Kapitel 40 - Verlieren und Finden

Ich stehe auf der Schwelle.

Nicht zwischen zwei Türen. Nicht zwischen Leben und Tod.

Sondern in etwas, das kein Raum ist, kein Ort, kein Zustand –

nur eine Entscheidung, die sich wie Ewigkeit anfühlt.

Vor mir: Wasser.

Aber nicht von dieser Welt.

Es ist glatt, makellos, so still, dass selbst der Gedanke an Bewegung wie ein Sakrileg wirkt. Keine Welle, kein Glitzern, kein Widerstand. Nur Fläche – so weit, dass der Horizont sich selbst vergisst.

Ein Spiegel ohne Zweck.

Ein Strom, der nicht fließt.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin.

Oder ob ich je ankam.

Ich trete hinein.

Nicht aus Mut. Nicht aus Willen.

Weil es keine andere Richtung mehr gibt.

Das Wasser nimmt mich nicht auf – es duldet mich.

Jeder Schritt klingt nach Schweigen.

Doch ich sinke nicht.

Die Luft ist schwer von Abwesenheit.

Keine Stimmen, keine Gedanken, nicht einmal der Widerhall meiner selbst.

Nur… Bewegung.

Schritte, irgendwo um mich.

Menschen? Seelen? Schatten?

Sie gehen wie ich – vorwärts, ohne Ziel, geführt von einem Ruf, den niemand ausspricht.

Manche verblassen am Rand meines Blicks.

Andere verschmelzen mit der Weite.

Aber sie alle scheinen Teil von etwas Größerem.

Etwas, das versteht, wohin wir gehen, auch wenn wir es nicht tun.

Neben mir…

Ein Umriss.

Klein. Stämmig. Breit wie ein Fels in einer Welt aus Nebel.

Ein Zwerg.

Nicht irgendeiner.

Er geht aufrecht, sein Blick nach vorn gerichtet, wie ein Mann, der nie wieder zurücksehen will.

Doch es ist nicht seine Gestalt, die mich innehalten lässt.

Es ist die kleine Hand, die er hält.

Ein Mädchen.

Kaum halb so groß wie er.

Zarte Züge, Haare zu Zöpfen geflochten, die bei jedem Schritt tanzen.

Sie lacht – laut, hell, wie ein Sonnenstrahl in einer Welt aus gedämpftem Grau.

Dann löst sie sich aus seiner Hand.

Springt nach vorn.

Nur ein paar Schritte – aber in dieser Leere scheint es wie ein ganzes Leben.

Sie dreht sich um.

Ihr Blick sucht ihn.

Er findet ihn.

Und dann –

findet er mich.

Ihre Augen treffen meine.

Und etwas in mir zerreißt.

Kein Schmerz. Kein Verlust.

Etwas Ursprünglicheres.

Etwas, das durch Worte nicht hindurchpasst.

„Seldar…?“

Der Name verlässt meine Lippen, bevor ich ihn denken kann.

Wie ein Gebet, das längst auswendig gelernt war, bevor Götter erfunden wurden.

Sie lächelt.

Noch immer.

Noch heller.

Und ich…

ich begreife.

Ich wende den Blick.

Langsam.

Zu ihm.

Der Zwerg steht nun seitlich zu mir.

Seine Schultern breiter, stolz.

Seine Haltung – schwer wie ein Versprechen, das zu spät eingelöst wurde.

Er sieht mich.

Ein Augenblick, so still, dass die Ewigkeit daneben klein wirkt.

Er blinzelt nicht.

Er atmet nicht.

Aber seine Augen sagen alles.

Und dann flüstere ich.

Zögernd.

Suchend.

„Sigmund…?“

Der Name sinkt zwischen uns wie ein Stein in dieses wasserlose Wasser.

Und verschwindet nicht.

Er bleibt.

Wie Schuld.

Die Ebene rührt sich nicht.

Aber ich tue es.

Ich gehe auf sie zu.

Nicht schneller. Nicht langsamer.

Ein Schritt.

Noch einer.

Seldar wartet.

Sigmund sieht mich.

Und irgendwo in dieser Leere beginnt etwas zu beben.

Keine Macht.

Kein Sturm.

Nur Erinnerung.

Und sie trägt deinen Namen.

„Junger Wächter…“

Die Stimme trifft mich wie ein Windstoß in einer Welt ohne Luft.

Kein Laut – nur Bedeutung, die sich durch jede Faser meiner Existenz gräbt.

Die Wasserfläche bebt nicht. Die Seelen um mich gehen weiter.

Nur ich… höre. Fühle.

„Mein Hüter der Tür…“

Ein Zittern läuft durch meine Essenz, als hätte mein Name nie mir gehört, sondern immer schon ihr – der Stimme, die aus dem Grund des Ursprungs spricht.

Ich drehe mich.

Doch da ist nichts. Kein Licht, kein Schatten.

Nur ein Eindruck – warm. Unendlich.

Wie ein Sonnenaufgang, der von innen kommt.

„Salmatyr?“

Der Name entweicht mir, nicht gefragt, sondern gefühlt.

Und das Licht antwortet nicht mit Worten.

Es lächelt.

Unsichtbar. Allumfassend.

Ein Hauch von Nähe, zart wie der Atem einer Erinnerung.

„Aus deinem Willen hast du jeden, den du erreichen konntest, begleitet, junger Korash.“

Die Stimme trägt mein Herz mit sich, wie ein Blatt im Wind.

„Doch jetzt stehst du an einem Scheidepfad.“

Ich schlucke.

Meine Finger zittern.

Nicht vor Angst.

Vor… Erkenntnis.

„Ist das hier… meine Prüfung?“

Das Licht flackert – nicht unsicher, sondern… sanft.

Zustimmung.

Aber mit einem Hauch von Bedauern, der mehr wiegt als jedes Wort.

Ich balle meine Hände.

Fühle den Impuls zu knien – nicht aus Ehrfurcht, sondern aus Enttäuschung.

„Schicke mich zurück.“

Meine Stimme ist klar.

Ein Schnitt durch den Nebel.

„Viele Leute brauchen noch meine Hilfe.“

Doch das Licht zögert.

Ein Puls. Ein Wehen.

Nicht Nein – aber auch nicht Ja.

„Hüter…“

Es ist wie ein Klagelied, diese Stimme.

Schön. Schmerzhaft. Wahr.

„Du weißt besser als jeder: Die Tür öffnet sich nur mit etwas, das du brauchst.“

Ein dunkles Pochen breitet sich in mir aus – als hätte mein eigenes Herz etwas vergessen.

„Deine Wünsche für die Welt führten dich zu dieser Prüfung.“

Ein Zittern läuft durch das Wasser unter mir – nicht physisch, sondern seelisch.

„Jetzt musst du finden… oder gehen.

Wähle weise.“

Ich schließe die Augen.

Ein Bild erscheint.

Verletzte Körper. Blutige Tücher. Hände, die ich hielt.

Namen, die ich kannte.

Gesichter, die ich vergaß, um weitermachen zu können.

Ich wollte helfen. Ich habe geholfen.

Doch jetzt…

zieht sich etwas in mir zusammen.

Ein Gedanke.

Ein Zweifel.

„Willst du mir sagen…“

Meine Stimme bricht fast.

Ich beiße die Zähne zusammen.

„…dass helfen nicht genug ist?“

Ein Schweigen breitet sich aus.

Nicht leer.

Nicht kalt.

Sondern voller Spiegel.

Und ich spüre die Wahrheit.

Ich bin gefallen – nicht, weil ich versagt habe.

Sondern weil ich glaubte, Pflicht sei Ziel.

Aber Hilfe ist kein Ziel.

Es ist ein Weg.

Und Wege verlangen… Herz.

Nicht nur für andere.

Auch für mich.

„Dann… was brauche ich?“

flüstere ich.

Und in mir regt sich eine Erinnerung –

kein Bild, kein Name.

Nur ein Gefühl.

Ein Kind, das meine Hand hielt,

nicht weil ich Arzt war,

sondern weil ich da war.

Nicht aus Pflicht.

Aus Liebe.

Das Licht antwortet nicht.

Es braucht nicht.

Denn der Pfad liegt nicht vor mir.

Sondern in mir.

Und ich beginne zu gehen.

Erinnerungen fließen durch mich, während ich voranschreite.

Keine Gedanken –

nur Bilder.

Warm, schwer, leuchtend.

Meine Familie in Onderon.

Das Lachen meines Vaters.

Die müden, aber gütigen Augen meiner Mutter.

Meine Freunde, wie wir am alten Hügel Geschichten austauschten, als wäre die Welt ewig.

Alles, was war vor dem Erbschaftskrieg.

Bevor das Feuer kam.

Bevor ich es zurückließ,

um in Soranica neu zu beginnen.

Bevor ich mich verlor –

in Pflicht, in Flucht, in Heilung.

Plötzlich fühle ich etwas.

Etwas Altes.

Sehnsucht.

Ich könnte heimkehren.

Dorthin, wo Stimmen mich beim Namen riefen.

Wo keine Last in den Händen lag,

nur Brot, Werkzeuge, und Träume.

Ich bleibe stehen.

Der Spiegel der Ebene kräuselt sich nicht.

Kein Wind. Kein Geräusch. Nur ich –

und der Gedanke an Frieden.

Dann spüre ich das Ziehen.

Sanft.

Klar.

Ein Impuls durch meine Fingerspitzen.

Ich blicke herab.

Seldar.

Sie hält meine Hand.

Fest.

Vertraut.

Ihr Lächeln ist nicht das eines Geistes.

Es ist das eines Kindes, das vertraut.

Tief.

Vollständig.

Sie zieht mich mit sich.

Wartet.

Ich gehe.

Geführt.

Und als meine Sicht sich weitet,

sehe ich sie.

Alle.

Alle, die mich je begleitet haben.

Verlorene.

Gerettete.

Gefallene.

Sie stehen am Rand des Nichts, wie eine Linie aus Licht.

Ich begreife.

Sie haben mich durch eine Kurve geführt.

Zurück zum Anfang.

Ein Hauch Trauer flackert durch die Ebene.

Abschied –

für jetzt.

Dann –

ein Griff auf meiner Schulter.

Stark.

Wärmend.

Ich blicke zur Seite.

Sigmund.

Endlich klar.

Nicht der blutüberströmte Krieger,

nicht der fluchende Vater,

nicht der sterbende Held.

Sondern der Mann, der war,

bevor das Leben ihn gezeichnet hat.

Stolz.

Friedvoll.

Geborgen.

Ich will sprechen.

Salmatyr kommt mir zuvor.

„Ich verstehe.“

Die Stimme hallt über die Ebene.

„Auch wenn du den Grund nicht finden kannst,

können sie ihn sehen.“

Die Seelen flackern.

Nicht wie Feuer.

Wie Wahrheit.

Dann zieht Sigmund mich näher.

Seine Stirn berührt fast meine.

Sein Atem ist ruhig.

Seine Worte leise –

„So nötig wir es brauchen, um den Stein zu formen. Du bist mehr als ein Werkzeug, Junge.

Finde deinen Grund.“

Dann stößt er mich.

Nicht grob.

Nicht hart.

Nur entschieden.

Ich falle.

Rückwärts.

In das Nichts hinter der Ebene –

in die Tür.

Sie zersplittert wie Glas.

Ein Laut –

wie Wahrheit,

die zerbricht,

um neu zu werden.

Und dann –

Rückkehr.

Luft.

Kalt.

Eindringlich.

Meine Lungen füllen sich.

Wie bei einer Geburt.

Wie bei einem Schwur.

Ich röchle.

Meine Wunden, die sich schließen. Licht.

Aber diesmal ist es fast, als würde es bleiben.

Als wäre etwas davon jetzt Teil von mir.

Ich keuche.

Aber ich bin da.

Ich ziehe mich an der Wand hoch.

Meine Hände zittern.

Nicht vor Schwäche.

Vor Bedeutung.

Dann sehe ich den Tisch.

Seldar liegt dort.

Still.

Die Welt um sie herum ist dunkel,

voll Asche,

voll Schweigen.

Aber ich höre etwas.

In mir.

Ein Flüstern.

Ein Lied.

Ich trete näher.

Sehe sie an.

Ihre Stirn. Ihre Wimpern.

So jung.

So stark.

Ich lege meine Hand auf ihre.

Und flüstere:

„Wie kann ich euch jemals danken?“

Es ist kein Gebet.

Kein Schwur.

Dann…

regt sich etwas in mir.

Ein Entschluss.

Ein Pfeiler aus Stahl,

der sich durch meine Brust schiebt.

Ich muss sie finden.

Meine Antwort.

Ich muss wie Wurzel von dem finden, was all das hier begonnen hat.

Der Weg nach Hammerfall.

Es gibt kein Umkehren mehr.

Nur ein Pfad vor und die Antwort dahinter.


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