Kapitel 32 - Plan A

Der Schmerz ist allgegenwärtig.

Ich liege auf der Werkbank, mein rechter Arm noch taub von den Eingriffen, während sich die letzten Impulse der Neuinstallation durch meine Nervenstränge ziehen. Es ist ein dumpfes, schweres Pochen, das bis in meine Schultern ausstrahlt, begleitet von einem ständigen, unterschwelligen Summen – das neue Metall pulsiert mit Leben, mit Magie.

Sylvana lehnt sich über mich, ihre Hände fahren über den glatten, dunklen Stahl, den sie in meinen Arm integriert hat. „Beweg deine Finger.“

Ich balle die Faust. Die neuen Gelenke reagieren sofort, flüssig, präzise. Ich öffne sie wieder, drehe das Handgelenk – ein leises Surren begleitet jede Bewegung. Keine Verzögerung. Keine Fehlzündung. Perfekt.

Fast zu perfekt.

Ich blicke zu Sylvana, die meine Mimik sofort liest. „Hast du etwa erwartet, dass ich dich mit halbfertigem Schrott auf Melodys Ball schicke?“

Ich schnaube. „Wär nicht das erste Mal, dass wir was Improvisiertes testen.“

Sie grinst nicht. Ihre Augen bleiben auf meinen Arm gerichtet. „Jetzt der erste Testlauf.“

Sie tritt zurück, klappt ihr Notizbuch auf, bereit, jedes Detail festzuhalten. Ich setze mich langsam auf, spüre, wie mein Kreislauf sich wieder stabilisiert. Dann richte ich meinen neuen Zeigefinger auf die Zielscheibe an der Wand – eine ausgediente Metallplatte, übersät mit Kerben und Brandspuren.

Ich konzentriere mich. Spüre die Ladung.

Das Metall in meinem Arm beginnt zu summen, kaum hörbar, aber ich spüre es unter der Haut – die Arkankomponenten, die sich bündeln, der Mechanismus, der sich auflädt. Die Energie strömt in den Finger, verdichtet sich zu einem winzigen, konzentrierten Punkt.

Dann drücke ich ab.

Ein Forge Bolt löst sich, fast lautlos.

Kein lauter Knall. Kein greller Blitz. Nur ein präziser, glühend heißer Lichtfaden, der in die Zielscheibe frisst. Das Metall an der Einschlagstelle schmilzt sofort, ein schmaler, sauberer Einschuss, kaum größer als eine Münze. Doch das Loch ist tiefer als es sein sollte – als hätte sich der Schuss durch das Material gebrannt.

Ich hebe eine Augenbraue. „Das… ist subtiler, als ich dachte.“

Sylvana klappt ihr Notizbuch zu. „Es soll keine Kanonenkugel sein, sondern eine Lücke im magischen Feld reißen. Gegen einen normalen Kämpfer ist es ein Lichtblitz. Gegen jemanden mit aktiver Arcana-Abwehr? Eine perfekte Störung.“

Ich betrachte meinen Finger, den feinen Dampf, der aus den winzigen Runenschlitzen entlang der Platten steigt. Ich hatte nur den Forge Bolt erwartet. Doch dann spüre ich es – ein leichtes Brennen in meiner Brust, ein Ziehen in meinen Rippen.

Ich atme ein.

Dampf entweicht aus meinen metallenen Lungenflügeln.

Ein tiefes, zischendes Geräusch hallt durch die Werkstatt, zwei dünne Strahlen heißer Luft steigen auf und verschwinden in der Dunkelheit der Decke. Ich reiße die Augen auf, greife mir an die Brust, als wäre dort ein Loch. „Was zur Hölle—“

Sylvana bleibt unbeeindruckt. „Statt alles auf die Forge Bolts zu setzen, hab ich deine Forge-Tech-Ladungen erweitert. Fünf Schübe vor der Überhitzung. Dein Körper reguliert die Temperatur selbst.“

Ich atme schwer aus. Die Lungenflügel fühlen sich… anders an. Mechanischer. Tiefer. Jeder Atemzug klingt wie der Dampfstoß einer Maschine. Fünf Schübe. Mehr als vorher. Ein Vorteil, ein klarer Vorteil – aber ein Schritt weiter auf einem Weg, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn wirklich gehen will.

Ich blicke auf meine Hand, die noch von den Rückständen des Schusses flimmert. Ich habe das hier gewollt. Gefordert. Und Sylvana hat es gebaut.

Ich presse meine metallene Faust zusammen. „Morgen Nacht finde ich heraus, ob es das wert war.“

Ich beobachte sie, ihre angespannte Haltung, den Schatten in ihren Augen. Sylvana ist nicht jemand, der oft innehält – sie baut, sie verbessert, sie treibt voran. Doch jetzt sitzt sie da, die Hände ineinander verschränkt, als würde sie gegen sich selbst kämpfen.

„Gehen wir zu weit?“

Ich blinzele, spüre das dumpfe Pochen in meinem Arm, das Gewicht meiner neuen Forge-Tech-Lungen, während ihr Blick mich fixiert.

„Was zur Hölle meinst du?“ Meine Stimme klingt gereizter, als ich es beabsichtige. Ich fahre mir mit der gesunden Hand durch die Haare. „Glaubst du, Melody wird uns mit einem strengen Tadel und einem Klaps auf die Finger hier rausspazieren lassen?“

Sylvana schüttelt leicht den Kopf, seufzt. „Das meine ich nicht, Cy.“

Ihre Finger trommeln unruhig auf ihrem Knie, und ich merke, dass sie nach Worten ringt.

„Ich meine… ob wir das verlieren, was uns von diesen Leuten unterscheidet.“

Ihr Blick wandert zur Wand, zu den Skizzen, den Formeln, den unvollendeten Projekten, die unser Leben hier zusammenhalten.

Ich atme ein. Dampf zischt leise aus meinen Lungen.

Ein langsames, mechanisches Ausatmen, das mich daran erinnert, was wir hier tun. Was ich mir in den Körper schneiden ließ, nur um eine Chance zu haben.

„Und wenn es so ist?“ Ich lehne mich zurück, spüre den kalten Stahl meines Arms gegen meinen Nacken. „Wenn wir keine Wahl haben? Wenn der Unterschied zwischen uns und diesen Leuten nur darin liegt, wer am Ende noch steht?“

Sie sieht mich an. Lange.

Dann schüttelt sie langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

Ihre Stimme ist leise, fast ehrfürchtig, als würde sie eine Grenze erkennen, die sie nicht zu überschreiten bereit ist – oder sich zumindest nicht sicher ist, ob sie es sein sollte.

Ich blicke an ihr vorbei, zur Werkbank, zum Golem, der stumm in der Ecke liegt. Eine Maschine. Eine Hülle. Ohne Angst, ohne Zweifel.

Ich spüre meine Finger zittern.

„Ich weiß es auch nicht.“

Ich hebe meine Hand, fahre mit meinen Fingern sanft über ihre Wange. Ihre Haut ist warm unter meiner Berührung, trotz der Kälte der Werkstatt, trotz der Schwere, die in der Luft liegt.

Sylvana blinzelt, überrascht, und ihr Blick sucht meinen. In ihren Augen liegt etwas, das ich nicht erwartet hatte – keine Sorge, keine Zweifel, sondern Wärme.

„Versteh mich nicht falsch.“ Meine Stimme ist leise, ruhig. „Ich verstehe, was du fühlst. Ich weiß, dass ich dich gedrängt habe. Aber die eine Sache, die morgen auf absolut keinen Fall passieren kann, ist, dass einer von uns stirbt.“

Sie atmet leise ein. Ihre Finger rühren sich kaum merklich, als hätte sie für eine Sekunde vergessen, wie man sich bewegt.

„Du hast uns gesagt.“ Ihr Flüstern ist kaum mehr als ein Hauch, liebevoll, voller unausgesprochener Dinge.

Ich nicke, lehne meine Stirn gegen ihre. „Ich hab’s versprochen, Syl.“ Meine Stimme ist rauer jetzt, fast brüchig. „Ich bleibe bei dir.“

Ich küsse sie. Sanft, langsam, so als könnten wir uns für eine Sekunde in dieser Berührung verlieren, als wäre das hier kein düsteres Kellerversteck, keine Nacht vor dem Sturm, sondern ein Moment, der uns gehört.

Doch dann ziehe ich mich zurück, und mein Blick wird wieder schärfer, fokussierter.

„Aber dass wir beide das hier überleben… ist eine verdammt optimistische Prognose.“

Sylvana atmet tief durch, ihre Hand ruht an meiner Brust, als würde sie nach einer Wahrheit suchen, die ich ihr nicht geben kann.

„Deswegen müssen wir alles tun, um unsere Chancen zu verbessern.“ Ich ballte meine metallene Faust, höre das leise Surren der Mechanik, das vertraute Knacken von Metall auf Metall. „Die Geldzwerge werden auftauchen. Es ist nur die Frage – wie viele. Und was unser Eisenfreund da drüben vorhat, ist auch ein verdammtes Mysterium.“

Mein Blick wandert zur Werkbank, wo der Golem liegt, stumm, regungslos – und doch spüre ich, dass er nicht nur ein einfaches Relikt ist.

Ich atme tief durch, spüre das heiße Zischen meiner Lungenflügel, als sie sich entladen.

„Also wenn ein Arm der Einsatz ist, dann gebe ich auch zwei.“

Ich blicke wieder zu Sylvana, und in ihren Augen sehe ich keinen Widerstand mehr. Nur die Akzeptanz, dass es keinen anderen Weg gibt.

„Ich auch, Cyrus.“ Sylvana steht auf, und für einen Moment sehe ich es wieder in ihren Augen – das Feuer, das Funkeln von Ideen, die zu Wahnsinn werden können, wenn man sie nur in die richtigen Hände legt.

„Komm, schau dir das hier an.“

Sie läuft zur Tür, zu einem Fass, das ich bisher übersehen hatte. Es strahlt ein schwaches, fast hypnotisches Blau aus, ein leuchtendes Pulsieren, als hätte es einen eigenen Herzschlag.

Ich trete näher, runzle die Stirn. „Was zur Hölle ist das?“

„Eine Ilestid-Lösung.“ Sylvana streicht mit einer Fingerspitze über die Metallwand des Fasses. „Die instabilste arkane Komponente, die wir kennen. Ein Hauch Magie und—“ Sie hebt eine Hand und macht eine theatralische Geste. Eine gewaltige Explosion.

Mein Blick wandert zwischen ihr und dem Fass hin und her. „Okay, cool, aber wie bringen wir das dorthin, wo wir es haben wollen? Sag nicht, ich muss den Scheiß trinken oder so.“

Sylvana verdreht die Augen, ein schiefes Grinsen auf den Lippen. „Es ist gut zu wissen, dass dein neuer Arm dich nicht klüger gemacht hat.“

Ich lache trocken, aber mein Blick bleibt auf der blauen Flüssigkeit. „Also?“

„Diese Lösung ruht, solange sie unberührt bleibt.“ Sie dreht sich zu mir um, ihre Stimme beinahe spielerisch, aber darunter liegt dieser messerscharfe Verstand, der mich schon oft gerettet hat. „Und diese Hammerfall-Prinzessin hat einen riesigen Haufen Blumentöpfe in ihrem Anwesen. Wir nehmen eine kleine Flasche, schlendern durch das Schloss und lassen in jeden ein paar Tropfen fließen.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Und dann?“

„Und dann, wenn wir bereit sind…“ Sie tippt mit dem Finger auf meine Brust, direkt über den Kern meiner Forge-Tech. „…schickst du einen Forge Bolt in einen dieser Töpfe.“

Ihre Augen glühen fast vor Begeisterung.

„Und dann verwandelt sich dieses Prachtschloss in den achten Kreis der Hölle.“

Ich grinse langsam. „Ich mag es, wenn du kreativ wirst.“

Ich runzle die Stirn, starre das Fass an, während mein Kopf die Teile zusammensetzt. „Aber woher haben wir das Zeug?“

Sylvana zuckt mit den Schultern, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. „Im Eisernen Napf hab ich Lav eine Einkaufsliste gegeben. Hab ihm gesagt, ich aktiviere das Ding nicht, wenn er mir nicht besorgt, was draufsteht.“

Ich blinzle, dann funkeln meine Augen vor plötzlichem Stolz. „Du hattest also die ganze Zeit vor, den Laden abzufackeln?“

Sie grinst breit. „Naja, ich brauchte die Option. Falls irgendjemand dreckig spielt.“

Ich nicke langsam, lasse den Gedanken sacken. „Und wie hat er das hier rein—?“ Ich unterbreche mich selbst, als die Antwort mir plötzlich ins Gesicht schlägt. „Der Zwerg natürlich.“

Sylvana lehnt sich an den Tisch, verschränkt die Arme, amüsiert darüber, wie die Zahnräder in meinem Kopf arbeiten.

„Ich war so fokussiert darauf, Wachhund zu spielen, dass ich ihn nicht einmal bemerkt habe. Also hat Lavender den Typen als unverdächtiges Ticket reingenutzt… und dir dann dein Zeug geliefert, während er so getan hat, als würde er nur auf den Golem starren.“

„Yep.“

Ich schnaube. „Gerissener Bastard.“

Sylvana tippt sich an die Schläfe. „Was du bereit bist zu tun, hat mir dann die Augen geöffnet, Cy. Also habe ich es angerührt, während du weggetreten warst.“

Ich blicke zu ihr, dann zurück zum Fass, dann wieder zu ihr.

„Das hier ist also unser Plan B?“

Sie grinst. „Wenn wir ehrlich sind? Wahrscheinlich schon lange Plan A.“

„Also wenn alle Stricke reißen, dann zünden wir die Lunte und nehmen die Beine in die Hand?“ frage ich nachdenklich, während ich meine metallene Faust langsam öffne und wieder schließe.

Sylvana schwingt sich mit der Eleganz einer Raubkatze auf meinen Schoß, ihre Finger streichen sanft über meine Wange. Ich spüre die Wärme ihrer Haut, ein Kontrast zu dem kalten Metall meiner neuen Hand.

„Ich brauch nichts außer dich,“ murmelt sie leise, bevor ihr Blick einen schelmischen Glanz bekommt. „Aber falls wir in der Nähe der Blumentöpfe was Tragbares, Teures finden, dann sollten wir uns vielleicht eine Gehaltserhöhung gönnen.“

Ich lache trocken. „Hah, so kenne ich dich.“

„Lav hat gesagt, wir treffen uns im Keller vom Aces, falls wir heil rauskommen.“

Ich blinzele. „Woah – das ist wirklich ein Ort, an dem absolut kein Adliger freiwillig suchen wird. Arbeitet der große, stinkende Oger da immer noch?“ frage ich sarkastisch.

Sylvana grinst. „Hey, Skit ist ein netter Kerl.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Bei deiner Präferenz für große, stinkende, dumme Männer verstehe ich langsam, warum ich dich so verrückt mache.“

Sie funkelt mich mit blitzenden, teuflischen Augen an. „Hey, sei nicht so hart zu dir, Cy – so groß bist du auch wieder nicht.“

Ich schnaube. „Ja, fick dich auch.“

Wir lachen beide, ein seltener Moment der Leichtigkeit inmitten all der Scheiße, in die wir uns selbst manövriert haben.

Dann werde ich ernst. Ich mustere sie, ihre blauen Augen, die trotz allem noch Hoffnung tragen. „Also dann… auf Plan A?“

Sie sieht mich lange an, als würde sie sich jede Linie in meinem Gesicht einprägen. Dann beugt sie sich vor, küsst mich – sanft, aber mit der unmissverständlichen Sicherheit einer Entscheidung.

„Auf Plan A.“


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