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Thu, Feb 15th 2024 08:02   Edited on Fri, Mar 8th 2024 07:06

[12. Tag, Morgens] Exposition II: Die Morgenroutine

Das Übungsschwert klatscht schmerzhaft auf den Oberschenkel der Gräfin, die aber lediglich scharf die Luft einsaugt und lächelt. Der Fechtmeister macht einen Schritt zurück und mustert seine Schülerin verärgert. "Ich gebe zu, dass du in einem Kampf eine ernst zu nehmende Gegnerin wärst, aber dein Temperament ist dir zu sehr im Weg, um eine wahre Meisterin zu werden." Alessandrina nimmt den Trainingshelm ab und reibt sich den Schweiß von der Stirn. "Entschuldigt, Majstro Cantari."   Der Fechtmeister schnauft, dann beendet er die Lektion, indem er den stumpfen Degen senkrecht vor sich hält und leicht mit der Stirn berührt. Alessandrina erwidert den Gruß, dann hängen sie ihre Übungswaffen nebeneinander an den Wandständer.   Majstro Lopoldo Cantari ist etwa sechzig Jahre alt und dient dem Haus Coveani in vierter Generation. Bereits sein Vater hatte als Fechtmeister den Vater der jetzigen Gräfin, Arlondo Coveani, unterrichtet und er selbst war dabei oft genug sein Übungspartner gewesen. Als der Siegelring der Familie wider Erwarten nicht an Arlondo, sondern an Alessandrina weitergegeben wurde, rief die neue Gräfin in noch am Tag ihrer Ernennung zu sich und verkündete, ab jetzt Fechtstunden nehmen zu wollen, so wie es schon immer Tradition gewesen war im Haus Coveani.   Er war zuerst zögerlich gewesen und hatte geglaubt, die junge Gräfin wollte lediglich der Tradition folgen - was ehrenwert genug war - aber sie wollte das Fechten keineswegs nur zum Spaß betreiben. Sie unterwarf sich jeder Trainingseinheit, jeder Übung und noch jeder hundertsten Wiederholung willig und mit vollem Einsatz. Während ihrer Übungsstunden an drei Vormittagen der Woche war sie Alessa, seine Schülerin, und er behandelte sie mit so wenig Nachsicht wie jeden anderen.   Als nächstes nimmt er das Übungsmesser zur Hand und stellt sich in Position. Alessa stellt sich ihm gegenüber auf und lauscht zum vielleicht tausendsten Mal seiner Ansprache.   "Da du den meisten Gegnern körperlich unterlegen sein wirst, musst du sie möglichst fern von dir halten, um ihn durch höhere Schnelligkeit und überlegene Technik zu besiegen. Wenn ein Gegner nah genug an dich herankommt, um ein Messer benutzen zu können, ist es meistens zu spät. Dennoch gibt es Techniken und Methoden, die dir auch in diesem Fall helfen werden, zu überleben und zu entkommen. Oder deinen Gegner bestenfalls zu töten."   Für die Messerübungen setzen sie keine Helme auf, denn Stöße oder Schläge zum Kopf kommen bei dieser Art Kampf praktisch nicht vor. Was vorkommt, sind Schläge und immer wieder ein kurzes Kräftemessen, wenn ein Gegner versucht, die Messerhand des anderen zu blockieren. Regelmäßig trägt Alessa blaue Flecken und Blutergüsse davon, aber Lopoldo lässt sich davon längst nicht mehr abhalten, vollen Einsatz zu zeigen. Ganz am Anfang hatte er sich einmal zurückgehalten und dafür einen schmerzhaften Stoß mit dem Übungsmesser auf seinen Oberarm kassiert. Alessa hatte ihn wütend angefunkelt und gezischt: "Tanzstunden hatte ich schon!"   Lopoldo blockt einen Stoß Alessas ab und stößt mit der Schulter seinerseits nach vorne, genau auf die Brust der Gräfin. Mit einem Keuchen entweicht die Luft aus ihren Lungen, sie fliegt förmlich von den Füßen und landet unsanft auf dem Boden. Der Fechtmeister schüttelt missbilligend den Kopf. "Zu aggressiv, deine Deckung war offen und dein Schwerpunkt falsch!" Die Gräfin hockt auf dem Boden, atmet schwer und nickt. "Entschuldigt, Majstro Cantari."   Er seufzt und salutiert, woraufhin sie sich aufrappelt und des ihm gleichtut. "Machen wir Schluss für heute, sonst muss Enno deine Knochen einzeln zusammensetzen." Die Gräfin lächelt und bedankt sich mit einer kleinen Verbeugung für die Lektion, woraufhin auch der Fechtmeister sich verbeugt. "Gräfin" sagt er lediglich, womit die Stunde sozusagen offiziell beendet und sie wieder in Amt und Würden ist.   Der Übungsraum für ihre Fechtstunden nimmt zwei Drittel eines der oberen Stockwerke im Maljrufrato ein, einem der Türme der Grandafratoj, der Residenz des Hauses Coveani seit dem Zweiten Häuserkrieg. Nach der Übungsstunde betritt die Gräfin den zweiten Raum auf diesem Stock, in den sie sich den Luxus hat einbauen lassen, den sie dreimal die Woche nach den Übungsstunden benötigt. Sie schnallt die hölzerne Übungsplatte ab, die ihren Oberkörper beim Training schützt, und hängt sie auf den entsprechenden Ständer. Dann zieht sie nacheinander das wattierte Wams und die Lederhose aus, die den Rest ihres Körpers nur unvollkommen vor den Schlägen des Fechtmeisters schützen. Auf ihrem Oberschenkel hat sich schon ein roter Striemen gebildet.   Als sie in den hölzernen Zuber steigt und sich langsam in das heiße Wasser sinken lässt, kann sie ein zufriedenes Ächzen nicht unterdrücken. Es war ein Luxus und in gewissem Sinne eine Ungeheuerlichkeit, hier in dieser Höhe einen Wasseranschluss zu installieren. Einer der Gründe dafür, den Jungfernbogen zu bauen - die Brücke, die Maljufrato und Frateto miteinander verbindet - war es gewesen, zwischen den Türmen eine Wasserleitung legen zu lassen. Und nun trotten Tag und Nacht abwechselnd ein Dutzend Esel in einem Nebengebäude am Fuß der Grandafratoj im Kreis, um über ein ausgeklügeltes System von Riemen, Leitungen und Schrauben, Wasser bis in eine Reihe großer Fässer auf der Spitze des Frateto zu pumpen. Damit die Gräfin heiß baden kann.   Alessandrina richtet sich gerade im Wasser auf, um die Läden des hohen Fensters aufzustoßen und frische Luft einzulassen, als die Tür sich öffnet. Enno betritt den Raum mit einem Stapel Handtücher über dem einen und Alessandrinas Kleidung über dem anderen Arm. "Guten Morgen, Gräfin", grüßt er geschäftig und während sie sich noch mit geschlossenen Augen einige Minuten dem Genuss des heißen Bades hingibt, bereitet er alles weitere für den Start in den Tag vor.   Dann reicht er ihr nacheinander Seife, Bürste und was sie sonst noch an Gerätschaften benötigt, um sich wohl und bereit zu fühlen. Dann erhebt sie sich aus der Wanne, trocknet sich ab und legt sich auf die vorbereitete Liege, wo Enno ihre von der Übungsstunde schmerzenden Muskeln noch einmal malträtiert, aber diesmal mit dem Ziel, dass es hinterher besser geht. Danach bleibt sie noch einige Minuten dösend liegen, bevor sie sich immer noch nackt an einen kleinen Schminktisch setzt und sorgfältig ihre Haare bürstet und kämmt.   "Corvu möchte dich vor der Ratssitzung noch kurz allein sprechen." - "Er soll reinkommen." - "Möchtest du dir nicht vorher etwas anziehen?" Alessandrina grinst ihren Leibdiener schelmisch an. "Stell vorher den Paravent auf." Mit einem Achselzucken zieht Enno den Sichtschutz aus dünnen Holzleisten vor den Schminktisch der Gräfin und geht dann den Leiter des Okula holen, der vermutlich tatsächlich die ganze Zeit gewartet hat.   Adama Corvu ist ein unwahrscheinlicher Leiter eines Geheimdienstes. Er ist um die fünfzig, klein , hat einen kugelrunden Bauch und trägt stets einen besorgt-traurigen Gesichtsausdruck zur Schau wie eine Schildkröte, die eines Morgens aufgewacht ist und feststellt, dass ihr über Nacht der Panzer abhanden gekommen ist. Dabei verstecken sich hinter diesen traurigen Augen ein scharfer Verstand und ein geradezu enzyklopädisches Gedächtnis. Er betritt das Ankleidezimmer mit seinem leicht watschelnden Gang und nichts an ihm gibt zu der Vermutung Anlass, dass er es seltsam findet, mit seiner Gräfin durch einen Wandschirm zu reden, während sie gerade nackt ihre Morgentoilette beendet.   "Was gibt es, Adama?", möchte die Gräfin unumwunden wissen. "Es freut mich, dass dein Ausflug in die Tongruben so erfolgreich verlaufen ist." - "Erfolgreich. Durchaus, Gräfin. Auf dem Rückweg habe ich einige Dinge erfahren, die für euch von Interesse sein werden. Einer der wenigen freien Töpfer, die in Pelorn noch nicht für uns tätig sind, hat vor einigen Tagen offenbar das Zeitliche gesegnet: Fram Halbard. Er hatte sich im Imeria-Gebiet niedergelassen, nicht weit von der Metronismauer."   Aus der Stimme der Gräfin klingt keine Missbilligung als sie fragte: "Dein Werk?" - "Durchaus nicht, Gräfin. Ein örtlicher Bandit namens Stafan, der mit seiner Bande die Gegend terrorisiert. Nach allem, was wir über diesen Fram wissen, hat er sich vermutlich geweigert, ihren Forderungen zu entsprechen, also haben sie ihn und höchstwahrscheinlich auch seine Tochter umgebracht." - "Hm. Weniger Konkurrenz für uns und außerdem nicht in unserem Gebiet. Warum interessiert mich das?"   "Weil Ailis Casteres ebenfalls dort gewesen und sich nach Fram und seiner Tochter erkundigt hat." Die Gräfin streckt den Kopf und eine nackte Schulter hinter dem Wandschirm hervor und sieht ihren Geheimdienstleiter an. "Tatsächlich? Was wollte sie von ihm?" - "Das wissen wir nicht. Aufgrund von Frams Charakter ist es unwahrscheinlich, dass er irgendeine Art Verbindungsmann, Strohmann, Helfershelfer oder ähnliches von irgendwem war. Ich gehe im Moment davon aus, dass Majstro Casteres ihn privat kannte."   Die Gräfin zieht sich wieder hinter ihren Sichtschutz zurück und Adama kann hören, dass sie sich jetzt anzieht. "Also weiter keine Verdachtsmomente?"   "Nicht in dieser Richtung. Allerdings... Es sieht so aus, als hätte Majstro Casteres ein besonderes Arrangement mit ihrem zuständigen Luanto getroffen. Einem gewissen Halvar."   "Ein Arrangement?" Die Gräfin kommt hinter dem Wandschirm hervor. Sie trägt Hose und Wams in den Farben des Hauses Coveani, hat ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und gürtet sich gerade mit einem Dolch an ihrer Seite. Am Ringfinger ihrer linken Hand prangt der Siegelring des Hauses.   "Sie schläft mit ihm" erläutert Adama. Die Gräfin zieht ihren Gürtel fest und nickt. "Verstehe. Solche Dinge passieren ständig: Ein hübsches Mädchen macht die Beine breit für einen brutalen Kerl, damit er sie in Ruhe lässt. Aber in dieser speziellen Konstellation wirft es auf beide kein gutes Licht." Sie knöpft ihr Wams zu. "Lass uns nichts überstürzen und die Sache noch eine Weile beobachten. Wir haben es nicht eilig."   Auf dem Weg zum Ratssaal einen Stock tiefer fragt die Gräfin plötzlich: "Ist sie denn hübsch?" - "Außerordentlich", entgegnet Adama Corvu mit ernster Miene und die Gräfin lächelt.