"Dann halt später.": antwortet Mari Saya mit einem Zwinkern, doch als sie sich wieder Lisina zuwendet, weicht aller Schalk und ihre Gesichtszüge werden hart. Mit Genugtuung sieht sie zu wie sich Lisina neuerlich zusammen krümmt, als sie Saya schlägt. Doch sie kennt Lisina und sieht, daß sie zwar ziemlich angeschlagen ist, aber noch lange nicht am Ende. Mari ist überzeugt davon, daß sie sich schon aus reiner Bosheit, die Kehle durchschneiden würde, bekäme sie ein Messer zu fassen. Bei diesem Gedanken lächelt sie knapp, voll Rachsucht und abgrundtiefen Haß. "Danke!": sagt sie leise und als Saya sie küßt, nimmt Mari sie für einen Moment in die Arme. Eine kleine Geste nur, aber voller Liebe und Dankbarkeit.
Dann stellt sie die Kerze auf den Boden und schlägt geschickt Feuer. Als sie die Kerze schließlich brennt, zieht sie ihren Dolch, läßt sich keine zwei Meter vor Lisina auf die Knie sinken, stellt die Kerze vor sich hin, legt den Dolch dazu, setzt sich auf ihre Fersen, legt die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Oberschenkel und schließt die Augen, wie sie es jeden Tag tut um zu beten. Eine kleine Weile sitzt sie scheinbar selbstvergessen so da, bis sich ihre Lippen zu bewegen beginnen und leises monotones Wispern hörbar wird. Doch dabei bleibt es nicht, lauter wird ihre Stimme, bis der Satz, den sie wie ein Mantra wiederholt, für alle hörbar wird: "Afyra, Schattenherrin, deine Tochter ruft nach dir!" Für die Schlangenanbeter mag es nur ein Name sein, doch für jene, die im Glauben an die Zwillinge aufgewachsen sind, ist Afyra der Inbegriff alles Bösen, so verworfen, daß kaum jemand diesen Namen aus Furcht auch nur in den Mund nimmt. Sie offen anzurufen ist eine ungeheure Blasphemie und darüber hinaus gibt sich Mari damit vor allen hier als eine der immer noch verfolgten Kindern Afyras zu erkennen. Lauter wird ihre Stimme, erfüllt den ganzen Raum und dann öffnet Mari ihre Augen. Sie greift nach dem Dolch, sticht sich in den Daumen, sodaß ein paar Tropfen ihres Blutes aus der winzigen Wunde dringen. Einen Tropfen davon läßt sie von der Dolchspitze in die Kerzenflamme fallen, die zischend zu flackern beginnt. Sie breitet ihre Arme aus. "Afyra, Schattenherrin, deine Tochter ruft nach dir!" Vielleicht ist es nur ein Luftzug und die bedrückende Atmosphäre, die Mari mit ihrer Anrufung geschaffen hat, der die Sinne täuscht, doch für einen Moment scheint sich das Licht zu verdüstern und die Schatten um Lisina herumzutanzen. Geschmeidig kommt Mari auf die Beine und die Klinge schimmert im schwachen Licht, als sie Lisina den ersten Schnitt zufügt. Der Schnitt ist nicht lang, aber tief, blutet und wird sicher eine Narbe hinterlassen.
"Neun Stiche, neun Schnitte,
Schmerz und Pein,
Blut und eine Seele.
Afyra, Schattenherrin,
deine Tocher ruft nach dir!"
Schnitt auf Schnitt bringt Mari ihrem Opfer bei, bis die neun blutenden Wunden auf Lisinas linken Brustansatz einen nach unten offenen, kruden Kreis in ihr Fleisch zeichnen.
"Koste von diesem Blut
das fließt für dich.
Im Fleisch dein Zeichen
mit Blut geweiht
Afyra, Schattenherrin,
deine Tochter steht vor dir!"
Laut hallt ihre Stimme in dem Folterraum. Es ist Maris Stimme, doch tiefer als gewöhnlich, vibrierend vor Haß. Sie reißt Lisinas Kopf an den Haaren zurück und sieht ihr in die Augen. In ihren Augen glimmt ein kaltes Leuchten, als sie die letzten Worte ihrer Anrufung spricht.
"Dein ist diese Seele
in Nacht und Qual,
schlag sie mit Pein
in alle Ewigkeit!
Afyra, Schattenherrin,
deine Tochter huldigt dir!"
Wieder scheint es für einen Augenblick, als würden sich die Schatten um Lisina drängen und die Umrisse Maris im Flackern der Kerze mit ihnen zu wachsen. Dann brennt die Kerze wieder normal und Mari wischt ihre Klinge am Bauch Lisinas sauber. Noch immer hält sie Lisinas Haar gepackt. "Sieh' zu, daß du am Leben bleibst, Lisina! Denn an der Schwelle zwischen Tag und Nacht wartet sie schon auf dich und deine Seele. Nichts, was ich dir antun könnt' wär' auch nur ein Vorgeschmack auf das, was im Schattenreich auf dich wartet! Also sei brav, dann laß ich dich noch einen Tag schnaufen!" Sie spuckt ihr ins Gesicht, wendet sich ab, steckt ihren Dolch weg und löscht die Kerze. "Das war's.": sagt sie zu Saya und als sich Mari an sie schmiegt, kann Saya spüren, daß sie am ganzen Leib zittert.