Kapitel 31 - Zwei Seiten der Münze

31. Zwei Seiten der Münze

Papier raschelt unter meinen Fingern. Ein Berg aus Notizen, Berichten, Beobachtungen – verstreut auf meinem Schreibtisch wie die Überreste eines zerlegten Puzzles. Ich überfliege die Namen, die ich mit roten Linien verbunden habe, die losen Fäden, die sich zu einem Netz spannen.

Lady Melody. Lavender Mareau. Sylvana. Cyrus.

Katwin steht an der Tür, die Arme verschränkt, sein Gesicht spiegelt eine Mischung aus Ungeduld und Neugier wider.

„Ich muss es noch mal fragen, Tolgren.“ Er seufzt, tritt einen Schritt näher. „Was reizt dich an diesem Fall, so?“

Ich lehne mich zurück, lasse meinen Blick über die Wand meiner Recherche gleiten.

„Die beiden Tüftler“, sage ich schließlich und tippe mit meinem Stift auf ihre Namen. „Das Gehirn dieser Operation ist Sylvana, das ist klar. Fast alle Verkaufsdokumente und Transaktionen, die ich nachverfolgen konnte, führen zu ihr. Ihr Partner – Cyrus – er ist das, was man einen idealen Vollstrecker nennt. Stark, pragmatisch. Aber nicht der Planer.“

Katwin nickt langsam. „Und?“

Ich drehe einen der Zettel zwischen meinen Fingern, bevor ich ihn beiseitelege.

„Das Problem mit dieser ganzen Geschichte ist, dass sie perfekt passt.“

Mein Assistent runzelt die Stirn.

„Perfekt?“

Ich nicke. „Ja. Perfekt. Fast schon zu perfekt.“

Ich sehe, wie sich Katwins Kiefer leicht anspannt.

„Das klingt, als würdest du Lavenders Geschichte nicht glauben.“

Ich lache leise, ein trockenes, amüsiertes Geräusch.

„Natürlich glaube ich ihm nicht.“

Katwin blinzelt. „Aber du hältst sie trotzdem für wichtig?“

Ich grinse. „Genau.“

Er schüttelt langsam den Kopf, als würde er sich erst an meine Art gewöhnen müssen – was beachtlich ist, wenn man bedenkt, wie lange er schon für mich arbeitet.

„Also deswegen hast du dich nicht an die zwei Tage Frist gehalten, die Lavender dir gegeben hat?“ fragt er schließlich.

Mein Grinsen wird breiter.

„Jeder gute Journalist bereitet sich vor, bevor er ein Interview führt, Katwin. Und ich bin kein schlechter Journalist.“

Ich stehe auf, beginne meine Notizen zusammenzupacken. Mein Mantel hängt über dem Stuhl, und ich werfe ihn mir über, bevor ich mir meine Pfeife aus der Schreibtischschublade nehme.

Katwin beobachtet mich, lehnt sich gegen den Türrahmen und mustert mich mit diesem unausgesprochenen Respekt, den er nicht in Worte fassen würde.

Ich schultere meine Tasche, werfe einen letzten Blick auf meine Aufzeichnungen.

Es ist Zeit.

„Ich schätze, ich werde mir anhören, was Lavender wirklich zu sagen hat.“

Die Marktstraße von Lotharm ist nicht mehr das, was sie war.

Ich laufe mit den Händen tief in den Taschen meines Mantels, meine Augen wandern über die Fassaden der einst geschäftigen Läden. Die meisten sind verbarrikadiert, Fensterscheiben mit Holzplatten vernagelt, Türen mit groben Ketten verschlossen. Hier und da erkenne ich Spuren eines überhasteten Aufbruchs – umgeworfene Stände, Karren, die mitten auf der Straße stehen, als wären ihre Besitzer von einem Moment auf den anderen verschwunden.

Östlich steigt Rauch in den Himmel, ein träger, dunkler Strang, der sich langsam in den diesigen Himmel windet. Ich frage mich nicht einmal mehr, was dort brennt. Die Frage ist nicht ob, sondern wer das Feuer gelegt hat – Schmiede oder Geldzwerge? Eine Unterscheidung, die zunehmend irrelevant wird.

Ich erreiche die Straßenecke und sehe die Kutsche, die bereits auf mich wartet. Der Kutscher, ein älterer Zwerg mit wettergegerbtem Gesicht, hebt die Hand zur Begrüßung.

„Herr von Wen?“

Ich nicke und steige ein. Die Polster sind abgenutzt, aber bequem genug.

„Ich nehme an, du kennst das Ziel.“

Der Kutscher nickt nur, schnalzt mit der Zunge, und die Kutsche setzt sich in Bewegung.

Ich lasse den Kopf gegen das Holz lehnen, meine Gedanken kehren zu diesem Lavender Mareau zurück.

Was genau hat dieser Kerl vor?

Er muss wissen, dass wenn ich diesen Artikel veröffentliche, ich den Funken setze, der diese Stadt in Flammen steckt. Würde er all das riskieren? Für eine Lüge? Für ein paar Münzen mehr?

Adlige können ruchlos sein, das ist eine unumstößliche Wahrheit. Aber er wirkte nicht wie einer dieser typischen skrupellosen Puppenspieler im Schatten.

Er wirkte wie ein Showman.

Ein Entertainer.

Doch Entertainer besudeln sich nicht mit so viel Blut.

Ein dumpfes Geräusch reißt mich aus den Gedanken. Die Kutsche wird langsamer. Dann höre ich es – das tiefe, brodelnde Murmeln einer Menge. Stimmen, die immer lauter werden, ein Wogenschlag aus Wut und Aufruhr.

Der Kutscher dreht sich halb zu mir um, seine Hände bleiben jedoch ruhig auf den Zügeln.

„Es tut mir leid, Herr von Wen“, sagt er mit einem Hauch von Anspannung. „Der Weg scheint versperrt zu sein.“

Ich seufze, schiebe den Vorhang beiseite und spähe hinaus.

Vor uns erstreckt sich ein Meer aus Körpern – Schmiede in voller Montur, ausgerüstet mit Helmen, Hämmern und Schilden, die Gesichter verzerrt vor Zorn und Entschlossenheit. Ein Schildwall, keine zufällige Versammlung. Sie trommeln mit ihren Werkzeugen auf Metall, erzeugen einen dumpfen, rhythmischen Lärm, der in meinen Knochen vibriert.

Auf einer improvisierten Bühne, erhöht über der Masse, steht ein Zwerg mit wilder Mähne und geschwungener Rüstung. Seine Stimme donnert über die Köpfe der Versammelten hinweg, er peitscht sie an, entfacht ihre Wut weiter.

Ich trete aus der Kutsche. Der Lärm schlägt mir entgegen wie eine Welle.

Das hier ist keine Protestkundgebung mehr.

Das hier ist ein Heer – und es wartet nur auf einen einzigen Befehl.

Ich drehe mich zum Kutscher, der nervös auf seinem Sitz hin- und herrutscht. Sein Blick wandert von der brodelnden Menge vor uns zu mir zurück. Ich ziehe einen kleinen Sack voll Münzen aus meiner Tasche und drücke ihn ihm in die raue Handfläche.

„Hier habt ihr eure Bezahlung“, sage ich ruhig, meinen Blick weiterhin auf das Schlachtfeld aus Helmen und Hämmern gerichtet. „Ich schätze, von hier aus werde ich laufen müssen.“

Der Kutscher wiegt das Gewicht in seiner Hand, schaut mich an, als wollte er etwas sagen, entscheidet sich dann aber dagegen. Stattdessen nickt er knapp, dankbar dafür, dass er sich nicht selbst durch diesen Sturm navigieren muss.

Ich seufze, schiebe die Hände tief in meine Taschen und setze mich in Bewegung.

Der Übergang nach Hammerfall liegt vor mir – versperrt von einer wogenden Armee aus Schmieden, ihre Gesichter glühend vor Zorn, ihre Fäuste geballt um ihre Werkzeuge. Die Luft ist geladen mit dem Geruch von Schmieröl, Schweiß und aufgestauter Wut.

Oben auf der Bühne steht ein älterer Zwerg mit einer Mähne aus wirrem, silbernem Haar. Sein Brustkorb hebt und senkt sich mit der Kraft seiner Worte, seine Stimme hallt über den Platz.

„Hammerfall und die Geldzwerge arbeiten zusammen!“ donnert er. „Denkt ihr, diese Bastarde könnten sich ihre Söldner leisten? Ihre Handelsprivilegien? Ihre dicken Taschen? Irgendjemand finanziert sie! Und das hier…“ Er schwenkt seine Arme über die Menge, seine Augen funkeln. „Das hier ist genau das, was sie fürchten! Sie haben uns jahrelang in den Dreck getreten, uns in den Ruß unserer eigenen Schmieden ersticken lassen – doch das hier ist unsere Antwort!“

Ein Brüllen geht durch die Masse. Helme schlagen aneinander, Hämmer hämmern auf Schilde, ein Sturm aus Stahl und Stimmen.

Ich runzle die Stirn, drücke die Schultern ein wenig ein und beginne, mich langsam durch die Menge zu schieben. Die meisten sind zu sehr auf den Redner fokussiert, um auf mich zu achten, und das funktioniert zu meinem Vorteil. Schritt für Schritt bahne ich mir einen Weg.

Dann verstummt die Stimme des alten Zwerges plötzlich.

Ein Moment des Schweigens zieht sich über die Menge, bevor seine donnernde Stimme erneut erklingt – diesmal mit einem Ziel.

„Wartet, meine Brüder und Schwestern!“ Seine Worte durchbrechen das aufgewühlte Murmeln wie ein geschmiedetes Beil. „Wir haben einen speziellen Gast.“

Ich bleibe stehen.

Die Menge folgt seinem ausgestreckten Finger – und dreht sich um.

Dutzende Augenpaare fixieren mich, und wie ein Fluss, der sein Bett neu formt, treten sie einen Schritt zurück, lassen einen Raum entstehen, damit ich für alle sichtbar bin.

„Tolgren von Wen!“ Die Stimme des Redners donnert über den Platz. „Der Chefredakteur der Eisernen Feder! Ein guter Zwerg, ein wichtiger für diese Stadt! In den letzten Jahrzehnten der Korruption und des Betrugs war er eine Stimme der Wahrheit!“

Ein unruhiges Raunen geht durch die Menge.

Mein Magen zieht sich zusammen.

Ich bin kein Narr. Ich kenne die Dynamik eines Mobs.

Heute bist du ihr Held.

Morgen bist du ihr Feind.

Ich atme ruhig aus – und hebe langsam den Blick zum alten Zwerg auf der Bühne.

„Es schmeichelt mich, dass unsere Arbeit in der Feder nicht ganz unanerkannt bleibt,“ rufe ich dem alten Zwerg entgegenzunehmen , meine Stimme fest, aber nicht herausfordernd.

Sein Lächeln ist schmal, fast belustigt. Ein Mann, der genau weiß, dass er die Menge in der Hand hält. „Fürwahr, die Eiserne Feder war in einer dunklen Zeit ein kleiner Funke der Hoffnung,“ erwidert er mit gespielter Anerkennung. „Doch wenn ich fragen darf… in dieser wichtigen, entscheidenden Zeit für Lotarm – was will Tolgren von Wen in Hammerfall, dem Distrikt der Lügen und Verräter?“

Ein Raunen geht durch die Masse, schwer wie eine heraufziehende Gewitterwolke. Die Augen richten sich auf mich, wachsamer, lauernder. Die Wut, die eben noch auf Hammerfall und die Geldzwerge gerichtet war, beginnt sich langsam zu verschieben.

Ich hebe eine Hand, ein alter Instinkt, um die Menge leiser werden zu lassen, bevor ich rufe:

„Wer die Schätze der Tiefe erblicken will, der muss mit den Haien schwimmen.“

Ein neuer Laut geht durch die Menge – kein Brüllen, kein Zorn, sondern etwas Nachdenkliches. Ich lasse den Moment wirken.

Dann fahre ich fort, ruhiger, bestimmender:

„Wenn Hammerfall mich kaufen könnte, dann hätten sie es vor zwanzig Jahren getan. Ich muss die Wahrheit herausfinden.“

Das Raunen setzt sich fort, diesmal tiefer, abwägender. Ihre Wut ebbt nicht ab – aber sie zielt nicht mehr nur auf mich. Sie warten auf das Urteil ihres Anführers.

Der alte Zwerg – Melkior, wie ich mich zu erinnern beginne – betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. Er läuft einige Schritte hin und her, lässt das Gewicht seiner Entscheidung sichtbar werden. Dann bleibt er stehen, fixiert mich erneut und nickt.

„Nun gut,“ sagt er schließlich, seine Stimme durchdringt das angespannte Schweigen. „Lasst ihn passieren. Er ist einer von uns – und wenn es etwas gibt, das wir herausfinden müssen, dann wird er es finden.“

Ein Ruck geht durch die Menge, eine kollektive Zustimmung. Die Anspannung löst sich in wohlwollendes Gemurmel auf, und die Schmiede weichen zur Seite, formen eine schmale Gasse für mich.

Ich nicke Melkior zu und trete vor.

Während ich mich durch die Masse bewege, spüre ich die Augen auf mir, fühle die rohe, formbare Kraft dieser Menschen – ihre Wut, ihre Entschlossenheit, ihren blinden Glauben an den Mann auf der Bühne.

Melkior.

Ein Name, den ich mir vielleicht merken sollte.

Dann überschreite ich die Grenze und setze meinen Weg nach Hammerfall fort.

Die Straßen von Hammerfall glänzen im Mondlicht, sauber und makellos wie poliertes Silber. Kein Funken von Ruß, kein Dreck zwischen den Pflastersteinen. Anmutige Brücken, eiserne Laternen, die in kunstvollen Bögen stehen, verziert mit eldarischen Schnörkeln – ein grotesker Kontrast zu dem, was ich gerade hinter mir gelassen habe.

Ich atme aus, während meine Stiefel über das perfekt verlegte Pflaster hallen.

Was zur Hölle tue ich hier?

Ich bin auf dem Weg zu einer Adresse, nur eine Straße entfernt von Sir Winston Scott’s Anwesen – dem wahrscheinlich gefährlichsten Mann in Hammerfall, dem zukünftigen Herrscher über diesen Distrikt, wenn man den Adligen glauben will. Und ich interviewe seinen Bastardsohn, der sich mit Lady Melody eingelassen hat – ebenfalls eine der gefährlichsten Figuren dieser Stadt.

Das hier?

Das ist, als würde ich direkt in den Schlund eines Drachen spazieren und höflich fragen, ob ich einen Blick in seinen Magen werfen darf.

Ich stoße leise Luft aus, schüttele die Gedanken ab.

Aber es muss getan werden.

Wenn ich dieser Sache nicht auf den Grund gehe, dann könnte Hammerfall brennen, und es würde niemanden mehr geben, der den Funken nachverfolgt.

Ich habe keine Wahl.

Mit jedem Schritt wird mein Ziel klarer. Ein großes, schönes Anwesen taucht vor mir auf – geschmackvoll, aber nicht pompös. Eine dezentere Eleganz als die der umliegenden Villen. Es besitzt die Schönheit von Reichtum, aber nicht den übertriebenen Glanz eines Mannes, der sich vor anderen beweisen muss.

Das passt zu dem, was ich über Lavender weiß.

Ich hebe die Hand und klopfe an die Tür.

Es dauert nicht lange, bis sie geöffnet wird.

Ein Zwerg steht vor mir, strenge Gesichtszüge, ein maßgeschneiderter Anzug ohne eine Falte. Seine Haltung ist makellos – ein Mann, der genau weiß, wie man sich präsentiert.

„Mein Name ist Jacob. Sie befinden sich im Anwesen von Lavender Mareau. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Ich mustere ihn kurz. Seine Stimme ist ruhig, aber sein Blick taxiert mich – eine bewusste Messung.

„Tolgren von Wen. Ich muss mit Lavender sprechen.“

Jacob hebt seine Hand, ein klarer Stopp.

„Ihr Termin mit Herr Mareau war vor einer Woche.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch, ein Hauch von Sarkasmus in meiner Stimme.

„Das heißt, ich kann ihn nicht mehr sehen?“

Jacob bleibt regungslos.

„Diese Art von Umgang mit Herr Mareau ist inakzeptabel.“

Sein Ton bleibt höflich, aber der Unterton ist unmissverständlich. Hier gibt es Regeln.

Doch dann folgt ein fast amüsiertes Blitzen in seinen Augen.

„Allerdings kann ich nicht verweigern, dass Ihr unerwartetes Auftauchen für ihn von Interesse sein könnte.“

Er tritt leicht zur Seite, eine einladende Geste – aber auch eine, die deutlich macht, dass ich hier nur reinkomme, weil er es zulässt.

„Begleiten Sie mich in den Wartegang.“

Ich atme aus und trete über die Schwelle.

Jetzt bin ich wirklich im Territorium des Bastardprinzen von Hammerfall.

Ich setze mich auf den mir zugewiesenen Platz, streiche mit den Fingerspitzen über das dunkle Holz der Tischplatte. Abgenutzt, aber mit einer Art schlichter Eleganz, die mir gefällt. Ein Möbelstück, das gelebt hat.

Fünf Minuten.

Dann zehn.

Ich bin geduldig. Das ist Teil des Spiels.

Nach fünfzehn Minuten schließlich öffnet sich die Tür.

Ich brauche keinen zweiten Blick, um ihn zu erkennen.

Lavender tritt ein, sein Gang lässig, seine Haltung so selbstsicher wie eh und je. Doch diesmal ist da etwas Anderes – eine neue Nuance in seinem Auftreten.

Er trägt einen schwarz-weiß gestreiften Pelzmantel, kunstvoll auf die Schultern geworfen, darunter eine edle, aber auffällige Kombination aus einer taillierten Weste und einer mit Nieten besetzten Hose. Seine Stiefel glänzen, und die Farbtöne seines Outfits lassen keinen Zweifel daran, wem er Ehre erweist: Haus Scott.

Das Spiel verändert sich.

Ich lehne mich leicht zurück, betrachte ihn mit gehobener Augenbraue.

„Diesmal keine Masken?“

Ein Anflug von Belustigung huscht über seine Lippen.

Dann setzt er sich mir gegenüber, locker, aber mit der Präzision eines Mannes, der jeden einzelnen seiner Schritte plant.

„Tolgren von Wen,“ sagt er, als würde er einen alten Freund begrüßen. „Ihr taucht also doch auf.“

Seine Stimme ist ruhig, doch der subtile Stich von Amüsement fehlt nicht.

Er lehnt sich vor, mustert mich mit den Augen eines Mannes, der das Blatt bereits kennt, das ich in der Hand halte.

„Und womit habe ich mir diese Ehre verdient?“

Er stellt die Frage, aber es ist offensichtlich, dass er die Antwort längst kennt.

Ich beobachte, wie sich Lavenders Finger spielerisch über die Tischkante bewegen. Rhythmisch. Abwartend.

Sein Lächeln ist sanft, fast amüsiert, aber ich erkenne die Kälte dahinter.

Ein Test.

Doch ich bin kein Schüler.

Ich hebe eine Augenbraue und lehne mich leicht nach vorne. „Ich habe Nachforschungen angestellt über das, was Ihr mir erzählt habt.“

Lavender hält inne, beobachtet mich, wie ein Jäger, der die kleinste Regung seiner Beute prüft. Er sagt nichts.

Also lasse ich ihn zappeln.

Lasse die Sekunden verstreichen.

Dann lehne ich mich entspannt zurück, verschränke die Arme. „Nun, alles, was Ihr mir gesagt habt, wirkt plausibel. Einige Dinge konnte ich sogar als wahr belegen. Und ich konnte nichts widerlegen.“

Ich mache eine kurze Pause, damit er Zeit hat, diesen Hauch von Hoffnung zu kosten.

„Aber ich glaube Euch nicht.“

Lavender blinzelt nicht einmal. Stattdessen gleitet seine Hand in seine Tasche, und eine einzelne Münze erscheint zwischen seinen Fingern. Ein Trick der Gewohnheit.

Er lässt sie über seine Knöchel tanzen.

„Also, seid Ihr nach einer Woche hierher gekommen, um mir zu sagen, dass ich recht habe – und Ihr mir trotzdem nicht glaubt?“

Ich lächle. Oh, es gefällt ihm, nicht wahr?

Dieser Tanz. Diese Dynamik.

Ich lehne mich leicht nach vorne, meine Augen fixieren seine. „Ja. Genau deswegen bin ich hier.“

Lavender kann sich ein leises Kichern nicht verkneifen. Dann wartet er. Lässt Sekunden vergehen, testet mich.

„Wisst Ihr noch, was ich Euch bei unserem letzten Treffen gesagt habe?“ Seine Stimme ist weich, aber messerscharf. Prüfend.

Ich halte seinem Blick stand. „Dass Ihr mir Beweise liefern würdet.“

Lavender nickt langsam. „Exakt. Und vor allem – warum ich Euch Beweise liefern würde. Ich sagte Euch: Ein Mann wie Ihr wird nichts und niemandem trauen, wenn er es nicht mit eigenen Augen sieht.“

Er dreht die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Und genau das wollte ich tun. Zwei Tage Frist – gekommen und gegangen. Und nun eine Woche später taucht Ihr hier auf. Etwas viel verlangt, oder?“

Er mustert mich, sucht nach einem Zucken, nach Unsicherheit.

Ich gebe ihm nichts.

„Dir war doch klar,“ sage ich ruhig, „dass ich nicht einfach unter Deinen Bedingungen hier antanzen würde. Ohne Vorbereitung. Ohne eigene Nachforschungen.“

Eine kleine Spannung huscht über sein Gesicht. Ein unmerkliches Zucken, vielleicht.

Dann lächle ich. Lässig. Einladend.

„Ich bin hier. Also gib mir eine Antwort, Mareau. Wollt Ihr mir nun die Wahrheit zeigen oder nicht?“

Seine Finger trommeln über das Holz. Dann, nach einem Moment der Stille, sagt er:

„Natürlich will ich das.“

Er erhebt sich.

„Steht auf. Wir brechen auf zu Lady Melodies Anwesen.“

Mein Kiefer spannt sich leicht an.

Ein drastischer Schritt.

Einer, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Lavender setzt sich in Bewegung, sein Mantel weht leicht bei jedem Schritt. Ein Hauch von Theatralik, genau richtig dosiert.

Ich bemerke, dass sein Tempo eine Spur zu schnell ist. Absicht.

Ein schmaler Grat zwischen Führung und Flucht.

Ich halte mein eigenes Tempo, aber er zwingt mich, die Distanz zu überbrücken, wenn ich nicht hinter ihm her trotten will wie ein Schreiberling auf der Jagd nach Brotkrumen.

„Spann die Rappen vor die Kutsche, Jakob. Herr von Venn und ich besuchen Lady Melody.“

Der Butler wirkt nicht einmal überrascht. Ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln, eine Belustigung, die tief in der Professionalität verborgen bleibt. Dann nickt er knapp und verschwindet nach links, wo die Stallungen liegen.

Lavender lehnt sich an die wartende Kutsche, sein Blick schon wieder auf mir, als ich die Tür erreiche.

Ich mustere ihn.

„Und Ihr haltet es wirklich für weise, in die Höhle des Löwen zu gehen?“

Er neigt leicht den Kopf. Der Schatten der Laternen tanzt über sein Gesicht.

„Weise?“ Er lächelt. „Keine Ahnung. Ich gebe Euch nur, was Ihr wollt. Was Ihr damit macht, ist Euch überlassen.“

Ich lache leise. Die Dreistigkeit dieses Mannes.

„Nun, es ist nett, dass Ihr mir das eingesteht, doch ich fürchte, es wird mir nicht viel bringen, wenn wir beide tot sind.“

Lavender hebt eine Augenbraue.

„Nun macht Euch mal keine Sorgen, alter Zwerg.“ Sein Tonfall ist sanft, beinahe verspielt. „Keiner wird heute sterben. Überlasst es einfach mir.“

Mein Magen zieht sich leicht zusammen.

Nicht aus Angst.

Nicht einmal aus Misstrauen.

Sondern weil ich genau weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als diesem jungen Mann zu folgen.

Und wenn ich eines in meinem Leben gelernt habe, dann das:

Wer seine Fähigkeit zu wählen abgibt, der macht dasselbe mit seinem Leben.

Der Rhythmus der Kutsche ist gleichmäßig, das leise Rumpeln der Räder gegen das Pflaster wirkt fast beruhigend. Doch es gibt keine Ruhe in diesem Moment – nicht mit den Augen von Lavender Mareau auf mir.

Sein Blick ist messerscharf, nicht so spielerisch wie vorher. Er liest mich.

Von vorne ertönt die Stimme seines Butlers: „Wir erreichen in Kürze Lady Melodies Anwesen, Herr Moreau.“

Lavender nickt kaum merklich, dann richtet sich sein Fokus wieder auf mich.

„Was werdet Ihr Lady Melody erzählen?“

Seine Stimme ist ruhig, aber es steckt etwas in seiner Betonung. Etwas Testendes.

Ich lehne mich leicht zurück. „Würde eine Frau ihrer Position nicht mit mir und meinem Handwerk vertraut sein?“

Lavender lächelt – kurz, aber es ist da.

„Überlasst das einfach mir.“

Dann neigt er leicht den Kopf. „Was Ihr Euch fragen solltet, ist, ob Ihr bereit dafür seid, das zu sehen, was Euch darin erwartet.“

Ich blinzele nicht einmal.

„Es ist mein Job.“

Es ist eine einfache Antwort. Direkt.

Und diesmal ist es Lavender, der als Erster den Blick abwendet.

Ein kleiner Sieg.

Die Kutsche hält an, ein Ruck geht durch den Wagen. Die Tür schwingt auf, kalte Nachtluft strömt herein. Wir treten hinaus.

Vor uns erstrecken sich die massiven Tore von Lady Melodies Anwesen. Wunderschön, reich verziert, doch sie strahlen nicht die Wärme eines Heims aus.

Nur eine Festung, in der die Dame der Marionetten ihre Fäden zieht.

Ein junger Mann, wohlgekleidet und mit einstudierter Haltung, nähert sich uns mit einem abwägenden Blick.

„Entschuldigen Sie mich, doch ich erinnere mich nicht, dass Sie einen Termin mit Lady Melody haben, Herr Mareau.“

Lavender setzt sein typisches Lächeln auf – entspannt, als hätte er schon eine Lösung, bevor es überhaupt ein Problem gibt.

„Das habe ich auch nicht.“ Er zuckt leicht mit den Schultern. „Ich bin lediglich hier, um meine Tüftler zu besuchen. Sie sind schließlich meine Investition. Ich möchte mit ihnen über die Zukunft reden.“

Der Bedienstete wirkt kurz unsicher. Er dreht sich um, läuft ein paar Schritte zu einer kleinen Gruppe weiterer Angestellter, die ihn mit gedämpften Stimmen empfangen.

Lavender nutzt die Zeit, um sich kurz zu mir zu neigen. „Sie spielen ihre Rolle gut, findest du nicht? Die perfekte Mischung aus distanziertem Gehorsam und unterdrücktem Eifer.“

Ich hebe eine Augenbraue.

„Ihr sagt das, als würdet Ihr Euch darin wiedererkennen.“

Lavender schmunzelt nur.

Der Bedienstete kehrt zurück, sichtlich noch nicht ganz überzeugt, aber es spielt keine Rolle mehr.

„Es scheint, Lady Melody hat Euch Zugang gewährt – zumindest, wenn Ihr mit Sylvana oder Cyrus sprechen wollt.“

Sein Blick gleitet über mich.

„Doch wer ist der Zwerg an Eurer Seite?“

Lavender hält sein Lächeln aufrecht, als würde er sich köstlich amüsieren. Dann legt er mir eine Hand auf die Schulter – die Geste eines Geschäftsmanns, der einen Deal abschließt.

„Nur ein weiterer Geschäftspartner.“

Er schiebt mich sanft vor sich her, elegant, aber bestimmend, während der Bedienstete zur Seite tritt und uns passieren lässt.

Worauf lasse ich mich hier nur ein?

Die hohen Fenster des Anwesens lassen das fahle Licht der Laternen auf den polierten Marmor gleiten. Die Hallen sind opulent, in dunklem Holz und vergoldetem Stuck gehalten, doch sie sind nicht prunkvoll. Sie sind berechnend.

Jedes Detail dieses Ortes ist darauf ausgelegt, eine Wirkung zu erzielen – genau wie seine Bewohner.

Lavender führt mich gezielt. Er kennt den Weg.

Ich halte einen Schritt hinter ihm, während seine Stiefel auf dem glatten Boden widerhallen. Mein Blick gleitet über die gewaltigen Gemälde an den Wänden, über die kostbaren Vasen, die in Nischen platziert sind. Über Reichtum, der mehr ist als nur Besitz. Ein Statement.

Schließlich breche ich das Schweigen.

„Habt Ihr die Lage in Lotarm beobachtet, Mareau?“

Lavender verlangsamt seinen Schritt nicht, aber sein Kopf dreht sich leicht zur Seite.

„Es ist unmöglich zu übersehen,“ sagt er mit einer Stimme, die fast beiläufig klingt. „Sie sind wie eine Meute tollwütiger Hunde. Sie wollen das Blut derer, die für ihr Leid verantwortlich sind.“

Er hält einen Moment inne, dann fügt er mit einem kaum merklichen Lächeln hinzu:

„Aber die Wahrheit ist, sie werden jedes Blut nehmen, das sie kriegen können.“

Es ist nicht die Härte seiner Worte, die mich irritiert. Es ist ihre Klarheit. Die schonungslose Ehrlichkeit.

Ich brauche einen Moment, um das einzuordnen. Dann frage ich:

„Was haltet Ihr von ihrem Tribun? Ich traf ihn auf dem Weg hierher. Sein Name ist Melkior.“

Lavender hebt eine Augenbraue.

„Warum fragt Ihr mich nach ihm?“ Seine Stimme bleibt gelassen. „Was macht ihn so besonders?“

Ich überlege kurz, formuliere meine Antwort vorsichtig.

„Die Art und Weise, wie er diese Menschen formt und fügt…“ Ich halte inne, erinnere mich an die tobende Menge, an das hämmernde Echo ihrer Hämmer. „Diese fast wahnsinnige Überzeugung, die er in ihre Seelen pflanzt – sie ist beängstigend.“

Lavender lächelt. Ein Lächeln, das weder spöttisch noch belustigt ist. Eher… wissend.

Seine Augen mustern mich, dann sagt er:

„Erinnert mich an jemanden.“

Ich runzele die Stirn. Er holt weiter aus.

„Tut Ihr nicht genau dasselbe mit Eurer Zeitung?“

Ich halte einen Moment inne, überlege, was er meint, doch bevor ich antworten kann, spricht er weiter:

„Ihr sucht nach Wahrheit, ja. Aber Ihr seid es, der entscheidet, was die Leute sehen. Eure Worte formen ihre Gedanken. Ihr gießt eine Idee in sie hinein, und wenn Ihr es gut macht, dann glauben sie, sie hätten sie selbst gehabt.“

Ich verenge die Augen, aber er lässt mir keine Zeit zum Widerspruch.

„Was ist das, wenn nicht Überzeugung? Was ist das, wenn nicht eine Bewegung? Der einzige Unterschied zwischen Euch und Melkior ist, eure Feder ertränkt Papier mit formbarer Tinte, sein Hammer ertränkt die Straßen in dem warmen Blut derer, die er schützen will.“

Ich öffne den Mund, um zu kontern, doch er spricht weiter:

„Ihr gebt den Menschen, was sie hören wollen. Und die Konsequenzen?“ Er hebt eine Augenbraue. „Sind Euch egal.“

Ich bin sprachlos.

Für einen Moment – einen einzigen Moment – weiß ich nicht, was ich sagen soll.

Lavender geht weiter, ohne sich nach mir umzusehen.

Und ich folge ihm, ohne es zu merken. Wir bewegen uns eine Treppenzeile herab.

Lavender stößt die Tür mit einer unnötigen Theatralik auf. Das Holz schwingt weit auf, als wollte er nicht nur eintreten, sondern seine Ankunft regelrecht inszenieren. Sylvana zuckt zusammen, ihr Griff um ein kleines Werkzeug in ihrer Hand verkrampft sich für eine Sekunde. Cyrus, der in einem alten, durchgesessenen Sessel gelümmelt hatte, richtet sich langsam auf, sein Blick scharf und fokussiert auf Lavender gerichtet.

„Hallo ihr beiden! Na, wie geht’s euch?“ ruft Lavender in die Werkstatt hinein, als wäre dies ein spontaner Besuch unter alten Freunden.

Sylvana verdreht die Augen, während Cyrus nur ein trockenes Schnauben von sich gibt. Und doch—ich erkenne es in ihren Gesichtern—eine gewisse Erleichterung, dass es Lavender ist, der hier auftaucht, und nicht jemand anderes.

Ich trete vorsichtig hinter ihm in den Raum, mein Blick gleitet über das Chaos aus Werkzeugen, Skizzen und unförmigen Maschinen. Die Luft riecht nach Öl und Metall, eine vertraute Mischung, die mich an die Schmieden von Lotharm erinnert, nur dass hier kein klares System zu erkennen ist—eher das geordnete Chaos zweier Tüftler, die ihren eigenen Regeln folgen.

Dann sehe ich es.

In der Mitte des Raums, auf einem breiten Tisch aus dunklem Holz, liegt er.

Der Golem.

Ich bin schon vielen Konstruktionen begegnet—modernen, alten, zwergischen, menschlichen. Doch das hier… Das ist etwas anderes. Etwas daran ist zu perfekt. Die Linien des Metalls sind nicht bloß geschmiedet, sondern geformt, als hätte die Welt selbst diesen Körper aus einem einzigen Stück geschaffen. Die glatte Oberfläche reflektiert das Licht der Werkstatt in einem kühlen, stillen Schimmer. Es ist fremdartig. Fast wunderschön.

Und dann… dann ist da dieses Gefühl.

Ein Knistern in der Luft, kaum wahrnehmbar, aber spürbar wie die plötzliche Stille vor einem Sturm. Meine Augen fixieren die Oberfläche des Golems, und für einen Moment meine ich, etwas zu sehen—einen Schatten, der sich über das Metall bewegt, als würde sich das Ding unter meiner Beobachtung verändern. Ich blinzele. Es ist fort.

Ich trete näher, meine Neugier überwindet die Vorsicht. Doch kaum mache ich einen Schritt in Richtung des Golems, bewegt sich eine Gestalt in mein Blickfeld. Ein Dunkelelf mit verschränkten Armen und finsterem Blick stellt sich mir in den Weg.

„Hey, hey, hey,“ sagt Cyrus mit einem drohenden Unterton. „Du kannst hier nicht einfach reinspazieren und unsere Sachen anfassen.“

Ich blicke zu ihm auf. Sein Ton ist nicht feindselig, aber definitiv nicht einladend. Ein Schutzinstinkt, vermute ich—dieses Ding gehört ihnen, und sie wissen genau, wie wertvoll es ist.

Bevor ich den Mund aufmachen kann, taucht Lavender neben mir auf und legt mit gespielter Sorglosigkeit eine Hand auf meine Schulter.

„Keine Sorge, Cyrus,“ sagt er in einem Tonfall, der so glatt ist wie polierter Marmor. „Der Mann ist nur ein Freund der Händlergilde. Treibt den Wert des Golems ein wenig hoch für den Verkauf, so macht jeder Gewinn.“

Cyrus starrt mich noch ein paar Sekunden lang finster an, als würde er versuchen, hinter meine Fassade zu blicken. Dann atmet er schwer aus und tritt mit einem missmutigen Nicken zur Seite.

Ich erwidere das Nicken, mehr aus Formalität als aus Dankbarkeit, und gehe näher an den Golem heran. Mein Blick fällt auf die geöffnete Luke in seinem Rücken. Dort, eingebettet in eine makellos gefertigte Einfassung, befindet sich ein Knopf, umrahmt von einem Kreis aus Runen.

Ich beuge mich vor, meine Finger streichen vorsichtig über die feinen Gravuren.

Das hier ist nicht zwergisch.

Es ist auch nicht die Sprache der alten Vorfahren, keine der uralten Runen, die man tief in den Hallen Lotharms noch finden kann.

Es ist etwas anderes. Etwas eleganteres. Erhabeneres. Aber auch—arrogantes.

„Was sind das für Runen?“ frage ich, während ich aufrecht stehe und mich umdrehe.

Sylvana tritt an meine Seite, ihr Blick folgt meinem auf das Muster.

„Man nennt es Eldarin,“ erklärt sie. „Die alte Sprache der Elfen.“

Ich hebe eine Augenbraue. „Also nehme ich an, hier handelt es sich nicht um ein zwergisches Artefakt.“

Sie zögert kurz, als wäre die Antwort so offensichtlich, dass sie die Frage selbst nicht versteht. „Nein, das denke ich nicht.“

Ich nicke nur, ziehe mein Notizbuch heraus und notiere mir einige Details. Es sind nicht die Runen selbst, die mich nervös machen. Es ist, dass ich nicht genau sagen kann, woher dieser Golem kommt. Oder was er ist.

Ich schließe das Notizbuch mit einem leisen Schnappen und stecke es zurück in meine Tasche.

„Verstehe,“ sage ich knapp. „Ich denke, ich habe alles, was ich brauche.“

Dann wende ich mich um und mache Anstalten zu gehen.

Lavender bemerkt es, und sein übliches Lächeln kehrt auf sein Gesicht zurück, als er sich an Sylvana und Cyrus wendet.

„Ich hätte natürlich gerne noch länger mit euch geplaudert,“ sagt er fast beiläufig, während er sich in Richtung Tür bewegt, „doch ich muss unseren Gast leider begleiten.“

Er läuft voraus, schneller als nötig, sodass ich gezwungen bin, ihm zu folgen.

Ich halte noch einen Moment inne, blicke ein letztes Mal auf den Golem.

Es gibt viele Geschichten in dieser Stadt, aber manche sind älter als selbst die Mauern, die sie tragen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich gerade eine neue Geschichte aufdecke oder eine alte aufwecke.

Die Hallen von Melodies Anwesen erstrecken sich mit kühler Eleganz um uns herum, während unsere Schritte über den glänzenden Marmorboden hallen. Das Licht der Kronleuchter wirft lange, tanzende Schatten über die kunstvollen Wände. Doch ich nehme kaum etwas davon wahr. Meine Gedanken sind schärfer als je zuvor, meine Faust unbewusst geballt.

Ich atme tief ein. Dann adressiere ich den Elefanten im Raum.

„Du hast mich angelogen, Mareau.“

Lavender läuft weiter, sein Gang unbeeindruckt, fast lässig. Doch ich sehe, wie sich sein Kiefer für den Bruchteil einer Sekunde anspannt.

„Das ist kein zwergischer Golem,“ fahre ich fort, mein Blick bleibt auf seinem Rücken. „Hier geht es nicht um etwas, das Lotarm gestohlen wurde. Es ist ein elfisches Artefakt.“

Jetzt dreht er sich endlich zu mir um. Sein Blick ist kalt, beinahe gleichgültig.

„Natürlich habe ich das,“ sagt er, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. „Ich habe dir das gegeben, was nötig war, damit du hierherkommst und dir anschaust, was wirklich passiert.“

Mein Magen zieht sich leicht zusammen. Seine Ehrlichkeit ist fast noch schneidender als seine Lüge.

„Aber wenn wir jetzt das Moralspiel spielen wollen,“ fährt er fort, seine Stimme seidig, aber mit einem Hauch von Belustigung, „Wie ehrlich warst du denn zu mir, Tolgren?.“

Meine Stirn runzelt sich unwillkürlich. „Was meinst du damit?“

Jetzt bleibt er stehen, dreht sich vollständig zu mir um, und sein Blick ist scharf wie eine Klinge.

„Du hast mir gesagt, du wärst zu mir gekommen, um die Wahrheit herauszufinden.“ Er hebt eine Augenbraue, fast belustigt. „Aber die Wahrheit ist: Du bist hergekommen, um mich zu entlarven.“

Ich öffne den Mund, um zu protestieren, doch er hebt eine Hand, bevor ich dazu komme.

„Dein Bauchgefühl sagt dir, dass ich lüge. Und du hast recht.“ Er macht einen kleinen Schritt auf mich zu. „Aber nicht auf die Art und Weise, wie du es dir erhofft hast.“

Die Worte treffen mich, auch wenn ich mir nichts anmerken lasse.

„Ja, das ist kein zwergischer Golem,“ sagt er ruhig, fast schon versöhnlich. „Hier geht es nicht um die Ehre Lotarms oder um die Schmiede.“

Er lehnt sich ein Stück näher an mich heran, sein Blick fest.

„Aber alles andere, was ich dir gesagt habe… du weißt, dass es verdammt nochmal wahr ist.“

Mein Atem wird schwerer. Ich will widersprechen. Will sagen, dass ich immer noch nicht sicher bin. Aber tief in meinem Inneren weiß ich es längst.

„Du weißt, wie gefährlich diese Frau ist,“ flüstert Lavender. „Und du weißt, was passiert, wenn du hierüber nicht berichtest.“

Ich blicke ihm in die Augen und sehe nichts als pure Berechnung. Keine Emotion, keine Reue. Nur die unerschütterliche Gewissheit eines Mannes, der genau weiß, was er tut.

„Ich habe getan, was nötig ist,“ sagt er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein leises Echo in den Hallen.

Dann zuckt er mit den Schultern. „Und ja, ich habe gelogen.“ Sein Blick durchbohrt mich. „Du hast deine Motive verschleiert.“

Stille senkt sich für einen Moment zwischen uns. Eine unausgesprochene Wahrheit liegt schwer in der Luft.

„Also schätze ich, wurden wir heute wohl beide enttäuscht.“

Wut sammelt sich in meinem Bauch, heiß und schwer wie geschmolzenes Eisen. Ich spüre, wie meine Kiefermuskeln sich anspannen, meine Finger sich unbewusst in meine Handflächen graben. Ich halte inne, zwinge mich, ruhig zu atmen – aber meine Stimme kommt dennoch schärfer, als ich es beabsichtige.

„Und wenn ich das tue?“ Meine Worte hallen leicht in den hohen Hallen wider. „Du weißt verdammt nochmal genau, dass das das Fass zum Überlaufen bringen wird. Die Schmiede werden marschieren, und diese Stadt wird in Blut getränkt. Willst du das verantworten?“

Lavender hält meinem Blick stand, doch diesmal ist da keine Spur von seinem üblichen Charme, keine spielerische Leichtigkeit, keine masochistische Freude daran, mich in die Enge zu treiben. Er seufzt, leise, fast unmerklich. Dann zieht er langsam eine Münze aus seiner Tasche, lässt sie in seiner Hand rotieren, immer wieder, das Metall glänzt im gedämpften Licht der Flure. Sekunden verstreichen, in denen nur das leise Klick, klick, klick der rotierenden Münze zu hören ist.

Dann spricht er.

„Die Schmiede werden so oder so marschieren.“ Seine Stimme ist ruhig, aber diesmal lastet etwas Schweres darin. „Du hast sie gesehen, Tolgren.“

Ich spüre, wie sich meine Brust zusammenzieht. Natürlich habe ich sie gesehen. Ich habe das Feuer in ihren Augen gesehen, die Hämmer, die sie auf ihre Schilde geschlagen haben. Die wachsende Wut, die unaufhaltsame, blinde Entschlossenheit. Die Frage ist nicht mehr, ob sie marschieren.

Die Frage ist, wohin.

Lavender sieht mich immer noch an, die Münze ruht nun still in seiner Hand. Dann sagt er leise, fast resigniert:

„Aber wenn du ihnen ein Ziel gibst, das ihre Wut verdient… dann ist vielleicht nicht alles umsonst.“

Er dreht die Münze zwischen den Fingern, sein Blick gleitet über mein Gesicht, als würde er jede meiner Regungen analysieren.

„Dann gibt es vielleicht noch eine Zukunft für Lotarm.“

Die Worte hängen in der Luft, und ich hasse es, dass sie Gewicht haben.

„Das geht gegen alles, wofür ich stehe.“

Meine Stimme trägt kaum, aber ich weiß, dass Lavender mich hört. Er hält inne, nur für einen Moment, bevor er sich langsam wieder zu mir umdreht. Seine Augen mustern mich, nicht spöttisch, nicht herablassend – nur prüfend.

„Du bist ein ehrlicher Mann, Tolgren.“ Seine Stimme ist fast… bedauernd. „Aber sag mir eins.“

Er beginnt, langsam auf mich zuzugehen, seine Stiefel hallen leise auf dem makellosen Marmor der Halle. Ich bleibe stehen, lasse ihn kommen, lasse ihn reden.

„Wie kann ein ehrlicher Mann jemals so reich und mächtig werden wie die Adligen Hammerfalls, wie die Elfen Mithrandirs, oder die, die diese Stadt von den Schatten aus kontrollieren?“

Er hält einen Moment inne, als wolle er sicherstellen, dass ich wirklich zuhöre. Dann spricht er weiter, seine Stimme weich, aber messerscharf.

„Mit harter Arbeit?“ Er schüttelt den Kopf. „Nein.“

„Mit Überzeugung und Idealen?“ Wieder dieses leise, wissende Lächeln. „Nein.“

Er hält die Münze hoch, lässt sie einmal durch seine Finger gleiten.

„Vielleicht findet er in der Kanalisation ein unbezahlbares Artefakt. Vielleicht setzt er beim Rennen auf das richtige Pferd.“

Dann schließt seine Hand sich um die Münze, und ich sehe es kommen, bevor es passiert.

Mit einer fließenden Bewegung tritt er näher, hebt meinen Arm und platziert die Münze in meine Handfläche. Seine Finger berühren meine nur für den Bruchteil einer Sekunde – kalt, fest, endgültig.

„Oder…“ Seine Stimme senkt sich, als wolle er ein altes Geheimnis flüstern. „Vielleicht setzt er auf den richtigen Mann.“

Er lässt mich stehen, dreht sich um und beginnt, davonzulaufen.

Ich blicke auf die Münze in meiner Hand. Die Kälte des Metalls scheint tiefer in meine Haut zu kriechen, als sie sollte.

Und in meinem Kopf dreht sich eine Frage, die ich hasse, weil ich sie mir überhaupt stelle.

„Was willst du von mir?!“

Meine Stimme hallt durch die opulenten Hallen, prallt von den verzierten Wänden ab, als würde die Stille sie verschlucken.

Lavender läuft weiter, sein Schritt bleibt locker, unbeeindruckt, als hätte er diese Antwort bereits erwartet. Doch dann – gerade als ich glaube, dass er mich ignorieren wird – dreht er leicht den Kopf über die Schulter.

Sein Blick trifft meinen.

„Dass du eine Entscheidung triffst, Tolgren.“

Seine Stimme ist ruhig, beinahe beiläufig, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

„Die Stadt verändert sich und die Götter werfen eine Münze. Auf welche Seite wird sie fallen?.“

Dann wendet er sich wieder nach vorn und verschwindet um die nächste Ecke, sein Mantel schwingt hinter ihm her wie der Schatten einer Welle, die sich bereits zurückzieht.

Ich bleibe zurück, meine Faust um die Münze in meiner Hand geschlossen. Die Worte klingen in meinem Kopf nach, während das Gewicht der Entscheidung auf meinen Schultern lastet.

Kein Mann sollte diese Macht besitzen.


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