Kapitel 7 - Wiedersehen
7. Wiedersehen
Der Wind schüttelt die hölzernen Fensterläden meines Büros und lässt sie klappern wie Zähne in der eisigen Kälte. Ich beuge mich über die Karte von Bergstorn, eine alte, abgenutzte Pergamentrolle, an deren Rändern sich das Leder meiner Handschuhe schon tief eingedrückt hat. Ich kenne jeden Weg, jede Hütte, jeden verdammten Zaun dieses Ortes. Doch das ist kein Trost. Es ist ein Käfig.
Die Tür fliegt auf.
„Wachkommandantin Vensar!“
Ich hebe kaum den Blick. Doch als ich das Gesicht des jungen Soldaten sehe, erstarrt meine Hand über der Karte. Die Röte in seinen Wangen kommt nicht von der Kälte. Er ist gerannt.
„Was ist passiert?“ Meine Stimme ist ruhig. Präzise.
Er schnappt nach Luft, schluckt. „Torshavn…“
Mein Magen zieht sich zusammen. Brauchen sie Hilfe mit einem Kriminalfall?
„Das Dorf ist… Es ist weg, Kommandantin. Von einem der Berge aus – wir konnten es sehen. Da ist nichts mehr, nur Ruinen und Rauch.“
Unmöglich.
Ein harter Kloß formt sich in meiner Kehle. Ich richte mich auf, straffe die Schultern. „Schickt vier Männer. Sofort. Sie sollen nach Überlebenden suchen.“
Der Soldat zögert. „Und wenn… wenn es keine gibt?“
Mein Blick durchbohrt ihn.
„Dann bringen sie mir Antworten.“
Er salutiert und verschwindet.
Ich stehe einen Moment lang reglos da, lausche dem Wind, der durch die Balken pfeift. Die Kälte des Raumes schleicht mir unter die Kleidung, doch sie fühlt sich plötzlich belanglos an.
Hilfe wird aus Lin Quei nicht kommen. Wir sind zu weit draußen, zu unwichtig. Wenn Torshavn gefallen ist, dann sind wir allein. Wie kann ein ganzes Dorf so plötzlich vom Erdboden verschwinden? Wenige Banditen könnten hier überhaupt überleben. Und warum würden sie hier sein und nicht auf den Karawanenstraßen?
Ich streiche mir über die Stirn, schließe für einen Moment die Augen. Wie viele Männer kann ich entbehren? Kann ich es mir leisten, Soldaten abzuziehen? Bergstorn ist klein, aber in diesem Land der Verlorenen ist jetzt vielleicht jedes kleine Dorf ein Ziel. Es darf kein Zeichen der Schwäche geben.
Ich öffne die Augen wieder, richte mich auf.
Zuerst Antworten. Dann Pläne.
Das Holz im Kamin knackt leise und wirft tanzende Schatten an die Wände meiner bescheidenen Hütte. Ich rühre gedankenverloren in der dampfenden Brühe des Eintopfs, der auf dem kleinen Herd köchelt. Das Essen ist spärlich – ein paar Wurzeln und getrocknetes Fleisch. Mehr habe ich nicht auf die Schnelle gefunden.
Mein Magen knurrt, doch ich nehme mir Zeit. Vielleicht ist es Gewohnheit. Vielleicht ist es die Stille.
Dann – ein Klopfen an der Tür.
Scharf, bestimmt.
Meine Hand zuckt zu der kurzen Klinge an meinem Gürtel. Für heute habe ich genug von schlechten Nachrichten.
Ich öffne.
Etwas Schweres fällt mir entgegen.
Ein Mann – groß, breit, seine dunkle Haut von Frost und Müdigkeit gezeichnet. Sein Mantel ist eine einzige Schneewehe, und zwischen den geflochtenen Zöpfen hängen Eiskristalle.
Zhan.
„Oh mein Gott, Zhan…“
Meine Stimme bricht fast, bevor ich mich fange. Es sind zwei Jahre her, verdammt. Zwei Jahre ohne ein Zeichen, ohne ein Wort. Und jetzt steht er hier – schwer atmend, erschöpft, kaum auf den Beinen.
Und in seinen Armen –
Ein Junge.
Klein, mager, in zerrissene Stofffetzen gehüllt. Seine Haut ist blass, fast grau unter dem Dreck. Doch das ist nicht das Erste, was mir auffällt.
Seine Augen.
Ein irisierendes Kaleidoskop aus Farben, das selbst im schwachen Kerzenlicht aufleuchtet.
Ich reiße mich los, nehme ihn ohne zu zögern aus Zhans Armen. Das Kind ist kalt. Er zittert. Ich spüre seine Rippen unter den Fingern, als ich ihn auf den Tisch lege.
„Hilf ihm. Bitte.“
Zhans Stimme ist rau, fast ein Befehl – aber nicht an mich. Es ist, als würde er die Welt beschwören. Als wäre er kaum bei sich.
Ich seufze und untersuche den Jungen. „Wie alt ist er?“
Zhan schiebt den Schnee von seinen Schultern, lässt sich gegen den Türrahmen sinken.
„Nicht alt,“ murmelt er. „Vielleicht ein paar Tage. Vielleicht ein paar Wochen.“
Ich werfe ihm einen Blick zu. „Du weißt es nicht?“
Er sieht mich an, müde, verschlossen. „Nein.“
Ein schwerer Kloß setzt sich in meiner Brust. Was ist hier los?
Ich greife nach einem alten Tonkrug, schütte warmes Wasser in eine Holzschale und beginne, eine Art Milchpaste zu rühren – aus dem Wenigen, das ich habe. Es ist ein harter Winter und die Rationen sind bescheiden.
Als ich mich wieder über den Jungen beuge, fällt mir etwas auf. Sein Körper ist äußerlich kalt, seine Lippen blass – aber unter der Haut…
Wärme.
Kein gewöhnliches Fieber. Es ist anders. Eine gleichmäßige, fast pulsierende Hitze, die nicht von der Oberfläche kommt, sondern tief aus seinem Inneren.
Ich runzle die Stirn, lege meine Hand vorsichtig auf seine Brust.
Sein Herzschlag ist da. Ruhig, kräftiger als erwartet.
Ich schlucke.
„Zhan…“ Ich richte mich auf, mein Blick noch immer auf den Jungen gerichtet.
„Ich weiß.“
Seine Stimme ist leise. Fast tonlos.
„Gib ihm was zu essen.“
Ich nicke.
Der Junge öffnet langsam den Mund, nimmt vorsichtig den ersten Bissen.
Zhan sieht zu, seine lilanen Augen undurchdringlich.
Ich weiß nicht, was ich fühlen soll.
Aber ich weiß, dass sich in dieser Nacht etwas verändert.
Und dass ich verdammt sein würde, wenn ich ihn jetzt zurück in die Kälte schicke.
Ich beobachte, wie der Junge langsam, zögernd schluckt. Die Wärme in ihm – sie ist da, konstant, aber nicht hektisch. Kein Zittern, keine Hitzeausbrüche. Kein Fieber, wie ich es kenne.
Meine Gedanken wandern. Fünf Jahre.
So lange ist Zhan in Bergstorn gewesen, bevor er verschwand.
Er ist kein Einheimischer, das ist klar. Aber damals – damals hat er seine Rolle gespielt. Der Jäger, der in den Wäldern lebt.
Jeder weiß, dass er und diese Frau – Senva, hieß sie so? – jenseits der Dorfgrenze lebten. Und doch war er hier gewesen. Hat im Dorf eingekauft, mal einem alten Mann geholfen, als dessen Hütte undicht wurde.
Und dann ist er gegangen.
Kein Wort. Keine Spur.
Ich sehe auf das Kind, das an einem weiteren Löffel schluckt, dann auf Zhan.
Was zum Teufel hast du die letzten zwei Jahre gemacht?
Ich lehne mich gegen die raue Holzwand meiner Hütte, verschränke die Arme und mustere Zhan im flackernden Licht. Schnee schmilzt langsam von seinen Schultern und sammelt sich in dunklen Flecken auf dem Boden. Die langen geflochtenen Zöpfe hängen feucht von der Kälte, die silbernen Ringe darin rascheln leise bei jeder Bewegung.
Es sind zwei Jahre her.
Und jetzt steht er hier. Mit einem Kind auf dem Arm.
Etwas daran fühlt sich… seltsam an.
Aber ich kann später misstrauisch sein.
Heute Nacht ist er ein ausgezehrter Mann mit einem Kind, das nicht sterben soll.
Das ist alles, was zählt.
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