Nachdem Bjornsson das Büro verlassen hat, bleibt Leif noch einen Moment sitzen. Die Stille, die sich über den Raum legt, ist erdrückend im Gegensatz zu der hitzigen Diskussion von vorhin. Leif seufzt tief und spürt, wie die Verantwortung seiner neuen Position schwer auf seinen Schultern lastet. Dies war das erste echte Problem, das auf ihn zukam, seit er das Vorhaben der Akademie in Angriff genommen hatte, und es verlief schwieriger, als er gehofft hatte.
Er lehnt sich im Stuhl zurück, die Hände vor dem Gesicht, als ob er so die Realität für einen Moment ausblenden könnte. Doch seine Gedanken kreisen weiter, und er weiß, dass es keinen einfachen Ausweg gibt. Bjornssons Worte hallen noch in seinem Kopf wider, und das Gewicht dieser Auseinandersetzung drückt auf sein Herz. Leif spürt, dass er die Dinge nicht einfach so lassen kann.
Schließlich steht er auf. Mit langsamen Schritten beginnt er im Raum auf und ab zu gehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sein Blick wandert über die rohen Wände des noch unfertigen Büros, über den Boden, der noch von Holzspänen bedeckt ist. Es fühlt sich an, als würde sich sein eigenes Leben in diesem Augenblick im Rohbau befinden – unvollständig, unsicher, voller offener Fragen.
Leif bleibt schließlich vor der Tür stehen und öffnet sie einen Spalt. Das Hämmern und Sägen der Arbeiter draußen dringt erneut an seine Ohren, diesmal gedämpfter, weniger fordernd. Er lehnt sich leicht gegen den Türrahmen und beobachtet die Männer, die geschäftig weiterarbeiten. Einige von ihnen werfen verstohlene Blicke in seine Richtung, wissen wohl, dass hier gerade etwas Bedeutendes geschehen ist, aber keiner wagt es, ihn direkt anzusprechen. Leif erkennt in ihren Gesichtern das Vertrauen, das sie in ihn setzen, aber auch die stille Erwartung, dass er die richtigen Entscheidungen trifft. Er seufzt, schließt die Tür langsam wieder und setzt sich zurück an den Tisch. Seine Finger trommeln unruhig auf die Tischplatte. Wie kann er das Problem mit Bjornsson lösen, ohne den Rest der Kapitäne oder gar die gesamte Gemeinschaft gegen sich aufzubringen?
Nach einer Weile des Grübelns steht Leif auf, diesmal mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Er zieht seine abgenutzte Seemannsweste enger um sich, schnappt sich seinen Umhang und verlässt das Gebäude. Die Luft draußen ist kühl, der Geruch von Salzwasser und Fisch liegt wie immer schwer in der Luft. Leif atmet tief ein, als wolle er sich mit jedem Atemzug Klarheit verschaffen.
Sein Ziel ist der Hafen. Er kennt jeden hier, und jeder kennt ihn. Noch hat sich nicht überall herumgesprochen, dass er jetzt in einer anderen Rolle ist – dass er Verantwortung trägt, die weit über die alltäglichen Aufgaben eines Seemanns hinausgeht. Aber genau das will er nutzen. Leif geht langsam den gepflasterten Weg hinunter, vorbei an den Lagerhäusern und den gestapelten Fischernetzen, bis er die ersten Fischergruppen erreicht.
„Morgen, Leif! Wie läuft's?“ ruft einer der älteren Fischer, der gerade dabei ist, ein Netz zu flicken.
Leif lächelt freundlich und bleibt kurz stehen. „Gut, gut. Wie sieht's bei euch aus? Der Fang war heute früh bestimmt wieder gut, oder?“
Der Mann lacht. „Oh, du weißt doch, das Meer ist launisch, aber wir nehmen, was es uns gibt. Immerhin kein Sturm in Sicht.“
Leif nickt und plaudert locker weiter, während er den älteren Fischer beobachtet. „Hör mal“, beginnt er beiläufig, „ich habe neulich mit Bjornsson gesprochen. Er scheint in letzter Zeit ziemlich unter Druck zu stehen, oder?“
Der Fischer runzelt die Stirn, während er weiter sein Netz bearbeitet. „Hm, ja, kann man wohl sagen. Der alte Bjornsson… er war schon immer ein Dickkopf. Aber in letzter Zeit ist er besonders hitzig. Gibt Gerede darüber, dass er mit einigen Leuten in der Stadt im Clinch liegt. Was genau da vor sich geht, weiß ich aber nicht.“
Leif bedankt sich mit einem freundlichen Schulterklopfen und zieht weiter. Er spricht hier und dort mit anderen Fischern, mal über das Wetter, mal über den Fang, immer freundlich und unauffällig. Doch jedes Mal, wenn es passt, bringt er Bjornsson ins Gespräch. Leif erfährt, dass der Kapitän in letzter Zeit öfter mit der Hafenverwaltung Probleme hatte – einige teure Reparaturen, die ihm nicht schmeckten, und Gerüchte, dass er in einer wirtschaftlich schwierigen Lage stecken könnte und er sein Boot der thornhoffschen Flotte integrieren müsse. Ähnlich wie es Leif machen musste vor wenigen Tagen.
„Er redet nicht viel darüber“, sagt ein jüngerer Fischer, „aber ich hab gehört, er macht sich Sorgen um seine Familie. Es könnte sein, dass er deswegen in letzter Zeit so… angespannt ist.“
Leif nickt nachdenklich. Es bestätigt seine Vermutung. Bjornsson ist nicht nur wütend, weil er glaubt, dass die Akademie ihre Traditionen bedroht. Da steckt mehr dahinter – eine tiefergehende Sorge um seine eigene Familie, um seinen Status, vielleicht sogar um seine Zukunft. Leif weiß, dass er diese Informationen vorsichtig nutzen muss. Es geht nicht nur darum, Bjornsson zu überzeugen, sondern auch, ihm zu zeigen, dass er nicht alleine ist und dass es Wege gibt, die Tradition zu bewahren, ohne das, was sie wertvoll macht, zu opfern.
Als Leif schließlich zum Ende des Hafens kommt, bleibt er stehen und schaut auf das weite Meer hinaus. Die Wellen schlagen sanft gegen die Kaimauer, und der Horizont verschwimmt in der Ferne. Es liegt eine Schwere in seinem Herzen, aber gleichzeitig wächst in ihm auch eine neue Entschlossenheit. Er wird einen Weg finden, dieses Problem zu lösen. Denn wenn er eines gelernt hat, dann dass jede Herausforderung, sei sie noch so groß, durch Zusammenarbeit und kluges Handeln überwunden werden kann.
Mit diesem Gedanken macht er sich auf den Rückweg, bereit, die nächsten Schritte zu planen.