Kapitel 34 - Große Männer
Ich biege in die dunkle, schmutzige Gasse ein, die sich wie ein Riss durch das steinerne Herz von Lotarm zieht. Hier ist alles Grau, gepresst zwischen Fassaden, die von Ruß und Regen geschwärzt wurden. Und doch…
Ein kleines Stück Grün.
Es wirkt fehl am Platz, fast wie ein Fehler in der Realität. Ein Friedhof, liebevoll gepflegt, ein Hauch von Weichheit in dieser feindlichen Umgebung aus Stahl und Stein. Moos wächst in den Fugen zwischen den Grabplatten, kleine Laternen flackern schwach im Wind. Jemand kümmert sich darum.
Hier muss es sein.
Ich gehe weiter, lese die Namen auf den Grabsteinen. Suchend, aber nicht hetzend. Ich weiß, warum ich hier bin.
Dann sehe ich ihn.
Ruppiger Marmor, grob behauen. Ein Hufeisen eingraviert. Kein großes Denkmal, kein protziges Ehrenmal. Nur ein Stein, aufrecht, beständig, genau wie er es war.
Hier liegt Thalmdir Stahlhufe. Sohn des Glücks.
Mit dir verlässt uns ein Stück Sonne, doch in deiner Erinnerung niemals die Wärme.
Mein Magen zieht sich zusammen.
Ich schlucke tief, und meine Hand greift fester um die noch versiegelte Flasche in meiner Tasche.
„Stahlhufe, eh?“ Ein bitteres Lächeln zieht über mein Gesicht. „Du hast diesen Namen immer gehasst, weil die Jungs dich damit aufgezogen haben, dass Zwerge keine Pferde reiten können.“
Ich schnaube leise, drehe die Flasche in meiner Hand. Das Glas fühlt sich kalt an, fast so wie die Luft hier draußen.
„Aber das ist nicht die Geschichte deiner Familie, hm?“
Ich seufze tief und lasse mich auf einen flachen Stein neben dem Grab sinken. Der Boden ist feucht, aber das stört mich nicht. Ich starre auf die Blumen, die dort liegen. Jemand hat sich Mühe gegeben – aber Wind und Wetter der letzten Tage haben ihre Spuren hinterlassen. Die Blütenblätter sind zerzaust, einige fast abgerissen.
„Dein Vater war der beste Schmied, den ich je gesehen habe, Thalm.“ Meine Stimme klingt rau in der Stille. „Als sein Handwerk hier ankam, war Soranica so begeistert, dass sie jeden reisefähigen Zwerg des Berges einluden, hier zu leben.“
Ich streiche mit dem Daumen über den versiegelten Korken der Flasche.
„Deswegen marschierten wir.“
Mein Blick bleibt auf den eingravierten Worten hängen. Sohn des Glücks.
„Ihr habt diesen Traum gepflanzt.“
Dann schweige ich. Lange.
„Es war unser Glück, einen Mann wie dich in der Fabrik zu haben.“ Meine Stimme ist leise, fast verschluckt von der Nacht. „Jemand mit sicheren Händen und einem großen Herz.“
Ich drehe die Flasche langsam in der Hand, spüre das Wachs unter meinen Fingern. Das Siegel ist alt, aber nicht gebrochen. Noch nicht.
„Die Jungs haben immer gesagt, ich bin für sie da…“ Ich atme tief ein, den Geruch der feuchten Erde, der verblühten Blumen, des kalten Steins. Dann schüttle ich leicht den Kopf. „Aber du hast mir das beigebracht, Thalm.“
Ich setze die Kante der Flasche gegen den Grabstein, drücke mit dem Daumen gegen das versiegelte Wachs. Es knackt leise, bricht auf. Ein Tropfen dunkler Flüssigkeit sickert über den Rand.
„Also trinken wir auf dich.“
Ein leises Schluchzen entweicht mir, bevor ich es unterdrücken kann. Heiße, bittere Tränen rollen meine Wangen herab, brennen auf meiner wettergegerbten Haut wie geschmolzenes Metall. Ich neige die Flasche, lasse einen Teil des feinen Tropfens über das Grab rinnen, während meine Schultern leicht beben.
Dann nehme ich einen großen Schluck. Der Alkohol brennt in meiner Kehle, ein scharfer, schwerer Geschmack – viel zu gut für diesen Moment.
„Den wollten wir immer gemeinsam trinken…“ Meine Stimme bricht für einen Moment. Ich schlucke schwer. „Wenn wir uns zur Ruhe setzen.“
Ich spüre das Zittern in meinen Händen, in meinem ganzen Körper. Ich kann es nicht aufhalten, nicht jetzt.
„Schätze, das ist das Beste, was wir tun können…“ Ich zwinge mich zu einem schwachen Lächeln. „Du kannst endlich die Füße hochlegen, Thalm.“
Ich fahre mit der Hand über mein Gesicht, wische die Tränen fort, auch wenn es keinen Unterschied macht. Sie kommen trotzdem.
„Es tut mir leid.“ Ich blicke auf die eingravierten Worte, als könnte ich sie damit neu schreiben. „Ich konnte nicht einmal hier sein und mit den anderen dir die Ehre erweisen.“
Meine Finger umklammern die Flasche fester. Meine Stimme wird leiser.
„Aber es ist wie du immer gesagt hast…“
Ich atme tief ein. Die Luft ist kühl und riecht nach Regen.
Schweigen.
Dann richte ich mich langsam auf, lasse den Blick noch einmal über das Grab wandern.
„Fanfaren, Paraden und Statuen…“ Ich seufze. „Das ist alles für Könige.“
Ich ziehe den Mantel enger um mich, drehe mich schließlich zum Gehen.
„Die großen Männer…“ Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.
Ich trete aus dem kleinen Stück Grün zurück in die kalten Gassen von Lotarm.
„…gehen immer still.“
Meine Schritte hallen leise auf dem Pflasterstein wider, während ich durch die leeren Gassen Lotarms laufe. Meine Hand ruht schwer auf dem Hammer an meinem Gürtel, nicht aus Angst, sondern aus Gewohnheit. Die letzten Tränen sind getrocknet, doch ihre Spuren sind noch da – ein dumpfes Gewicht in meiner Brust, das ich nicht abschütteln kann.
Als ich auf die Marktstraße abbiege, ist sie so leer wie erwartet. Wo einst geschäftiges Treiben herrschte, stehen nun nur noch verriegelte Türen und dunkle Fenster. Ein Kriegsgebiet.
An der Ecke sehe ich sie – eine Gruppe ruppiger Schmiede, zusammengedrängt in einem Halbkreis. Ihre Gesichter sind gezeichnet von den letzten Tagen. Einige tragen Bandagen, die sich dunkel an den Rändern verfärbt haben, frische Wunden, rohe Narben. Sie starren mich an, mit prüfenden, grimmigen Blicken.
Eine Spannung liegt in der Luft.
Ich nicke ihnen stoisch zu.
Einer von ihnen spuckt vor meine Füße.
„Scheiß Verräter…“ zischt er. „Na, gehst du für uns in die Kathedrale und kuschelst mit dem Inquisitor?“
Ich laufe weiter, zwei Meter an ihnen vorbei, als meine Schritte kurz innehalten.
Meine Finger legen sich fester um den Griff meines Hammers.
Hinter mir höre ich ein amüsiertes Schnauben. „Oh, überlegst du dir jetzt den großen Jungen zu spielen?“
Ich seufze tief.
Ich könnte.
Ich könnte mich umdrehen, einen Schritt auf sie zugehen, den Hammer aus der Schlaufe ziehen und sie daran erinnern, wer ich bin. Ich könnte sie fragen, wo sie waren, als wir die ersten gefallenen Brüder beerdigen mussten. Ob sie verstanden haben, was sie losgetreten haben. Ich könnte die Wut, die seit Tagen in mir brodelt, in diesem Moment entladen.
Aber wofür?
Ich lockere meinen Griff um den Hammer, spüre, wie die Spannung langsam aus meinen Schultern weicht.
Meine Familie wartet.
Das, was zählt, wartet zum Abendessen.
Ich laufe weiter, ohne mich umzudrehen.
Die Gasse ist ruhig, das Echo meiner Schritte wird von den feuchten, steinernen Wänden geschluckt. Ich rieche den vertrauten Geruch von verbranntem Holz und kaltem Eisen, den meine Familie mit sich trägt. Ein Anker in der aufgewühlten See, die Lotarm jetzt geworden ist.
Dann sehe ich ihn.
Ein hagerer Mann, zusammengesunken auf einer Bank, als hätte ihn das Gewicht dieses Tages erdrückt. Der Kopf ruht im Nacken, die Augen geschlossen, doch sein Atem ist ruhig – nicht der eines Mannes, der bewusstlos ist, sondern eines, der erschöpft jenseits der Erschöpfung ist.
Und dann erkenne ich ihn.
Korash.
Der Arzt, der hereinkam, als Dwindel…
Ich unterbreche den Gedanken. Er hat genug gearbeitet heute.
„Herr Korash, richtig? Arzt.“ Meine Stimme ist freundlich, ruhig.
Seine Lider heben sich langsam, seine scharfen Augen mustern mich aus der Dämmerung seines Halbschlafs.
„Korrekt.“ Seine Stimme ist trocken, beinahe tonlos. „Werde ich gebraucht?“
Ich lache leise. „Nein, nein. Ich denke, das wurdet ihr heute mehr als genug.“
Seine Haltung verändert sich kaum, aber ich sehe, wie sein Blick mich nun bewusster wahrnimmt.
„Ich habe gehört, ihr führt die provisorische Klinik hier, seitdem die Aufstände ausbrachen. Stimmt das?“ frage ich entspannt, während ich mich gegen die kalte Mauer lehne.
Er nickt. „Das ist richtig.“ Dann, nach einem kurzen Moment des Zögerns: „Als ich hörte, dass die Schmiede marschierten… Nun, da war mir klar, dass die Leute hier mich brauchen.“
Ich seufze. Wäre die Stadt nur voll mit jungen Leuten wie ihm.
Ich drücke mich von der Mauer ab, trete einen Schritt näher und lege ihm eine schwere Hand auf die Schulter. „Begleitet mich zum Abendessen mit meiner Familie, ich bestehe darauf.“
Für einen Moment wirkt er, als würde er höflich ablehnen. Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus Prinzip.
Dann sehe ich, wie sein Blick leicht flackert.
„Ich bin tatsächlich sehr hungrig.“
Ich trete ein, und bevor ich mich versehe, werde ich von der Wärme des Hauses umarmt. Magdar begrüßt mich mit einem Lächeln, warm und vertraut. In ihrer Gegenwart schmilzt die Last des Tages für einen Moment.
„Papa!“
Ein wilder Wirbel aus kleinen Füßen und schnellen Händen fegt durch den Raum. Signun und Toldar jagen sich kreischend um den Tisch herum, ein Spiel aus purem Übermut.
Seldar hingegen sitzt bereits brav an ihrem Platz, der Rücken gerade, die Hände gefaltet. Magdar streicht ihr über das Haar.
„Jetzt, wo sie ein Schulkind ist, will sie besonders verantwortungsvoll sein“, sagt sie mit einem warmen Grinsen.
Ich schüttele den Kopf und lache leise. „Verantwortungsvoll, ja? Das sollte ich den Jungs mal beibringen.“
Ich fange die beiden Wirbelwinde ab, hebe sie kurzerhand hoch – ein aufgeregtes Quietschen folgt – und setze sie mit entschlossener Endgültigkeit auf ihre Stühle.
Dann gehe ich zu Seldar und gebe jedem meiner drei Kinder einen Kuss auf die Stirn.
„Schön zu sehen, dass ihr Spaß habt. Das könnte ich jetzt auch gebrauchen.“
Signun blinzelt mich an, dann runzelt er die Stirn.
„Papa, deine Augen sind ein bisschen rot.“
Ich grinse, lege ihm eine schwere Hand auf die Schulter.
„Nun, ich musste den ganzen Tag genau aufpassen, dass kein böser Mann in diese Gassen biegt. Das ist hart für meine alten Augen.“
Seldar legt dramatisch die Arme vor der Brust zusammen und nickt ernst.
„Mama, kauf Papa eine Brille, damit er nicht müde wird!“
Magdar lacht herzlich.
„Vielleicht tue ich das.“ Dann wirft sie mir einen prüfenden Blick zu. „Aber Sigmund, wer ist denn unser netter Gast?“
Ich folge ihrem Blick.
Korash steht noch im Türrahmen, eine Spur deplaziert, wie ein Mann, der nicht weiß, ob er hereingebeten wurde oder in einen Fehler gestolpert ist. Sein Blick gleitet über die Szenerie, die lebendige Wärme, die sich so sehr von dem unterscheidet, was er gewohnt sein muss.
Ich lege ihm eine Hand auf den Rücken und schiebe ihn sanft vorwärts.
„Korash. Arzt. Der Mann hat heute mehr gearbeitet, als gut für ihn ist. Also dachte ich, wir tun das, was wir am besten können – ihm einen Teller zu voll packen und ihn dann zwingen, Nachschlag zu nehmen.“
Korash blinzelt mich an.
Magdar lacht und winkt ihn freundlich an den Tisch.
„Dann seid ihr hier genau richtig, Herr Korash. Setzt euch. Und keine Sorge – wir lassen niemanden hungrig aus dieser Tür gehen.“
Ich spüre die Schwere in meinem Magen, als ich den Löffel in die dampfende Suppe tauche, während die Stimmen meiner Kinder durch den Raum tanzen. Ihr Lachen hallt von den Wänden wider, warm und lebendig. Der Tag war hart, aber hier – hier ist es friedlich.
Doch es dauert nicht lange.
Margdar wartet, bis die Kinder in ihre eigenen kleinen Gespräche vertieft sind, dann winkt sie mich und Korash zur Seite.
„Es tut mir wirklich leid, euch das jetzt noch vor die Füße zu werfen, aber … ihr müsst das hier sehen.“
Ich höre den Seufzer in ihrer Stimme. Sehe den Anflug von Sorge in ihren Augen. Dann reicht sie mir die Zeitung.
Eine Ausgabe der Eisernen Feder.
Ich brauche nicht einmal auf die Schlagzeile zu blicken, um zu wissen, dass es schlecht ist. Die Art von schlecht, die nicht mehr repariert werden kann.
Wie Lady Melody und die Geldzwerge Lotarms Erbe verkaufen – Der Golembetrug.
Meine Finger krallen sich in das Papier. Ich spüre, wie mein ganzer Körper sich anspannt, wie meine Muskeln sich verhärten.
Neben mir tritt Korash näher, liest die Schlagzeile. Dann wendet er sich wortlos ab und massiert sich die Schläfen.
„Wann?“ frage ich. Meine Stimme klingt ruhig, aber ich kann das Hämmern in meiner Brust spüren.
Margdar blickt zu Boden. „Sie wurde heute Mittag verteilt. Die ersten Klatschblätter sind in Eilmeldung gefolgt. Sie wissen, Tolgren … er ist kredibil…“
Sie verstummt. Aber sie muss den Satz nicht beenden. Ich kenne ihn bereits.
Ich atme tief aus. „Dann marschieren sie heute. Tief in der Nacht.“
Kein weiterer Aufschub. Kein Zögern.
Meine Beine setzen sich in Bewegung, schneller, als meine Gedanken es tun. Ich laufe in den Nebenraum, meine Hand greift nach der alten Kommode, die an der Wand lehnt. Sie ist schwer, aber nicht schwer genug. Mit einem einzigen Ruck schiebe ich sie zur Seite, der Boden knarzt unter dem Gewicht.
Darunter – verborgen unter dem Schatten der Jahre – eine Holzplatte. Ich knie mich hin, lege die Finger an die Einkerbungen, ziehe sie hoch. Staub wirbelt auf, beißt in meine Lunge.
Eine Kiste.
Alt, aber nicht vergessen.
Ich öffne sie. Und da liegt sie.
Die Panzerung. Der Schild. Der Hammer.
Mithril. Ein zwergisches Meisterwerk. Das Metall schimmert im schwachen Licht der Küche in einem leichten Grünblau, als würde es atmen. Als hätte es all die Jahre nur gewartet.
Hinter mir keucht Margdar. „Sigmund …“
Ich drehe mich langsam zu ihr um.
Und sie sieht es in meinen Augen.
Das Feuer.
Den Mann, der ich vielleicht immer war.
„Pack das Nötigste.“
Ihre Lippen beben, ihre Hände zittern. Tränen glitzern in ihren Augen.
„Ihr könnt nicht hier bleiben.“
Ihr Schluchzen schneidet mir ins Herz, aber ich kann es kaum hören.
Alles, was ich höre, ist das Echo von Stiefeln auf Stein.
Ein Marsch durch die Tiefen Wege.
Eine ferne Erinnerung.
Ein Alptraum so nah.
Vielleicht … vielleicht war ich es immer.
Dieser Mann.
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