Kapitel 4 - Regenbogen

4. Regenbogen

Der Sturm ist wie ein brüllendes Tier, das droht, die Welt um mich herum zu zerfetzen. Der Wind reißt an meinem Mantel, an meinen Haaren, und der Schnee unter meinen Stiefeln rutscht ab, während ich mich am kalten Stein des Hangs festklammere. Unten im Tal spuckt das Herrenhaus Feuer und Licht. Ein ominöser Tornado wütet direkt um das Perimeter, und gewaltige Blitze schießen in die heulenden Seiten des Gebirges.

Mein Atem geht schwer, meine Finger klammern sich an den Felsen, bis die Knöchel weiß werden. Ein Blitz schlägt nur ein paar Meter entfernt von mir ein, und ich ächze, als vor mir eine weitere Lawine ins Rollen kommt. Diese wird das Dorf erreichen. Meine Finger graben sich in den Stein, als wäre ich verloren in einem Unwetter auf hoher See.

Fünf Minuten vergehen, vielleicht zehn, als der Wind langsam nachgibt.

Als die Geräusche schließlich verstummen, fällt die Welt in eine ominöse, leere Stille. Der Sturm ist vorbei, auch wenn die dunklen Wolken noch bedrohlich über uns hängen. Ich löse meinen Griff vom Stein und mache mich an den Abstieg. Meine Schritte sind schwer, der Schnee nass und schlüpfrig, aber ich renne so schnell, wie meine Beine mich tragen.

Unten in den Trümmern angekommen, durchsuche ich die Überreste von dem, was einmal das Dorf gewesen ist. Die Luft ist erfüllt von verbranntem Holz und Metall, der Schnee fast vollständig geschmolzen, Dampf steigt zwischen den Ruinen auf, als ich auf die Ruine des Herrenhauses im Stadtzentrum zulaufe.

Dann sehe ich sie.

Die Spieluhr liegt halb unter einer zersplitterten Holzplatte begraben. Sie ist rußgeschwärzt, doch als ich sie aufhebe, fühlt sie sich kühl an, fast unangetastet vom Chaos.

Ich knie mich hin, das Gewicht der Uhr in meiner Hand. Meine Finger fahren langsam über die Gravuren, spüren die vertrauten Muster. Die Melodie liegt in meinem Kopf, jede Note, jeder Rhythmus, so vertraut wie mein eigener Herzschlag.

„Lenora,“ flüstere ich, kaum mehr als ein Hauch.

Ein Teil von mir will dort bleiben, die Uhr in der Hand, sich in der Erinnerung verlieren. Doch ein anderes Gefühl zieht an mir, ein unerklärlicher Drang. Ich richte mich langsam auf, die Spieluhr noch immer in der Hand, und gehe weiter.

Ein Windstoß trifft mich und richtet meinen Blick in Richtung des Herrenhauses. Meine Schritte führen mich durch die zerschmetterten Balken und verbrannten Mauerreste. Ein zerschmetterter Treppenabsatz liegt vor mir. Vorsichtig erklimme ich ihn und laufe den Gang herunter.

Dann sehe ich ihn.

Er liegt in der Ruine seines Zuhauses, halb begraben von Holz und Metall, sein kleiner Körper so dünn, dass ich erst denke, er sei tot. Doch dann sehe ich, wie sich seine Brust hebt und senkt, kaum merklich. Seine Glieder sind zu lang, sein Gesicht blass wie Asche. Aber es sind seine Augen, die mich treffen – ein leuchtendes Kaleidoskop aus Farben, das selbst in der Dunkelheit lebt.

Ich stehe über ihm, die Spieluhr noch immer in meiner Hand.

Ich sollte das beenden.

Doch dieser Gedanke verfließt plötzlich wie Farbe in einem Fluss. Ich knie mich nieder, lege die Spieluhr in seine kleine, zitternde Hand. Seine Finger schließen sich nicht darum, sie sind zu schwach. Aber ich halte sie, meine Hand groß über seiner.

Ich atme tief ein, drehe den Mechanismus und lasse die Melodie erklingen.

Die Töne sind leise, brüchig, aber sie durchdringen die Stille wie ein Sonnenstrahl den Nebel. Sein Atem wird ruhiger, sein Blick sucht meinen, und zum ersten Mal scheint sich die Leere in seinen Augen zu füllen.

Ich weiß nicht, warum ich es tue.

Der Sturm draußen lässt langsam nach, die Wolken scheinen sich zu lichten. Es ist, als würde die Welt selbst aufatmen.

Ich hebe ihn hoch, seine zitternde Hand jetzt um die Spieluhr geschlossen. Sein Körper ist federleicht, und ich spüre, wie zerbrechlich er ist.

„Wir werden lernen müssen, auf uns aufzupassen,“ murmele ich leise, mehr zu mir selbst als zu ihm.

Ich ziehe meinen Mantel fester um ihn, schirme ihn ab vor der Kälte, und beginne, über die Trümmer zu klettern. Der Himmel bricht auf, und goldenes Licht fällt auf das zerstörte Tal.

Ich blicke auf den Jungen in meinen Armen, seine prismatischen Augen halb geschlossen, doch sie suchen noch immer meinen Blick.

„Du hast nicht mal einen Namen, oder?“ flüstere ich.

Ich blicke herauf, auf den Regenbogen, der durch die dunklen Wolken gebrochen ist.

„Ich denke, mir fällt schon was Gutes ein,“ sage ich schließlich, die Worte leise, fast sanft.

Ich richte meinen Blick nach Westen, die Spieluhr in seinen Händen noch immer leise spielend. Es gibt keine Rückkehr mehr, nur diesen Weg vor uns.


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