Kapitel 37 - Flüstern im Wind

37. Flüstern im Wind

Ich bewege mich wie ein Schatten unter dem Zug der Todgeweihten.

Um mich herum fliehen sie – Frauen in zerfetzten Seidenkleidern, mit Asche in den Haaren und goldenen Broschen, die sich nicht mehr von Blut unterscheiden lassen. Kinder klammern sich an die Röcke ihrer Mütter, die kaum noch wissen, ob sie stolpern oder laufen. Männer – wenn man sie noch so nennen kann – tragen Koffer, mehr Schmuck als Mut darin. Sie riechen nach Angst, nach Parfüm und niedergehender Welt.

Ich atme ein. Langsam. Tief.

Die Robe um meine Schultern ist schwer von Staub, aber unauffällig. Einer von vielen. Ein weiterer Niemand in einem Strom von Menschen, die einst glaubten, unantastbar zu sein. Jetzt sehen sie die Wahrheit brennen – in Form von rauchenden Dächern und dem Marsch eiserner Stiefel.

Der Turm, in den wir fliehen, liegt wie ein Stachel zwischen den Wurzeln der Stadtmauer. Ein Bollwerk, errichtet nicht für Schutz, sondern für Kontrolle. Hierher flieht, wer Rang hat – oder zumindest einmal hatte.

Ich erreiche den Eingang, lasse mir Zeit, beobachte die Wachen, die längst nicht mehr wissen, ob sie Soldaten oder Türhüter sind. Niemand hält mich auf. Ich bin kein Ziel. Nur ein Gesicht unter vielen.

Im Inneren wird es stiller. Nur das Zittern bleibt – in Stimmen, in Händen, in Augen. Ich sehe eine Frau, die früher vielleicht drei Dienstmädchen für ihren Tee hatte, wie sie einem Kind die Füße wäscht, schwarz vom Ruß. Ich sehe einen Lord, der seinen Mantel einem verwundeten Boten überwirft, weil er zum ersten Mal begreift, was Schmerz bedeutet.

Und ich sehe das Feuer in der Ferne.

Hammerfall brennt. Nicht nur die Gebäude. Der ganze Distrikt steht in Flammen – eine Ideologie, ein Anspruch, ein System. Die Schmiede kamen wie Sturm und Zorn. Der Groll von Generationen in Hämmern verdichtet.

Ich bleibe stehen am Fenster. Die Steine unter meinen Füßen sind kühl. Mein Blick verliert sich in der Glut.

Sie glauben, sie seien sicher hier. In Wahrheit ist das nur ein Aufschub.

Denn das Feuer kennt keine Mauern. Und ich weiß: Die wahre Hitze hat noch nicht einmal begonnen.

Ich atme durch. Der Stein unter mir ist alt, fest – wie alles hier. Zu alt, um noch zu zittern. Ich lasse mich auf der Kante nieder, dort wo der Turm die Stadt überblickt, und wo man den Sturm schmecken kann, noch bevor er wirklich angekommen ist.

Der Rauch zeichnet Schleifen in den Himmel. Wie ein Tanz, wild und ziellos – aber nicht ohne Rhythmus.

Ich ziehe die Lyre aus dem alten Tuch, in das ich sie geschlagen habe. Ihre Saiten glänzen matt im Feuerschein. Ihre Oberfläche ist rissig, doch meine Finger kennen sie. Und sie kennt mich.

Ein Ton. Noch ein zweiter.

Die Kinder, die sich in die Schatten der Mauern gedrückt hatten, schauen auf. Ihre Gesichter sind rußverklebt, Augen groß wie Münzen, wie Sterne in einer Nacht ohne Hoffnung. Kein Lächeln. Aber der Blick – dieser Blick – er sucht.

Also spiele ich.

Nicht laut. Nicht triumphierend.

Ich spiele wie jemand, der weiß, dass der Lärm draußen stärker ist. Aber dass es Orte gibt, an denen die Stille lauter klingen darf.

„Rauch tanzt mit Schwefel über feuriges Parkett…“

Ein paar Köpfe heben sich. Selbst die Erwachsenen horchen auf. Einige, die eben noch in ihre Schultern gesunken waren, richten sich auf – als würde das Lied sie tragen, wenn auch nur für einen Atemzug.

„Wünsche für die Zukunft eingebrannt in Stahl und Dreck…“

Ein Kind tritt näher. Barfuß, mit zitternden Knien, aber wie von etwas geführt. Eine Mutter zieht es zurück, zögert – dann lässt sie los.

„Was ist dein Preis, oh teurer Ritter, denn ich zahl den Sold…“

Ein älterer Adliger bleibt stehen. Kein Blick für mich – nur für die Worte. Für das, was sie in ihm öffnen. Die Erinnerung an etwas, das er längst vergessen wollte: Bedeutung.

„Ein Hammerschlag, sie solln erzittern –

Flut aus Blut und Gold.“

Meine Finger verharren nicht. Die Melodie gleitet weiter – tiefer nun, wie ein Strom, der unter die Erde sickert, dort wo die Wahrheit liegt.

„Was, wenn der Krieg kommt in den silbernen Palast?

Wenn sie nicht ruhen, bis der Hammer fällt heut Nacht?“

Die Kinder hören nicht mehr nur zu. Sie lauschen. Und das ist ein Unterschied. Ihre Augen sehen Bilder, die meine Worte malen – sie sehen Hallen aus Marmor, von Feuer gesprenkelt. Masken, die zerbrechen. Kronleuchter, die zittern unter dem Marsch derer, die zu lange im Dunkeln geschmiedet wurden.

„Was, wenn wir leben auf dem goldenen Fundament,

Platziert auf Knochen, die der Schmiedes Vater kennt?“

Ein leiser Laut – ein Zittern in einer Kehle, das kein Schluchzen ist. Nur Erkenntnis. Irgendwo begreift ein kleiner Junge, dass der Reichtum, den er nie berühren durfte, vielleicht nie für ihn gedacht war.

Ich spiele weiter, auch wenn meine Stimme nun brennt. Denn Wahrheit – echte Wahrheit – verlangt einen Preis.

Und dies war der meine.

„Was ist dein Preis, oh teurer Ritter,

den ich zahl den Sold.

Wann kommt der Morgen,

teurer Ritter?“

Dann – Stille.

Kein Applaus. Keine Fragen. Nur der Wind, der durch verbrannte Haare und zitternde Hände streicht, als wollte er das Lied mitnehmen, irgendwohin, wo es sicher ist. Die Kinder sagen nichts. Manche der Mütter weinen leise, nicht aus Schmerz – aus Erinnerung. Aus Ahnung.

Ich lasse die Lyra ruhen.

Denn manchmal ist das Ende eines Liedes keine Stille,

sondern ein Schwur.

Der Rauch brennt noch in meiner Kehle, der letzte Ton meines Liedes kaum verklungen, da schält sie sich aus der Menge wie ein Schatten aus der Dämmerung –

keine Bewegung zu viel, keine Geste zu deutlich.

Eine Elfe. Drahtig, wie geschmiedet aus Sehne und Wille.

Eine Pupille klar wie Nebel. Die andere –

ein Mahlstrom aus Farbe.

Ihr Blick trifft mich wie ein stiller Stich zwischen die Rippen.

Nicht gewaltsam.

Nur endgültig.

„Ein interessantes Lied, junger Barde“, haucht sie.

Ich antworte nicht. Kann nicht.

Etwas an ihr schreit Gefahr.

Etwas an ihr flüstert: Folge.

Sie lässt den Blick über die zerschundene Menge gleiten –

die rußgeschwärzten Kinder, die betenden Mütter,

die Männer, die mit leeren Händen in die Nacht starren.

„Doch ich fürchte, sie brauchen mehr als Wahrheit,

um die heutige Nacht zu überleben“, sagt sie leise,

als spräche sie mit dem Feuer selbst.

Ich lache. Bitter.

„Und was habt ihr vor?

Wollt ihr die Revolution aufhalten?“

Sie wendet sich nicht zu mir. Nur ihr Lächeln

– ein Schnitt aus Silber –

formt die Antwort.

„Nein…

Ich hüte nur die Funken der nächsten.“

Für einen Moment

vergesse ich zu atmen.

Diese Frau trägt keinen Zweifel.

Nur Richtung.

„Es könnte sich ein Fluchtweg auftun in den nächsten Stunden“,

sagt sie, als ginge es um das Wetter.

„Ergreift ihn, wenn ihr könnt.“

Dann wendet sie sich ab,

als wäre das Gespräch beendet gewesen, bevor es begann.

„Wartet!“ rufe ich, stehe auf, die Finger an meiner Lyra zitternd.

„Wer… wer seid ihr?“

Sie dreht sich nicht mehr zu mir um.

Nur ihre Stimme bleibt.

„Nur ein Name im Wind.“

Und dann –

tritt sie auf die Zinnen

und fällt.

Kein Schrei.

Kein Schatten.

Ich renne zur Mauer.

Blicke hinab.

Nichts.

Keine Spur. Keine Silhouette.

Nur Rauch und Flammen

und die Schwärze der kommenden Stunden.

Ich taste nach meiner Lyra.

Als könnte sie mir sagen,

was mein Verstand nicht greifen kann.

Wer bist du nur?

Und in welchem Lied

werde ich dich wiederfinden?


Kommentare

Please Login in order to comment!