Mon, Apr 3rd 2023 08:04
Edited on Tue, Jan 16th 2024 08:19
Es ist Markttag. Vom Wochenmarkt her hört man bereits das Lärmen der Händler, die ihre Stände aufbauen. Doch auch am Tempelberg wird die Nacht früher unterbrochen, als es die Bewohner des Viertels von den anderen Tagen gewohnt sind. Auch hier wird gesägt und gehämmert, gebohrt und geklopft. Doch es sind keine Marktstände, die hier errichtet werden. Der Markttag ist Hinrichtungstag. Und so ist es ein Schafott, das hier entsteht, am oberen Ende des Platzes, gerade unter Tempel der Göttlichen Zwillinge. Die über dem Platz verstreuten Feuerstellen werden zum Teil beseitigt, auch einiger loser Schutt, der sich über die Woche von den sich neben den Häusern Schuttbergen gelöst hat, wird wieder an den ursprünglichen Platz gebracht. Kaum erhellt die Sonne mit voller Kraft den Tempelberg, so ist die Hauptarbeit auch schon wieder vorbei.
Das Schafott, das das endgültige Urteil jeglichen verurteilten Verbrechers darstellt, ist von einfacher, doch massiver Machart. Eine etwas mehr als einen Meter hohe Empore, wohl um die 5 Schritte breit und lang, auf die vorne mittig eine Treppe emporführt. Die Empore selbst ist praktisch leer, einzig ein Hackblock befindet sich genau in dessen Mitte. Die rötlich braune Färbung desselben verrät auch sofort, dass es nicht Holz ist, das darauf üblicherweise zerkleinert wird. An langen Fahnenstangen an den hinteren Ecken der Empore prangen zwei große Schlangenbanner.
Nach einer kleinen Weile marschieren Uniformierte des Imeria-Ordens auf und nehmen rings um den Platz Stellung, und schon beginnt sich der Platz zu füllen. Es sind Bürger aller Gesellschaftsschichten, die Zeuge des nun bevorstehenden grausigen Ereignisses sein wollen. Einzig eine gut vier Schritt breite Gasse von der von der Melenischen Brücke her einmündenden Straße bis zum Schafott bleibt frei, und jeder, dem es denn einfällt, jene Gasse zwecks besserer Aussicht zu besetzen, wird von den Uniformierten auch alsgleich in mehr oder weniger brutaler Art und Weise eines Besseren belehrt.
Wieder dauert es eine ganze Weile, als plötzlich der Klang einer einzelnen Trommel die Menge zum Schweigen bringt. Langsame, gleichmäßige Schläge, gut hörbar über den ganzen Platz. Und nun kommt auch Bewegung in die Straße, die eben von der Melenischen Brücke her zum Tempelberg führt. Der Henker macht den Anfang, ein glatzköpfiges Ungetüm von einem Mann, mit kräftigem Hals, der sich unter dem Kopf kaum verjüngt und in mächtige Schultern mündet. Der nackte Oberkörper strotzt vor Muskeln, ist so wie der Hals und der Kopf mit auftätowierten Schlangenschuppen überzogen, die einzig das Gesicht frei lassen. Dazu trägt er eine einfache, graue Stoffhose. In den Händen hält er eine geradezu riesige Axt, die wenig Spielraum bei der Vermutung der Art der bevorstehenden Zeremonie lässt. Fünf Schritte hinter ihm folgt ihm eine junge Frau, wohl so Anfang oder Mitte Zwanzig. Ein hübsches Geschöpf, mit ebenmäßigem Gesicht, dunklen Augen, an den Schläfen eingezopftes, dunkles, langes Haar. Einzig zwei mächtige Tätowierungen im Gesicht schrecken ab - ein stilisierter Skorpion auf der Stirn, gerade zwischen den Augenbrauen beginnend, und ein Schlangenkopf, der am Backenknochen beginnt, über die Schläfe reicht und erst an der Stirn endet. Das Maul ist geöffnet, und es sieht aus, als würde er im nächsten Moment ihr rechtes Auge verschlucken. Auch ihr Hals ist mit einem Schuppenmuster überzogen, das unter Hemd und Jacke verschwindet. Von dem Hemd sieht man nicht viel, ist es doch gänzlich über eine alte, schäbige Jacke aus ehemals schwarzem Leder verdeckt, bis gut zur Taille reichend. In zwei Taschen über der Brust stecken zwei mächtige Dolche. Die engen Hosen aus ebenso schäbigem, ehemals schwarzem Leder stecken in mächtigen Stiefeln. Sie ist jetzt weder auffällig groß gewachsen, noch ist sie irgendwie klein, doch die breiten Schultern verraten, dass sie wohl zuzulangen imstande ist. Sie gehört nicht zu den Uniformierten des Hauses Imeria, und doch ist sie mit dem Hause verbunden. Sie gehört zur wohl gefürchtetsten Einheit des Hauses, jederzeit bereit, zuzuschlagen. Sie ist eine Jägerin, und ihre Beute sind Schwarzhändler, Kleinkriminelle und sämtliche Personen, die dem Haus zuwiderhandeln.
Jäger zeichnen sich aus durch eine überdurchschnittliche Bravour im Kampf, durch Unbarmherzigkeit und mitunter durch brachiale Brutalität. Überall können sie auftauchen, zu jeder Zeit, sind eigentlich ziemlich frei in ihren Handlungen. Und obwohl die Jäger in der Hierarchie des Hauses wenig Ansehen genießen, sind sie für das Funktionieren desselben unumgänglich. Sie sind die Männer und Frauen für das Grobe, putzen da durch, wo sich gesellschaftlicher Schmutz angesammelt hat. Wer einmal in ihre Klauen gerät, wünscht sich meist, niemals geboren worden zu sein.
In ihrer rechten Hand hält sie das Ende einer Kette, und an dieser Kette schleppt sich der erste der Delinquenten hinterher. Insgesamt sind es 10 an der Zahl, sieben Männer und drei Frauen, an den Händen gefesselt und aneinander gebunden, mit Knebeln im Mund und Ketten zwischen den Füßen, die höchstens einen halben Schritt erlauben. Verquollene, blutverkrustete Gesichter mit leerem Blick, Gesichter, auf denen das nun bevorstehende Schicksal wohl abzulesen ist. Kaum einer, der nicht hinkt, den Oberkörper auffällig schief hält, ja dem die wohl erlittenen Behandlung der letzten Tage nicht anzusehen ist. Alle tragen nur einen knielangen Kittel, mit einer Kordel weit um die Schultern gelegt. Am Fuße des Podestes bleibt der Zug stehen. Die Frau löst die Kette, die den Fünften mit der Sechsten verbindet, deutet den ersten Fünf, sich auf der linken Seite der Treppe, den zweiten Fünf, sich auf der rechten Seite niederzuknien. Der Henker postiert sich nun links, sie selbst rechts, den Blick in die Richtung der Menge gerichtet. Sie warten.