Wed, May 29th 2024 02:29
Edited on Fri, Sep 13th 2024 08:54
Das Dämmerlicht des Morgengrauens erfüllt Sigruns Zimmer. Sie schließt nicht die Vorhänge, wenn sie zu Bett geht, denn sie hat gemerkt, dass Enessa eine Frühaufsteherin ist. Sigrun hat nicht das Glück, zu dieser Kategorie Menschen zu gehören, und sie weiß genau, sollte sie die Vorhänge schließen, sie würde erst erwachen, wenn die Strahlen der Sonne den Stoff der Vorhänge zu durchdringen vermögen. Heute geht es noch etwas schwerer mit dem Aufstehen. Es ist am Vortag doch spät geworden. Und wohl war Sigrun nicht betrunken gewesen, aber sie merkt doch die Auswirkungen des Weines, den sie getrunken hat. Sofort kommt ihr T’Sai in den Sinn, diese merkwürdige, anscheinend reichlich notgeile Sklavin, oder was auch immer sie ist. Ihr kommt die Vehemenz in den Sinn, mit welcher sie sich ihr an den Hals geworfen hat. Doch ist es Sigrun nicht schwer gefallen, standhaft zu bleiben. Sie sieht dies als gutes Zeichen - anscheinend gehört sie nicht zu jenen Bewohnern Meras, die sich bei der ersten Gelegenheit jedem hingeben. Freilich, Reland hat ihr befohlen, T’Sai nicht nachzugeben, aber dies ist wohl nicht der einzige Grund gewesen. Wobei Sigrun dieser Befehl nach wie vor eigenartig vorkommt. Was hätte diese Frau denn gewonnen, hätte Sigrun wirklich nachgegeben? Sigrun ist sich sicher, sie hätte sich dadurch doch nicht abhängig gemacht. Und überhaupt, was hätte die Frau denn gewonnen, wenn sie eine einfache Soldatin der Wachkompanie unter ihren Einfluss gebracht hätte? Jedenfalls scheint Reland doch einen gehörigen Respekt vor der Sklavin zu haben. Und nun, gerade dieser Respekt, gerade dieses Verbot, das macht T’Sai noch viel faszinierender, als sie ohnehin schon ist. Sigrun wird auf jeden Fall in das Skriptorium gehen, und zu ihrem in der Tat bestehenden Interesse an Literatur ist nun ein weiterer Punkt hinzugekommen, den zu erforschen sie allzu viel reizt.
Aber es hilft nichts. Enessa hat ihr am Vortag gesagt, es ginge zum Nahkampftraining, und sie hat sie auch vorgewarnt, dass es Sigrun heute wohl viel Schweiß und Schmerzen kosten würde, irgendwann ein vollwertiges Mitglied der Wachkompanie zu sein. Wobei, will Sigrun das überhaupt? Natürlich, sie hat keine Wahl. Soldat oder Foltertod, diese Alternativen hat ihr Reland gegeben. Aber das Angebot, sie anderweitig unterzubringen als in der kämpfenden Truppe, dieses Angebot reizt sie ebenso. Doch zuerst muss Sigrun herausfinden, woran es liegen kann, dass sie Eikens Verhalten am Markt so sehr gestört hat.
Nein, es hilft wirklich nichts. Sigrun reißt sich aus ihren Gedanken, schlüpft in das einfache Trainingsgewand, verlässt ihr Zimmer und geht in die Richtung, in der Enessa das ihrige hat.