Tue, Mar 14th 2023 03:52
Edited on Wed, Dec 13th 2023 01:19
Es ist der Tag der Tage. Es ist der Tag, an dem das Schicksal der kleinen Familie eine andere Richtung einschlagen sollte. Nie wieder Hunger leiden, nie wieder Angst haben, dass einer ihnen das Wenige, das sie haben, auch noch wegnimmt. Es ist wenig verwunderlich, dass sämtliche Mitglieder der Familie schon früh wach sind.
“Wascht euch heute so gründlich, wie ihr euch noch nie gewaschen habt,” sagt Lua. “Heute müsst ihr einen guten Eindruck erwecken. Ich weiß ganz genau, dass ihr gute Kinder seid, aber gerade heute müsst ihr noch besser sein.”
Es gibt kein Murren, es gibt keine Widerrede. Jeder Einzelne weiß, was auf dem Spiel steht. Zwei Mahlzeiten am Tag! Das allein ist jedes Opfer recht. Und so macht sich die gesamte Familie auf zum Olifern, steigt in die Fluten. Jeder wäscht sich selbst, dann waschen sich alle noch einmal gegenseitig. Niemand soll den Eindruck haben, als wären sie ungepflegt, als wären sie zufrieden mit ihrem tristen Dasein. Es ist der Tag der Tage, an dem jeder erkennen muss, dass es ihnen ernst ist mit ihren neuen Beschäftigungen, mit ihrem neuen Leben. Und doch ist Lua nicht bar jeder Sorge. Es ist das Brandmal, das ihr zu denken gibt. Gern beißt sie die Zähne zusammen, um das glühende Eisen auf ihrem Körper zu empfangen. Und doch graut es ihr davor, dass es ihren Geschwistern gleich ergehen könnte. Sie hofft, dass das Jammern und Klagen, das Weinen und Schreien der Kleinen die Oberen an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht zu einem Umdenken führen könnte. Aber es ist das Beste. Es ist das Beste für sie alle. Sicherheit, zwei Mahlzeiten am Tag, und noch einige Filis für Kleidung und etwaigen Luxus, den Lua sich im Moment noch gar nicht vorstellen kann.
Die Sonne geht auf über dem Olifern. Die kleine Familie sitzt am Ufer. Lua schaut auf ihre Geschwister. “Seit brav, seid ruhig, schaut niemandem direkt in die Augen,” ermahnt sie sie noch einmal. “Verneigt euch vor den Leuten da. Jammert nicht und stellt keine Fragen. Heute kommt es wirklich darauf an. Morgen können wir reich sein, immer genug zu essen haben, ein Bett, ein gutes Zimmer. Oder wir können wieder hier sein. Es kommt ganz auf euch an. Also, bitte, gerade heute, reißt euch zusammen. Auch wenn euch jemand anfasst, auch wenn euch jemand dort anfasst, wo ich euch immer sagte, es darf nicht sein. Heute ist alles anders. Heute ist der erste Tag unseres neuen Lebens.”
Nun beginnt sie selbst nachzudenken über das, was sie gerade gesagt hat. Sie öffnet einen zusätzlichen Knopf an ihrem Hemd. Nein, sie selbst will diejenige sein, die von irgendeiner Wache missbraucht wird, nicht jemand der Kleinen. Wobei… es ist das letzte Mal gut gegangen. Es wird auch heute gut gehen.
Es ist Markttag. Nicht, dass der Markttag für einen Mittellosen irgendein Festtag sein könnte. Aber trotzdem: Am Markttag kann man sich in der gesamten Stadt ziemlich unbehelligt bewegen. Irgendwann hat das Haus Thornhoff den Anfang gemacht, sämtliche Mitglieder aller Häuser in ihrem Gebiet zu dulden. Und die anderen Häuser haben ziemlich ungefragt nachgezogen. Und so ist der Markttag der friedlichste Tag der Woche. Bis in die untersten Schichten ist es durchgesickert, dass man am Markttag die Stände in Ruhe lässt, dass die Besucher der Märkte unbehelligt dazwischen flanieren können. Der Markttag ist ein Tag, in dem der offene Kampf um das Überleben eine Pause macht. Der Markttag ist ein Tag, an dem man auch einmal ein Almosen kriegt, an dem die Reichen auf die Armen achten, und die Armen die Reichen reich sein lassen. Und so muss Lua sich keine Gedanken machen, welchen weg sie nun zu dem Gebäude einschlägt, jenseits der Melenischen Brücke, das im gemeinen Wortlaut einfach “Mehras’ Tempel” heißt, obwohl es mit einem Tempel genausoviel zu tun hat wie ein Ochse mit einer Blumenvase. Von dem jeder meint, dass es besonders Blut und Tod bedeutet, und oft damit nicht einmal Unrecht hat. Und das nun die neue Bleibe der kleinen Familie werden würde.
Es dauert nicht lang, da kommen sie auf den Platz, an dem der Markt stattfindet. Die meisten Stände sind schon aufgebaut, es gibt Gaukler, die bereits ihre Kunststücke aufführen, die ersten Marktschreier sind bereits in ihrem Element. Lua kann sich nichts kaufen, sie kann den Gauklern nicht geben, und das ist ihr anzusehen. Und so werden sie weitestgehend ignoriert. Wohl wird von ihnen Notiz genommen, denn so hässlich ist die Familie nicht anzusehen, irgendwie alle einander ähnlich und doch reichlich verschieden, aber es ist eben so, wie es ist: Jeder will am Markt Geld verdienen, und mit Leuten, die kein Geld haben, kann man nur wenig verdienen. Sie gehen über die Brücke. Keiner würde auch nur im Traum daran denken, jemanden an der Brücke aufzuhalten. Es ist Markttag, und gerade an den sonst so gefährlichen Brücken wird peinlichst darauf geachtet, niemanden in seiner Freiheit einzuschränken. Und schon stehen sie vor dem Gebäude, das eben “Mehras’ Tempel” genannt wird.
Lua, die Älteste, ist zwar noch in ihrer Jugend, aber doch zu einer vollendeten Frau herangewachsen. Mehr als alle anderen kann man sie als Schönheit bezeichnen, mit ihrem athletischen und doch weiblichen Körperbau, ihrem ebenmäßigen Gesicht, den wachen Augen. Lonya, die zweitälteste, ist eben dabei, vom Kind zur Frau zu werden. Doch sind die Augen zu nahe beieinander, die Schneidezähne etwas zu weit nach vorne stehend, als dass die Attraktivität ihrer großen Schwester bei ihr zu erahnen ist. Auch ist die sich ausbreitende Akne in ihrem Gesicht nicht gerade zuträglich für irgendwelche Phantasien, die sich in wolllüstigen Männern entwickeln mögen. Die dritte im Bunde ist Laraya, sie ist noch weit davon entfernt, als Frau bezeichnet zu werden. Sie hat das vollste Haar der drei, das ihr in geradezu wirren Locken über die Schultern fällt, große neugierige Augen und den Ansatz eines Schmollmundes. Ansonsten ist sie geradezu hager, fast ausgehungert, und doch muss man sie als überaus hübsches Kind bezeichnen. Dann sind da noch die drei Buben, höchstens halbwüchsig. Rondur hat für sein Alter breite Schultern, ist überhaupt relativ kräftig. Auch er hat diese energischen, dunklen Augen, die allen so eigen sind, kurzes, recht unbedarft geschnittenes, fast schwarzes Haar. Harkas ist um einiges kleiner und auch jünger, ihm sonst jedoch überaus ähnlich, nur hat er eine recht unansehnliche Narbe auf der rechten Wange, die ihm etwas Verwegenes verleiht, wenn dies auch ob seines jungen Alters geradezu abwegig erscheint. Der Kleinste der Familie, Arcus, sticht geradezu heraus. Auch er hat zwar das schwarze, schlecht geschnittene, kurze Haar, doch sind seine Augen stahlblau. Er hinkt etwas über den rechten Fuß, ist fast ein Krüppel, was jedoch in Anbetracht der dauerhaften Unterernährung der untersten Bevölkerungsschicht recht häufig ist. Doch seine Augen erwecken Aufmerksamkeit, nicht nur wegen des Kontrastes zu dem dunklen Haar, vielmehr als dass sie geradezu die gesamte Umgebung aufzusaugen erscheinen, als dass jedes Detail seiner Umgebung von geradezu überragendem Interesse zu sein scheint. Und so ist er es, der immer wieder zurück bleibt, nicht nur wegen seines Handicaps, und der immer wieder von Lua zur Eile angemahnt wird.
“Jetzt gilt es,” ermahnt Lua noch einmal ihren Anhang. Dann nimmt sie zum zweiten Mal den Klopfer in die Hand und lässt ihn auf die Tür knallen. Ihr einziger Gedanke im Moment ist der, dass die Wache wohl wieder sie aussuchen wird, seinen Stock zwischen die Beine zu halten, über das Gesicht zu lecken, und was immer ihm gerade einfallen wird. Sie streift den Kragen ihrer Bluse etwas zur Seite, um eben so begehrenswert wie möglich zu erscheinen. Nicht, um ihn zu beeindrucken, nur deshalb, um seine Aufmerksamkeit von ihren Geschwistern abzulenken.
Out of character
Wie angekündigt, Vorab-Post für 18.03.23. Weiß eben nicht, inwieweit ich bis 23.03. zum Posten komme, und wollte jetzt nicht unbedingt Tage verlieren...