Es dauert eine ganze Weile, bis Sigrun ihr antwortet. Sie legt einen Arm unter ihrer Brust um dem Oberkörper, stellt den Ellbogen des anderen Arms darauf und umfasst mit der Hand die Nasenwurzel. So verharrt sie einige Zeit. Dann löst sie die Arme wieder.
“Enessa, ich hoffe, ich darf ganz ehrlich sein,” antwortet sie dann. “Es ist wohl mehr als ein harter Brocken, es bringt mich fast um den Verstand. Ich bin dem Kommandanten dankbar, dass er mir einen Namen gab. Es mag dir als Symbol erscheinen, doch ist ein Name ein Beginn einer Persönlichkeit. Einer Persönlichkeit, die ich in jenem Augenblick verlor, in dem mich mein Gedächtnis verließ. Ich muss eine Herkunft haben, ich muss ein Leben gehabt haben vor diesem unglückseligen Vorfall. Dies alles habe ich verloren, vielleicht für einige Zeit, doch befürchte ich, es könnte auch für die Ewigkeit sein. Ich war ein Nichts, als ich hier ankam, ich war eine Hülle ohne Seele, ohne Leben. Nun hat diese Hülle einen Namen, und erst jetzt kann die Hülle mit einem neuen Leben gefüllt werden. Ich bin mir bewusst, diese Sigrun, die nun entsteht, mag wenig mit meinem bisherigen Ich zu tun haben. Aber, ich weiß nicht, ob ich dir das verständlich machen kann, aber Sigrun ist ein Ich. Es ist ein Ich, das jetzt in eine Struktur eingebettet ist, ein Ich, das nicht mehr führerlos in den Wellen des Schicksals umhergeschleudert wird, ohne jede Hoffnung, ein rettendes Ufer zu erreichen. Es ist ein Ich, das, wie Ihr sagt, Kameradschaft erfahren wird, und gerade diese Kameradschaft wird also der Anker sein, der dem Ich die nötige Sicherheit gibt, ein Leben zu Leben, das lebenswert ist. Du sagtest, ich wäre ein Goldschatz für Euch, doch ist ein Goldschatz nutzlos, wenn er nicht geborgen wird. Ich bedanke mich also herzlichst dafür, dass der Kommandant und du, dass ihr beide mich geborgen habt.”
Sie sieht Enessa einen Augenblick lang an, dann fährt sie fort: “Was die Haltung betrifft, so muss ich zugeben, dass ich einige Male kurz davor war, sie zu verlieren. Beinahe sah ich keinen Ausweg mehr in dem Verhör für mich, da ich außerstande war, Euch irgendeine Antwort zu geben. Der Tod auf der Folterbank war für mich weit wahrscheinlicher als jegliche Alternative. Und so danke ich dem Donner, dass der Kommandant ein Einsehen hatte.”
Wieder macht Sigrun eine Pause. “Doch will ich Euch nicht länger von Eurem verdienten Mahle abhalten. Ich muss zugeben, dass auch ich einen ordentlichen Appetit habe.”