Mari findet die Brauerei genauso mühelos, wie Theomer gesagt hatte. Das von einer hohen, wenn auch an zahlreichen Stellen reparataurbedürftigen, Mauer umgebene Gelände am Ufer des Olifern ist schon von Weitem zu erkennen. Das schmiedeeiserne Haupttor steht so weit offen, dass sie gut zwischen den beiden Flügeln hindurchschlüpfen kann, die - wenn das Tor geschlossen ist - das Wappen der Harulands zeigen, drei Hopfendolden auf auf einem Schildwappen. Auf dem Gelände stehen zwei größere Gebäude und mehrere kleine Schuppen und Werkstätten, in denen früher wahrscheinlich Karren oder Kutschen gelagert und gewartet wurden. An der dem Olifern gegenüberliegenden Mauer ist auch ein Stall, der jetzt allerdings leer zu sein scheint. Eines der beiden größeren Gebäude zeigt deutliche Zeichen des Verfalls: eingeschlagene Scheiben, kaputte Dachschindeln, abblätternde Farbe und Efeu, der sich die Mauer hochrankt. In dem anderen, größeren Gebäude allerdings fallen schmale Lichtstreifen durch zugezogene Läden und ein großes Tor steht halb offen, das den Blick auf mehrere Kupferkessel freigibt. Als Mari sich nähert und die Halle schließlich betritt, wird der Geruch nach Malz und Hopfen immer stärker. Sie sieht sich etwas unsicher um, als eine Frau auf sie zu eilt. Theahild Haruland als schön zu bezeichnen, wäre eine grobe Untertreibung. Sie ist groß, blond, gertenschlank und strahlend schön. Selbst ihr verblichenes Kleid, über dem sie einen groben Arbeitskittel trägt, der Schmutz unter ihren Fingernägeln, ihre tiefen Augenringe und ihre nachlässig zusammengeknoteten Haare können diesen Eindruck nicht vertreiben. Allerdings hat sie eine eigentümliche Art zu reden, die schwer zu beschreiben ist: Alles was sie sagt, und wenn sie über das Wetter redet, klingt irritierend lasziv und obszön, als würde sie einem Matrosen Schweinereien zuflüstern. "Na sieh mal einer an, was die Katze reingebracht hat!", sagt sie und mustert Mari mit einem unangebracht sinnlichen Augenaufschlag. "Theomer hat schon gesagt, dass du kommen wirst. Mari, oder? Er arbeitet gerade an den Leitungen und kann nicht weg, aber er hat mir alles gesagt. Komm einfach mit!" Sie führt Mari durch die Lagerhalle - die an einigen Stellen offenbar schon sehr lange nicht mehr genutzt wird - und eine Treppe am Rande der Halle hinauf, die nach oben in einen langen Flur mündet, von dem zahlreiche Türen abgehen. "Das waren früher die Schreibstuben," erklärt sie in einem Ton, als wäre das was Unanständiges. "Aber heute haben wir nicht mehr viel Papierkram und benutzen die Zimmer als Wohnungen." Sie öffnet eine Tür und geht voran in eine einfach eingerichtete Stube. Ein Fenster führt hinunter auf den Hof und Mari kann das Tor sehen, durch das sie hereingekommen ist. Unter dem Fenster liegt ein offenbar frischer Strohsack und einige Decken, auf einem zum Tisch umfunktionierten Schreibpult liegt abgetragene, aber frische und saubere Kleidung. Und daneben steht ein kleiner, mit einem Wachstuch versiegelter Ölkrug und ein Messer in einer einfachen Lederscheide. "Ich hab keine Ahnung, wozu du das brauchst oder wieso du überhaupt hier bist," erklärt Theahild und stemmt eine Hand in die Hüfte. Mari ist nicht sicher, ob sie in ihrem Tonfall Neugier, Unverständnis, Ablehnung oder die Aufforderung herauslesen soll, sich die Kleider vom Leib zu reißen und furchtbar unanständig zu sein. "Erstmal wirst du hier einquartiert und morgen kannst du dich in der Halle ein bisschen nützlich machen und ausfegen und sowas." Sie atmet tief ein und stößt ein Seufzen aus, das Männerherzen höher schlagen ließe. "Morgen Abend gehts in die Mehras. Du siehst aus, als hättest du schon eine Menge krassen Scheiß gesehen, daher weißt du sicher, was das bedeutet: Ein Haufen Schlangenmänner, die entweder geil oder gewalttätig sind, meistens aber beides." Sie geht zur Tür und dreht sich zum Abschied nochmal um. "Theomer muss eine Menge von dir halten. Ich weiß nicht, wann er das letzte mal jemand Fremdes hier reingelassen hat." Sie mustert Mari nocheinmal eindringlich, dann dreht sie sich um und verschwindet.