Kapitel 44 - Reflektionen
44. Reflektionen
Ich war allein.
Endlich.
Ein paar Räume weiter das Gewicht aus Füßen, Stimmen, Atem – aber hier: nur Staub. Und ich.
Ich hatte die Karten ausgebreitet wie ein Orakel, das nicht prophezeien, sondern erinnern sollte.
Das Pik Ass.
Der Herzbube.
Cyrus. Sylvana.
Faktoren, Variablen.
Unverlässliche Informationen in einer Gleichung, die sich weigerte, aufgegangen zu sein.
Ringsherum: der Rest.
Karo, Kreuz, Herz, alles aufgereiht in einem Muster, das ich kannte.
Ein Kreis, ein Tanz, ein Spiel.
Ich war nie besonders gut in Mathematik.
Aber ich wusste, wann ein System kippt.
Die Karte von Soranica lag daneben.
Gefaltet, eingerissen an den Kanten, doch noch lesbar.
Hammerfall. Lotarm. Milthrandir.
Und die Hauslosen – kein offizieller Distrikt, aber jeder wusste, dass es der wahre Kern war.
Eine rote Linie zog sich wie eine Wunde durch das Papier.
Gerade. Unmissverständlich.
Ein Ziel:
Lady Melodys Anwesen.
Ich seufzte.
Leise.
Nicht wegen des Plans – sondern wegen dem, was er bedeuten könnte.
Meine Schritte führten mich weiter,
die Finger strichen über vier staubige Rollen,
von runenverzierten Siegeln verschlossen.
Magie. Mächtig.
Einmalig nutzbar.
Nicht billig.
Nicht legal.
Nicht leicht zu bekommen.
Aber ich war der Sohn von Winston Scott.
Ein Vorzug, der selten angenehm, aber nie nutzlos war.
Als ich an ihn dachte, spannten sich meine Fäuste wie von selbst.
Nicht vor Wut.
Nicht vor Angst.
Vor… dem Wissen, dass seine Silhouette selbst dann in mir stand, wenn ich glaubte, aufrecht zu gehen.
Ich seufzte wieder, lehnte mich gegen das alte Mobiliar.
Ein zerbrochener Spiegel vor mir.
Er zeigte mich –
nicht wie ich war,
sondern wie man mich sehen sollte:
zersplittert.
Unwirklich.
Ein groteskes Lächeln auf hundert Splittern.
Ich ließ eine Münze durch meine Finger tanzen.
Alt, glatt, mein Gewicht aus Kindheit.
Sie kreiste, gehorchte – dann verschwand sie in der Tasche, wo sie hingehörte.
Ich zog den Taschenspiegel hervor.
Gravierte Blumen, feine Ranken, ein Hauch von Frühling auf kaltem Metall.
Er hatte ihr gehört.
Meiner Mutter.
Es war Unsinn.
Rational betrachtet.
Aber wenn ich ihn öffnete – nur kurz –
roch ich fast wieder ihr Parfüm.
Spürte fast, wie ihre Hand meine Schulter berührte,
sanft, nicht um zu lenken, sondern um zu sehen.
Und wenn ich um die nächste Ecke lief…
dann stand sie da.
Mit diesen Augen.
Leuchtendes Lila –
die einzigen außer meinen.
Ich blickte in den Spiegel.
Und diesmal sah ich nur mich.
Kein Duft.
Kein Trug.
Nur… Endgültigkeit.
Es gab kein Zurück.
Nicht für mich.
Nicht für das, was ich jetzt getan hatte.
Was ich tun würde.
Ich kehrte zum Tisch zurück.
Die Karten warteten.
Geduldig.
Unbestechlich.
Ich blickte auf das Pik Ass.
Auf den Herzbuben.
Und auf mich.
Das Tanz wird bald beginnen.
Aber diesmal…
war der Einsatz alles.
Ich beginne, mich anzulegen.
Gelenk für Gelenk, Lederschicht für Lederschicht.
Die Riemen schmiegen sich an wie alte Bekannte.
Leichtes Metall über den Rippen, geschützt genug, um zu überleben,
aber nicht zu viel, um das Tanzen zu verlernen.
Ich muss mich bewegen können.
Präzise. Schnell.
Wie ein Gedanke, der sich wehrt, gedacht zu werden.
Als ich die Armschiene festziehe, klappert das Fenster.
Ich drehe mich um.
Scharf. Bereit.
Doch was ich sehe, lässt mich blinzeln.
„Gott, Mita“, atme ich.
Sie klettert gerade etwas unbeholfen in das Zimmer.
Ein Bein schon durch, dann das andere.
Der Rock zerrt, der Atem ist kurz.
„Was macht ihr hier? Ich hatte euch die ganze Woche freigegeben.“
Meine Stimme schneidet.
Nicht aus Zorn. Aus Fürsorge, die sich verkleidet.
„Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?“
„Herr Mareau.“
Sie verneigt sich, immer noch atmend, als hätte sie gegen den Wind gekämpft.
„Ich habe eine Information von höchster Dringlichkeit.“
Sie senkt den Kopf.
Und ich werde still.
Tritt näher.
„Was ist passiert?“
Meine Stimme bleibt ruhig.
Aber jeder Muskel in mir fragt schon zu viel.
„Wie ihr wisst, arbeitete ich im Anwesen von Herrn Scott,
bis ihr mich aus seinen Diensten beordertet.
Doch ich habe… immer noch Freunde dort.“
Mein Körper spannt sich.
Jeder Muskel eine Waffe.
„Wird er sich in den Ball einmischen?“
Scharf. Klar.
Kein Platz für Umwege.
„Nein.“
Schnelle Antwort.
Klare Augen.
„Aber er ist Melodys Auftraggeber.
Wie ihr vermutet hattet.“
Ich nicke nur.
Zu erwartend.
Dafür wäre sie nicht gekommen.
„Er hat Melody allerdings mit einer weiteren Sache betraut.“
Ihr Blick verändert sich.
Ernst. Weich und scharf zugleich.
Ein Schwert, das nicht geschliffen, sondern getragen wurde.
„Sie ist die,
die eure Mutter versteckt.“
Die Worte treffen nicht wie Dolche.
Sie treffen wie Granit.
Kein Schnitt.
Ein Fall.
Ich presse den Atem weg.
„Wo?“
Kein Schmuck mehr in der Sprache.
Nur Absicht.
„Nicht weit von ihrem Anwesen.
Sie planen, sie zu bewegen, wenn die Tüftler ihre Präsentation halten.“
Ein Kopfnicken. Bitter.
Nicht von ihr. Von mir.
Ich gehe zum Tisch.
Blicke auf die Karten.
Zwei Figuren. Ein Ziel. Ein Preis.
Dann:
Meine Faust.
Der Tisch bebt.
Die Karten fliegen.
Und wie alles in meinem Leben –
fallen sie.
Ich schweige.
Dann sehe ich zu ihr.
„Wenn das wahr ist…
liegt sie außerhalb meiner Reichweite.“
Ich atme.
Und meine Worte sind nichts als Wahrheit.
„Aber ich danke euch, Mita.
Ihr habt all das riskiert.“
Ihre Stimme zittert, als sie es sagt:
„Herr Mareau…
Ihr müsst das nicht tun.“
Ich sehe es.
In ihren Augen.
Die Angst.
Nicht vor dem Krieg.
Vor mir.
„Der Ball, die Tüftler… ist das nicht alles ein abgekartetes Spiel eures Vaters?
Bitte…
ignoriert seine Herausforderung.
Rettet eure Mutter.
Und verschwindet.
Lasst diese verdammte Stadt hinter euch.“
Eine Träne rinnt.
Wie eine Grenze.
Wie eine Bitte, die zu spät kommt.
Ich lächle.
Sanft.
Ehrlich.
Wie man nur lächelt, wenn man sich bereits entschieden hat.
Ich nehme eine Robe vom Kleiderständer,
schlage sie sorgfältig um,
als wäre es ein Geschenk.
Dann trete ich zu ihr,
küsse ihre Stirn.
„Danke.
Aber ich gehe nicht…
wegen ihm.“
Ich halte inne.
Atme.
„Ich rette meine Freunde.
Weil ich sie verkauft habe.“
Die Worte schmecken nach Blei.
Aber ich sage sie.
Weil sie gesagt werden müssen.
Ich nehme ihren Arm.
Sanft.
Wie ein Bruder.
Oder ein Tod, der höflich ist.
„Nehmt bitte die Treppen, Mita.
Nicht, dass ihr euch weh tut.“
Ein Lächeln. Ehrlich.
Bitter.
Ich wische ihre Träne weg.
Ziehe ihr die Kapuze auf.
Und schiebe sie zur Tür.
Sie zögert.
„Herr Mareau… Lavender…“
Aber die Tür schließt sich.
Ich spüre noch ihre Hand am Holz.
Ein letzter Kontakt.
Wie ein Abschied, der nicht ausgesprochen werden will.
Dann ihre Schritte.
Leise.
Schnell.
Entfernt.
Ich bleibe stehen.
Und weiß:
Es gibt kein Zurück.
Nicht mehr.
Ich gehe,
weil ich muss.
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