Tue, Feb 14th 2023 04:13
Edited on Tue, Feb 14th 2023 04:27
Verblüfft ist sie, aber jedem Unbekannten der sie in einen Hauseingang ziehen würde, hätte Julia die Augen ausgekratzt. Sie schaut ihn völlig entgeistert an, als er sie fragt ob sie blöde oder lebensmüde wäre. „Was ist los?“: fragt sie verwirrt. Dann reißt sie ungläubig die Augen auf, als er ihr sagt, daß sie gesucht wird. Es dauert einen Augenblick, bis das völlig zu ihr durchdringt, aber da läßt sie der Schwarzhändler auch schon stehen und geht davon. „Aber warum...so warte doch! Warte!“: ruft sie ihm hinterher, aber der Mann ist bereits um eine Ecke verschwunden.
Julia fröstelt und ihr Magen zieht sich zu einem Klumpen zusammen. Sie kennt den Mann und ist sich sicher, daß er nicht gelogen hat oder sich einen makaberen Witz mit ihr erlaubt. Sie hat also ein Problem, ein Riesenproblem! Das Herz klopft ihr bis zum Hals und ihre Gedanken fangen sich panisch an im Kreise zu drehen. „Was mach ich jetzt! Was mach ich nur!“: stöhnt sie leise. Der Impuls einfach los zu laufen wird stärker und stärker. „Das Haar verstecken, das Haar!“: sagt sie zu sich selbst und nestelt das Tuch aus ihrer Jacke. Es ist gar nicht so einfach mit ihren zitternden Händen, aber dann bezwingt sie ihre Panik. Trotzdem dauert es eine Weile bis sie das Tuch so gebunden hat, daß keine Strähne ihres roten Haars hervorlugt. Sie atmet tief durch, schaut links und rechts bevor sie auf die Straße geht und in die gleiche Richtung davon geht, aus der sie gekommen ist.
Sie geht schnell um aus dem Viertel herauszukommen, aber sie zwingt sich nicht zu laufen. Erst als sie auf dem Gebiet des Hauses Sorekan ist, das auf Volpes und befreundete Familien nicht gut zu sprechen ist, wird sie langsamer. Ihr Hemd klebt ihr schweißnaß am Körper. Auf den Stufen eines ausgetrockneten Brunnen setzt sie sich hin um wieder zu Atem zu kommen und um nachzudenken.
Sie mußte sich etwas einfallen lassen, denn zurück in ihr Viertel und die umliegenden Gebiete kann sie nicht. Im Prinzip nirgendwohin wo man sie kannte. Für zwanzig Filis würden manche sogar ihre Kinder verkaufen, das konnte sie nicht riskieren. Aber wohin? Allein der Gedanke sich in einem Viertel durchschlagen zu müssen, in dem sie niemand kennt, nicht zu wissen an welchen Fäden man ziehen muß und die vielen Fallgruben nicht zu kennen, macht sie krank.
Doch immer deutlicher schiebt sich die Frage in den Vordergrund warum Volpes hinter ihr her ist. Sie hat keinen Streit mit ihnen und keine Schulden. Eine Weile grübelt Julia, dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Ihr Ex! Der Schwanz soll ihm abfaulen und ihn die Zwillinge mit Krätze, Cholera und Zahnfäule schlagen! Diese dreckige Stinktier! Sie hatte schon nach ein paar Wochen bei ihm gewußt, daß er einen Teil der Schutzgelder und anderer Gebühren in seine Tasche steckte, statt sie abzuliefern, obwohl sie immer so getan hat als hätte sie nichts bemerkt. Wahrscheinlich hat er seinen Hals damit aus der Schlinge gezogen, ihr die Diebstähle anzuhängen! Bei den Schatten! Wenn es so ist und Julia zweifelt immer weniger daran, dann sitzt sie tief in der Scheiße.
Sie muß von der Bildfläche verschwinden und, was noch schlimmer ist, ihr Haar schneiden! Tränen glitzern auf einmal in ihren Augen. Ihr Haar! Wieviel Zeit, Mühe und Pflege sie darauf verwendet hatte. Sie ist so stolz auf ihre Mähne! Aber sie weiß, daß sie hinter ihrem Rücken von den Schlägern ihres Verflossenen oft nur die rote Schlampe genannt wurde. Ihr langes, rotes Haar ist so etwas wie ihr Markenzeichen und aus diesem Grund muß es weg. Was nützt einem das schönste Haar wenn der Kopf auf dem es wächst, nicht mehr auf den dazugehörigen Schultern sitzt?
Aber wo untertauchen? Auf der anderen Seite des Flußes? Imeriagebiet und damit keine Option. Ihr graut vor den tätowierten Kinderschändern und ihrem Schlangenfürst. Coveani oder das Viertel hinter dem Palast? Beides eine Möglichkeit, aber beides teuer. In jedem unbekannten Viertel wird sie sich auch die kleinste Gefälligkeit kaufen müssen und das geht ins Geld! Für den Moment käme sie über die Runden, aber wie lange? Und was dann? Wieder auf den Strich gehen oder als Köchin für ein Butterbrot jeden Tag buckeln bis zum Umfallen? Ihr ist zum Heulen zumute. Wieder denkt sie an das unglaubliche Angebot dieses Gregorian. Was hatte sie denn zu verlieren? Wenn Volpes sie in die Finger bekäme, dann wäre sie so oder so kaltes Fleisch. Auch wenn sie Glück hätte und ihnen durch die Finger schlüpfte, erwartet sie eine düstere Zukunft. Soviel steht fest. Wenn die Chance auch nur klein ist, so ist das Skriptorium zumindest Eine! Trotz kommt in ihr hoch. Eine kleine Weile ringt sie noch mit sich, dann springt sie auf und hebt den ausgestreckten Zeigefinger in Richtung ihres alten Viertels. „Fickt euch! Fickt euch alle!“; murmelt sie durch die zusammengebissenen Zähne und macht sich auf den Weg.
Etwa eine Stunde später betritt sie zum zweiten Mal an diesem Tag das Skriptorium. „Die Zwillinge mit euch, Lucia!“: grüßt sie die Frau hinter der Theke freundlich. „Sollte die Stelle, die mir heute Morgen angeboten wurde noch unbesetzt sein, sagt bitte Herrn Vellez das ich es mir überlegt habe und ich mit den Vorbedingungen einverstanden bin.“: sagt sei und bemüht sich dabei sehr unbeschwert zu klingen, aber ihr ist alles Andere als zum Lachen.