dir versichert, dass es keine Hoffnung gibt, für keinen von euch…“ Ihr galliges Lachen, hallt über den Hof, dann senkt sich ihre Stimme zu einem wohlwollenden Timbre. „Du bist etwas ganz Besonderes, wolltest du das nicht immer sein, etwas ganz Besonderes? Und etwas ganz Besonderes habe ich mit dir vor. Dein unverfälschtes Ebenmaß soll Schild und Helme spalten, viel mehr als Lanze und Schwert es jemals vermochten, ganz Pelorn soll um deinen Liebreiz weinen. Du bist mein Arkh und deinen Dienst wirst du leisten! Und jetzt krieche…“   Sich mit der Hand auf iein Bein stützend, erhebt sich die Spinnenkönigin mit einem Seufzer. Hinter ihren Wachen befinden sich Luas Geschwister, es ist Harkas auf dessen Hals eine Klinge liegt.   „Krieche…“ Nefri deutet mit ihrem Finger in die Mitte der Arena.
Wed, Mar 22nd 2023 04:45   Edited on Wed, Mar 22nd 2023 04:57

Mit einem aufmunternden Lächeln auf den Lippen nickt Lua ihren Geschwistern zu, drückt kurz das rechte Auge zu. Dann geht sie durch das Tor, das Tor, das sie endlich, endlich in ein besseres Leben führen sollte. Schon malt Lua sich aus, wie sie an diesem Abend, nach einem genügenden Mahl, zusammen in einem sauberen Zimmer sein würden. Wie sie ohne Angst und ohne Sorgen einschlafen würden. Dass sie endlich den bescheidenen Luxus haben würden, den sie ihren Geschwistern nie bieten konnte. Sie spürt den Dreck auf dem Boden nicht, genauso wie ihn die Geschwister nicht zu spüren scheinen. Schweigend gehen sie hinter Lua her, den Blick genau auf die Fersen des Vordermanns gerichtet. Nur nicht aufsehen, nur nicht das riskieren, das Lu versprochen hatte! Zu gut hatte es geklungen, und zu sehr vergönnen sie es ihrer großen Schwester, endlich auch einmal ein richtiges Erfolgserlebnis zu haben. Denn sie wussten sehr wohl, wie sie unter ihrer Armut litt, wenn sie es auch stets tunlichst versteckte, ihren Geschwistern dieselbe möglichst erträglich machte.   Lua ist die einzige, die den Platz überblickt. Ihre Geschwister gruppieren sich um sie herum, den Blick brav vor sich auf den Boden gerichtet. Ja, es sind gute, brave, folgsame Kinder. Wohl zucken sie zusammen, als das Tor hinter ihnen so geräuschvoll ins Schloss fällt, doch niemand wagt es, diese gebückte Haltung zu verlassen, sich gar umzudrehen. So ist es nur ein Augenpaar, das Nefri entgegenblickt, nur ein Gesicht, das sich in ein freundliches Lächeln verzieht, bevor auch Luas Blick respektvoll zu Boden geht. In ihrer inneren Euphorie bemerkt sie wohl, wie sich Wachen um sie herum gruppieren. Aber sie denkt nichts Schlechtes dabei. Nefri ist freundlich, sie vertraut ihr.   Der Schlag in den Bauch lässt Lua zusammensacken. Ein leichter Schubs des Soldaten reicht, um sie mit dem Gesicht voraus in den Sand zu befördern. Zwei-drei Mal zuckt sie bei dem verzweifelten Versuch, Luft zu kriegen, die Arme um den schmerzenden Bauch gelegt. Es dauert einige Augenblicke, bis es die Lunge schafft, gegen die verkrampfte Bauchdecke anzugehen, und doch schmerzt es bei jedem Atemzug, während sich nun der Magen meldet in seinem Verlangen, seinen Inhalt zu entleeren. Kalte Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn. Dann erblickt sie Nefri vor ihr, mit ihrer zynischen Rede. Wohl will Lua antworten, doch nur ein Gurgeln verlässt ihren Mund. Gerade noch kann Lua sich von Nefri wegdrehen, bevor sich nun doch das Abendessen des Vortages auf den Sand ergießt. Kurz blickt sie zu ihren Geschwistern, die, zwar bebend vor Angst, doch regungslos da stehen. Brave Kinder! Dann sieht sie das Messer, das Harkas’ Kehle bedroht, und nur mit Mühe unterdrückt sie den Drang, sich auf die Wache zu stürzen, wohl wissend, damit alles nur noch schlimmer zu machen.   “Krieche!” dringt zu ihrem Ohr. Sie legt ihr Gesicht in den Sand, neben das Erbrochene, zunächst unfähig sich zu rühren. Sie wollte ein besseres Leben haben, nun hat sie ihre Geschwister in das Verderben geführt. Es ist Lua gleich, was ihr passiert, aber ihre Geschwister sollten dies möglichst unbeschadet überstehen. “Krieche!”   Und Lua kriecht. Das Hemd, um einen Knopf weiter geöffnet als normal, rutscht über ihre Schulter. Jede Bewegung verursacht einen stechenden Schmerz in der Bauchgegend. Lua könnte schreien, vor Verzweiflung, vor Wut, vor Angst, vor Schmerz. Sie reißt sich zusammen. Sie kriecht. Der kalte Schweiß tropft von ihrer Nasenspitze, trägt einige Sandkörner aus ihrem Gesicht. Lua kriecht, bis sie die Mitte des Platzes erreicht hat. Dann legt sie das Gesicht wieder in den Sand. Sie weiß nicht, was sie sonst tun könnte. Sie ist den Männern auf dem Platz, sie ist der Spinnenkönigin hilflos ausgeliefert. Sie will keinen Fehler machen, denn jeder Fehler könnte fatal für ihre Geschwister sein.   “Es gibt keine Hoffnung für Euch!” hat Nefri gesagt. Doch Lua kann es nicht glauben. Sie wird alles tun, was Nefri von ihr verlangt. Alles. Wenn es nur zum Wohle ihrer Geschwister gereicht. Sie wird kämpfen um ihre Geschwister. Sie wird einen Kampf gegen sich selbst kämpfen in dem unbedingten Willen, Nefris Wohlwollen zu erreichen. Nie wollte sie etwas Besonderes sein, doch nun wird sie es wohl werden müssen. Das Gesicht verlässt den Sand wieder, nicht weit. Lua wartet darauf, was nun geschehen mag.
Tue, Apr 4th 2023 06:55   Edited on Tue, Apr 4th 2023 07:16

Musik erklingt, als die Lyra spielt. Ein Lied von Herzeleid und Klage, weit weg von hier, für einen Augenblick, bis der Wind das Stück vertreibt. Als sie ihr Gesicht vom Sand erhebt, erkennt sie es, als wäre es niemals anders gewesen. Die Stockwerke sind zu Tribünen geworden, der Sand zu ihrem Podest. Die Gefangenen der Mehras zu ihrem stillen Publikum ihrer beklagenswerten Darbietung. Das Schauspiel ist das Gleiche, doch vermag der Mime das verdorrte Herz der Gewohnheit aufs Neue zu verzücken.   Wie ein Raubtier umkreist die Königin ihre Beute, marschiert den Arkadengang entlang, der den Sand umfasst, ohne den Blick von Lua abzuwenden. Das Gesinde macht ihr Platz, denn nicht einmal Nefri war es jetzt noch erlaubt den Sand zu betreten. Vor den Kindern macht sie halt, jeden einzelnen von ihnen betrachtet sie, auf die große Schwester mit dem Finger deutend.   „Seht Kinder und vergesst diesen Tag niemals, den Tag an dem ihr geboren wurdet. Dies ist wahrlich ein Freudentag. Diener der Schlange sollt ihr werden, Meister des Fleisches, keine Huren oder Knechte, Krieger und Jäger des Hauses der Schlange! Dem stärksten Haus, dem mächtigsten Haus, dem Königshaus!“, brüllt Nefri zu den Rängen hinauf, Flammen lodern in ihren Augen. „Blut und Sand!“, rufen sie alle mit einer Stimme zurück.   Langsam wendet sie sich ab von der Arena, mit ihr bewegt sich die schwarze Spinne auf ihrem wulstigen Rücken, um wieder bei den Kindern zu sein. „Mit glühenden Eisen übergebe ich eure Seelen dem Vater der Schlangen und nähren werde ich euch an meiner eigenen Brust, bin ich denn nicht auch eine Mutter?“ Mit lautem Gelächter breitet sie ihre Arme aus. Mutterspinne, was im alten Dialekt Margral heißt. "Und nun auf die Knie mit euch…“ Die Kinder werden von den Imeria Wachen zu Boden geworfen, ihnen werden die Lumpen von den Körpern geschnitten, bis sie nackt sind.   Langsam nähert sich Margral der Frau, welche inmitten des Sandplatzes liegt, mit gefalteten Händen. Ihre Schritte hallen durch den Säulengang: „Ja, ich bin Margral! Mutter aller Spinnen…“, spottet sie. Auf ihrem Weg machen ihr Männer und Frauen Platz. „Entkleide dich…“, befiehlt sie. An einer Säule vor Lua hält Margral, ohne den Sand mit ihren Füßen zu berühren, um sich anzulehnen, als würde ihr eigener geschwollener Körper Halt benötigen.   „Noch heute werde ich diese Kinder an mich nehmen, aber gräme dich nicht, ich bin es, der ihnen eine Zukunft ermöglicht, von der sie bisher nur träumen konnten, ich werde es sein, die ihnen eine Chance gibt, welche du ihnen niemals hättest geben können. Sieh dich nur an, im Dreck kriechst du vor mir in deinem eigenen Erbrochenem, ich kann deinen Gestank bis hier her riechen, du widerst mich an… und dennoch, bist du schön.“   Margral klammert sich an die Säule und presst ihr feistes Gesicht gegen den grauen Stein. Sie schließt ihre Augen und zittert, als wäre sie von der Kälte der Nacht umgeben. „Selbst jetzt bist du es… und die Krone, welche ich dir auf dein Haupt setzen werde, ist für jene Narren, die das nicht erkennen. Dafür beneide ich dich, dafür hasse ich dich. Mit einem Hammer möchte ich dein Gesicht zu Scherben zerschlagen wie Glas, aber verdammt wäre ich, weil Achum dich für sich selbst verlangt.“   Als Margral die Augen wieder öffnet, glänzen sie, denn sie sind mit Tränen gefüllt. Ihre Stimme ist zu einem flüstern geworden, aber grausam spricht sie die Worte. „Entkleide dich, entkleide dich, habe ich gesagt… oder ich schwöre beim Vater der Schlangen, ich werde dich töten.“
Tue, Apr 4th 2023 09:41   Edited on Wed, Apr 5th 2023 07:35

Von weit her dringt die Musik zu Luas Ohr, unwirklich erscheint ihr die ganze Szenerie. Beinahe entrückt ist sie vor Angst um ihre Geschwister, und sie fühlt sich mehr als Zuschauer denn als Mittelpunkt dieses merkwürdigen Geschehens. Sollen sie jetzt geopfert werden, soll sich der Duft ihres Blutes zu dem der so vielen anderen Blutstropfen mischen, von dem die Luft so geschwängert ist? Sie schaut zu Nefri, ernst, vergisst den Blick zu senken, hält dem ihren stand, ernst, beinahe ausdruckslos, bis sie bei ihren Geschwistern angelangt ist. Sie hört Nefri sprechen, doch es dünkt ihr, als würde sie von einem weit entfernten Turm herunter schreien, wie ein Hohepriester des Achum von dem Turm eben dieses Gottes schreien würde. Sie hört die Worte, sie versteht die Worte, doch es ist ihr, als würden sie nicht auf sie gemünzt sein, als wären sie Zuseher in einem Spektakel, das sie nicht im Geringsten tangiert. Erst als die Wachen ihre Geschwister zu Boden stoßen, ihnen die Kleider vom Leib schneiden drängt sie der Instinkt der fürsorglichen Schwester dazu, laut aufzuschreien. Doch hat man als Bewohner Pelorns gelernt, sich zu beherrschen, denn nur durch fast unmenschliche Selbstbeherrschung entgeht man oft dem Zorn der Wachleute. Und so öffnet sich wohl ihr Mund, doch ist es ein lautloser Schrei, der ihren Lippen entflieht, eine Hand die in die Richtung der Kinder geht, dann jedoch herabsinkt und sich in den gestampften Sand krallt.   Die Kinder knien da, lautlos, die Blicke immerfort brav auf den Sand vor ihnen gerichtet. Es sind brave Kinder, und Lua sollte ihnen doch Vorbild sein, als durch ihr unbedachtes Verhalten eine Gefahr darzustellen! Der Blick geht wieder nach unten, die Stirn berührt wieder den Sand. Sie liegt nun da, regungslos, bis die Stimme der Spinnenkönigin plötzlich weit näher an ihr erneut erklingt.   “Noch heute werde ich die Kinder an mich nehmen!” Lua liegt regungslos, die Stirn auf dem Boden. Sie muss sich beherrschen, aber wie soll man sich vollends unter Kontrolle haben in solch einer Situation? Der Boden unter ihren Augen wird von ihren Tränen befeuchtet, in Anbetracht der prophezeiten Trennung von ihren Liebsten. Würde sie sie wirklich nie mehr wieder sehen? Lua wird schwindelig bei diesem Gedanken, doch hat Mergral wohl recht. Wie sollte Lua, eine abgerissene Tagelöhnerin, den Kindern Möglichkeiten bieten können, die mit denen einer Königin vergleichbar sind? Ist es für die Kinder besser, wenn sie sich ihrer entledigen? Einer Schwester, die ihnen trotz aller Liebe, die sie ihnen entgegengebracht hat, doch nie mehr bieten konnte als das Entfliehen vom sofortigen Verhungern? Es sind gute Kinder, es sind brave Kinder. Sie werden keine Knechte sein, keine Huren, keine Diebe, keine Tagelöhner. Sie werden die Chance zu nutzen wissen, so sie sich ihnen bietet. Sie werden angesehene Leute sein unter dem Siegel der Schlange, weit angesehener als Lua es je sein wird. Die Hand entspannt sich, die Stirn hebt sich wieder vom Sand.   “Entkleide dich!” Kurz schaut Lua zu Nefri, der Spinnenkönigin, dann steht sie auf. Langsam, ruhig, wie in Trance. Die Tränen haben aufgehört zu fließen. Langsam zieht sie sich das Hemd über den Kopf, lässt es neben sich in den Sand fallen. Dann schiebt sie sich die Hose über die Hüften, lässt sie los, so dass sie ebenfalls auf den Boden gleitet. Sie steigt aus der Hose, steht nun da, den Blick auf den Boden gerichtet, nackt. Es ist ein schöner Körper, schlank und doch muskeldurchzogen, keine Ausgeburt üppiger Weiblichkeit, doch weit von jeglicher Androgynität, beinahe makellos. Freilich nicht enthaart nach Art der Huren in den besseren Bordellen, sondern gerade so, wie die Götter ihn ihr zugedacht haben. Wenig lässt bei dem Anblick vermuten, ein womöglich gekröntes Haupt inmitten des Sandplatzes zu sehen, und doch würde ein Maler eine Königin eher unbekleidet malen als in schmutzige Lumpen gekleidet. Sie steht da, so wie sie vorhin noch gelegen ist. Regungslos, abwartend.
Tue, Apr 18th 2023 05:54   Edited on Tue, Apr 18th 2023 07:36

Nur langsam löst sich Margral von der Säule, mit schwerem Schritt, als würde sie das Gewicht der Mehras wieder alleine tragen. Beschwörend hebt sie die Hände und ruft zu den Rängen:   „Wahrlich, ist sie nicht die schönste?“, sie verfällt in ein krächzendes Glucksen. „Bringt die Schinder…“ Bewegung kommt in den Säulengang, Schalen werden gebracht und befeuert, Brandeisen hineingelegt. Sie winkt den Wachen, um die Kinder zu bringen, aufgereiht werden sie neben Lua.   „Häuten werdet ihr euch wie Schlangen. Niemals wieder werdet ihr das sein, was ihr vorher wart. Noch heute mache ich euch zu Dornfinger, Jäger und Späher, zu Hämmer und Augen der sich ewig windenden Schlange. Seht sie euch an, die, die eure Mutter war, sie zu hassen, werde ich euch lehren, denn nichts konnte sie euch bieten außer leere Versprechungen und unerfüllte Hoffnungen, ich bin der Sand und die Tränen der fensterlosen Tempel… jetzt, seid ihr meine Kinder.“   Männer betreten die Arena und halten die Kinder fest. Imeria Krieger und ihre Fleischzeichner. Glühende Eisen werden ihnen auf den Arm und in das Fleisch gedrückt und Margral lacht:   „Webt für mich, webt für mich! Ich bin Margral, Herrin des Spinnennetzes... und du…“, anklagend zeigt sie auf Lua: „Bewege dich keinen Schritt oder ich schlitze ihnen die kleinen Wänste auf.“   Die Lumpen der Kinder und auch ihr eigenes Gewand werden in den Schalen verbrannt, Rauch steigt auf und vernebelt die Arena, die wenigen Habseligkeiten, die ihr geblieben sind, werden auf den Sand geworfen.   „Sie soll unsere Prinzessin sein“, ruft die Mutter der Spinnen, „was anderes ist eine Prinzessin als eine Hure in Perlen und Samt.“ Die Mehras lacht, Margral senkt ihre Stimme, sodass nur Lua sie hören kann. „Blenden wirst du sie für mich, versuchst du mich zu täuschen oder zu fliehen, denke daran, das Schicksal dieser Kinder liegt in meinen Händen…“   Einer der Schinder und Fleischzeichner nähert sich mit einem glühenden Brandeisen, ein alter Mann mit dünnen Armen und dünnen Beinen, mit einer ledernen Kappe und Schürze, sein Gesicht bedeckt von Ruß und Dreck. Seine Tätowierungen verschwommen und verblasst auf seiner verrunzelten Haut doch seine Augen klar wie ein Falke. Er packt ihren Arm, um ihr das Zeichen der Mehras in das Fleisch zu brennen. Hellrot leuchtet das Eisen.   „Siehst du, wie es glüht? Ja, es ist der Atem des Drachen, der die Welt geschmiedet hat. War er nicht auch eine Schlange? Noch immer verbirgt er sich im Eisen, Hitze erweckt es, denn es erinnert sich immer noch an seine Flamme. Vorsicht Schinder, diese da ist ganz besonders, diese da ist mein…“   Unbeeindruckt davon drückt der Fleischzeichner das Brandeisen auf ihren Oberarm, es brennt sich durch ihre Haut, es zischt, es schmerzt, es stinkt wie verbranntes Fleisch. Nach einigen Momenten lässt er ab von ihr, seine unangenehme Hand lässt sie los und Margral klatscht. Drei Striche, das Zeichen der Mehras vernarben von nun an auf ihrer Haut.   „Heißt unsere Prinzessin willkommen nach altem Brauch… auf dass sie jeden Fili mit Blut und Schweiß abarbeitet.“ Die Mehras klatscht nun mit und es ist Lua wie das Rauschen des Meeres. Jetzt erst betritt die Frau den Sand mit kurzen, langsamen Schritten und blickt hoch zu Lua, Margrals Lachen geht im Beifall unter: „Jetzt, gehörst du mir…“   Sie dreht sich um, winkt den Wachen wieder. Die Kinder werden vom Platz gebracht, später erfährt sie, dass jeder von ihnen neu eingekleidet wurde, wie kleine Kopfjäger und Späher des Hauses der Schlange sollen sie jetzt aussehen, Margral hatte Wort gehalten, kein Leid wird ihnen zugefügt. Sie werden trainiert, und jede Prüfung, welche ihnen auferlegt wird, wird mit neuen Tätowierungen belohnt oder mit Peitschenhieben bestraft, sollten sie versagen. Zeichnungen und Narben, hier, in dieser Welt, wertvoller als Gold. Nur der kleinste von ihnen ist bei Margral geblieben, der Krüppel. Sie nimmt des kleinsten Hand: „Du sollst besonders klug sein, wir werden herausfinden, wie klug. Einen neuen Namen werden wir dir geben, denn heute wurdest du neu geboren, nicht an jenem Tag, an dem du aus dem dreckigen Loch deiner leiblichen Mutter gekrochen bist, der Tag, an dem Achum dich erwählt hat, ihm zu dienen. Komm mein Kind, in den fensterlosen Tempel werde ich dich bringen, damit der Vater der Schlangen deinen Namen kennt. Würde dir das gefallen? Ja, das wird es.“   Ohne sich umzudrehen verlassen, Krieger, Fleischzeichner, Kinder und Spinnenmutter den Platz, sie steht alleine inmitten der Arena und noch immer klatscht ihr Publikum für die neue Prinzessin der Mehras doch irgendwann verstummt das klatschen, wieder raschelt es überall in der Mehras als die Menschen in ihren Sachen kramen, Dinge aus Beuteln oder Taschen holen, für einen Moment scheint es Lua als würde es zu regnen beginnen, doch dann erkennt sie, es ist nicht Wasser welches vom Himmel fällt, es sind Filis.   Aus jeder Hand, von allen Rängen regnen sie herab, werden auf Lua geworfen, fallen in den Sand, auf ihren Körper, treffen ihren Kopf und ihre Gliedmaßen, jedes Mal, wenn das Metall ihren nackten Körper trifft, ist es ihr wie Nadelstiche auf ihrer Haut. Aber auch dieser Regen endet, die Menschen fangen an sich in den Stockwerken zu bewegen und verlassen ihre Tribünen. Verschwinden in den unzähligen Räumen, Windungen und Gängen der Mehras, welche nun ihr Gefängnis ist.   Die Arbeiten gehen weiter als wäre nichts passiert doch der Innenhof ist leer. Hier auf dem Platz ist sie verlassen und allein.
Tue, Apr 18th 2023 09:40   Edited on Wed, Apr 19th 2023 06:23

Unverwandt und auch verständnislos sieht Lua die Spinnenkönigin an. In jedem einzelnen Satz vermengt sie die Aussicht auf eine bessere Zukunft mit der auf eine Reise in das absolute Elend, in das absolute Leid. In jedem Satz spricht sie einerseits von den Vorzügen der Aufnahme in die Reihen Mehras, auf der anderen Seite jedoch von Schmerz, Blut und Schweiß. Doch nun kommt Regung in ihr Gesicht. Das Kinn beginnt zu zittern, als sie davon spricht, ihre Geschwister würden sie hassen, als sie davon spricht, wie schlecht sie zu ihnen gewesen sein soll.   “Das ist nicht wahr!” durchzuckt es ihren Körper, will es laut herausschreien, aber sie kommt nicht umhin, zuzugeben, dass doch mehr als ein Körnchen Wahrheit in den Worten der dicklichen Frau steckt. Was hat sie ihren Geschwistern denn geboten, außer ihrer Schwesterliebe? Hungrige, kalte Nächte, Angst und Elend. Und doch kann sie es nicht ertragen, dass ihre Geschwister sie eines Tages hassen würden, sie, die ihr Augenlicht für sie gegeben hätte. Am liebsten hätte sie sie umarmt, alle fünf der nackten Geschöpfe, die nun, zitternd vor Angst, neben ihr stehen, ihren Blick immer brav auf den Boden gerichtet. Es sind so liebe, so brave Kinder! War sie also wirklich so schlecht, wie Nefri es darstellt? Sie weiß, dass jegliche Zuwendung ihrerseits die Lage aller sechs nur verschlechtern würde. Also steht auch sie da, ebenso nackt, als die Schinder auf den Platz marschieren und mit dem schmerzhaften Ritual beginnen.   Laut schreien die Kinder auf, und die Schreie, der Geruch nach verbrannten Kinderarmen ist beinahe mehr, als Lua ertragen kann. Die Tränen rinnen über ihr Gesicht, das laute Geplärre der Kleinen übertönen ihr leises Schluchzen. Die Wirklichkeit verschwimmt um ihr herum, die zahllosen Seelen auf den Tribünen werden zu einer undefinierbaren Masse. Einzig die Stimme der Spinnenkönigin dröhnt in ihr Gehirn, als würde sie ihr ihre Worte direkt in das Ohr schreien. Lua versucht, das Schluchzen zu unterdrücken, schwankt, doch nimmt all ihre Kraft, um stehen zu bleiben. Sie hört abermals dieses so seltsam anmutende Wort - Prinzessin. Sie glaubt nicht mehr daran. Sie hört nur mehr den Hohn in Nefris Stimme. Es ist ihr egal. Ihr Leben ist vorbei, und doch gibt es Hoffnung, dass ihre Geschwister es wirklich besser haben könnten. Es ist dies, was zählt. Möge Nefri ihre Schönheit zerstören, sie vierteilen oder in Scheiben schneiden. Sie hat einen Strohhalm gepackt, der sie nun in die Tiefe zieht, sie ist nicht die Erste, der dies widerfährt, sie wird nicht die letzte sein. Mit ihrer Kleidung verbrennt nun wohl auch ihr Leben, bis nur mehr Asche übrig ist. Wird sich jemand ihrer erinnern?   Sie spürt, wie nun auch ihr Arm gepackt wird. Wie ein Schraubstock legen sich die Finger um ihren Oberarm, tief bohren sich die Finger in ihr Fleisch. Sie spürt es nicht. Dann vernimmt sie die Wärme des sich nähernden Eisens. Die Glut auf ihrer Haut reißt sie aus der Lethargie. Sie bäumt sich auf, unterdrückt den Schrei des Schmerzes, der als gepresstes Stöhnen ihren Mund verlässt, während die Zähne des Oberkiefers ihre Unterlippe aufbeissen. Der Schinder hat dies wohl vorausgesehen, denn noch fester hält er den Arm umklammert. Das Brandeisen verrutscht nicht, vollbringt seine so peinliche Arbeit.   Schließlich werden ihre Geschwister vom Platz gebracht. Wie sehr sehnt Lua sich das Eisen zurück, wie gerne würde sie sich komplett versengen lassen, um nur noch einen Augenblick mit ihren heißgeliebten Geschwistern zu verbringen. Nun nimmt sie nicht einmal mehr Nefris Worte war. Als Harkas sich entgegen aller Ermahnungen zu seiner großen Schwester umdreht, ihr ein letztes Mal in die Augen schaut, versucht sie ein aufmunterndes Lächeln. Der Kleine lächelt zart zurück. Der Platz beginnt, sich um Lua zu drehen. So entrückt scheint sie, dass sie gar nicht den Versuch unternimmt, sich zu schützen, als die Münzen auf sie einprasseln, Geschossen gleich, besonders von den oberen Rängen. Das leichte Lächeln bleibt auf ihren Lippen, als würde eine letzte Verbindung zu den Kindern abreißen, in dem Moment, in dem das Lächeln verstummt, in dem Moment, in dem sie ihren Blick von der Tür abwendet, durch die sie eben verschwunden sind.   Dann ist es still. Noch eine ganze Weile steht Lua da. Dann fällt die Fassade, sie selbst auf die Knie. Die Finger krallen sich abermals in den Sand, ertasten ihr Messer. Sie schluchzt nun laut, schaut durch die Tränen auf das Messer. Ein Schnitt, und dieses Kapitel wäre abgeschlossen. Ein Schnitt. Doch was würde dann passieren? Würde Nefri es als Flucht sehen? Die Knöchel färben sich weiß, so fest hält sie das Messer. Ihre Stirn geht vor ihren Knien in den Sand. Und so weint sie eine ganze Weile lang, bis sie den Oberkörper wieder aufrichtet. Noch immer ist sie allein, noch immer ist sie nackt. Was mag denn nun passieren?
Wed, May 3rd 2023 08:29

Fortsetzung, Discord.