Kapitel 30 - Die Klinge
30. Die Klinge
Ich betrachte Melody, und sie betrachtet mich.
Ein stilles Kräftemessen. Kein Wort wird verschwendet, kein Blick ist zufällig.
Die Kerzen werfen flackernde Schatten über die langen, dunklen Wände meines Arbeitszimmers. Ein Raum, gebaut für Gespräche, die keine Zeugen dulden.
Ich lasse mein Weinglas kreisen, beobachte, wie das Licht sich in dem tiefroten Tropfen bricht.
„Lady Melody.“
Ich spreche ihren Namen wie ein Urteil, nicht wie eine Begrüßung.
Sie hebt leicht das Kinn. Kein Zittern in den Lippen, kein unsicheres Scharren ihrer Finger. Selbstbewusst. Berechnend.
„Sir Scott.“
Ein Hauch von Respekt – gerade so viel, dass es nicht herablassend wirkt. Gerade so wenig, dass es nicht unterwürfig ist.
Ich nehme mir Zeit.
Ich weiß, dass meine Stille ihr etwas abverlangt. Dass jede Sekunde, in der sie hier steht und wartet, sie zwingt, nach meiner nächsten Bewegung zu suchen. Aber sie zeigt nichts.
Schade.
„Ich hoffe, du bist nicht töricht genug, diesen Besuch als Höflichkeit zu tarnen.“
Ihr Lächeln ist messerscharf. „Ich würde euch nicht mit Floskeln beleidigen, Sir Scott.“
„Und doch beleidigst du mich bereits.“
Ich stelle das Glas auf den Tisch, mein Blick ruht kalt auf ihr.
„Indem du meinen Sohn in deine Spielereien hineinziehst.“
Sie bleibt stehen. Keinen Schritt weiter, keinen zurück. Sie misst mich, genau wie ich sie messe.
„Ihr habt mich selbst darum gebeten, seine Augen von der Fährte seiner Mutter zu lenken.“
Sie spricht es ruhig aus, als wäre es ein unumstößlicher Fakt.
Ich spüre, wie mein Blick sich verengt.
„Was ich darüber hinaus tue, geht euch nichts an.“
Ihre Stimme ist sanft. Viel zu sanft.
Ein gewandtes Duell mit bloßen Klingen – meine ist aus kaltem Stahl, ihre in Seide gehüllt.
„Alles geht mich etwas an, wenn es mein Erbe betrifft.“
Sie hebt eine Braue. „Ich habe Anora direkt in meiner Nähe untergebracht.“
Ich lehne mich in meinem Sessel zurück, meine Finger leicht aneinandergelegt.
„Wenn er dem Geheimnis seiner Mutter zu nahe kommt, werden wir es wissen, bevor er es selbst realisiert.“
Sie ist vorbereitet. Natürlich ist sie das.
Ich nicke langsam.
„Effizient, wie immer.“
Ein Hauch von Zufriedenheit huscht über ihr Gesicht – ein winziger Triumph, aber ich sehe es.
Ich schenke ihr diesen Moment.
„Ich habe ein Jahrzehnt in diesen Jungen investiert.“
Mein Blick verlässt sie, schiebt sie beiseite.
„Die besten Mentoren, die striktesten Lehrer. Er wurde geschult in Rhetorik, Strategie, Kampf. Soranische Politik fließt in seinem Blut, Maskenbälle sind sein natürliches Habitat. Ich habe ihm alles gegeben, was ein Erbe braucht.“
Ich lehne mich leicht vor.
„Und du wirst ihn nicht unterschätzen.“
Sie hält meinem Blick stand. Natürlich tut sie das.
„Ich unterschätze niemanden, Sir Scott. Schon gar nicht euren Sohn.“
Mein Lächeln verzieht sich kaum merklich.
„Gut.“
Sie atmet langsam ein. Prüfend.
„Ihr haltet große Stücke auf ihn.“
Ich neige leicht den Kopf. „Er ist gemacht für den eisernen Tanz.“
Sie hält inne, und ich sehe das leichte Zucken ihrer Finger, das kaum merkliche Heben ihrer Schultern.
„Und dennoch“, fährt sie schließlich fort, „habt ihr ihn aus eurer Nähe geschickt. Fort aus euren Hallen. Fort von eurem Blick. Warum?“
Clever.
Ich mustere sie für einen Moment.
„Damit er seine Lektionen lernt.“
Ein Hauch eines Lächelns kräuselt ihre Lippen. „Und wenn er sie nicht lernt?“
„Dann ist er es nicht wert.“
Ein leises Knistern liegt in der Luft. Ein unausgesprochener Gedanke.
Ich lasse mein Weinglas los, stehe langsam auf. „Treff ihn da, wo er verwundbar ist.“
Ihr Blick bleibt ruhig. Wachsam.
„Und wo, meint ihr, ist das?“
Ich trete näher, lasse meinen Schatten über den Tisch fallen, bis nur noch sie und ihr Lächeln im Licht der Kerzen übrig sind.
„Sein junges Herz schwimmt immer noch in Träumen des Idealismus.“
Ich schwenke das Glas leicht, betrachte das dunkle Rot.
„Reiß es ihm heraus.“
Ich sehe es. Dieses leise, kaum merkliche Zucken in ihrem Blick, als ob sie ein Geheimnis erfährt, das sie nicht erwartet hat.
Sie sagt nichts.
Sie versteht.
Und das ist alles, was ich brauche.
„Dann erhältst du, was du brauchst.“ Ich hebe das Glas. „Und ich meinen Nachfolger.“
Melody lehnt sich leicht zurück, das Glimmen ihres Lächelns ist eine kalkulierte Bewegung – gerade genug, um nicht spöttisch zu wirken.
„Was ist, wenn ihr es seid, der ihn unterschätzt?“
Ein Hauch von Belustigung schwingt in ihrer Stimme, kaum mehr als ein Flüstern unter der Oberfläche. „Ihr seht die Wahrheit als eine gegebene Konstante. Etwas Absolutes.“
Sie hebt ein Glas, dreht es langsam in ihren Fingern. Das Licht bricht sich darin, verzerrt die Flüssigkeit darin wie ein Prisma.
„Euer Sohn legt sie wie eine Waffe an die Kehle seiner Feinde.“
Dann setzt sie das Glas ab und sieht ihn direkt an, ihre Augen scharf, wissend.
„Was ist, wenn eure Erwartungen längst nur noch durch die verdrehte Maske existieren, die er euch aufgesetzt hat?“
Die Worte fallen wie ein wohlplatziertes Messer.
Ich spüre, wie meine Kiefermuskeln sich für den Bruchteil einer Sekunde anspannen. Ein unbedeutendes, unmerkliches Zucken – für die meisten. Aber Melody ist nicht die meisten.
„Eine lächerliche Implikation.“
Meine Stimme bleibt ruhig, unbewegt. Meine Hände falten sich auf der Armlehne meines Sessels, meine Haltung bleibt dieselbe – ein Monument, das sich nicht erschüttern lässt.
„Die Realität lässt sich nicht täuschen.“
Ich halte ihren Blick, bis das Glimmen ihres Lächelns einen Hauch von Spannung verliert.
„Und die Realität ist,“ fahre ich mit chirurgischer Präzision fort, „ihr werdet genauso Wort halten, wie er.“
Ein Moment der Stille.
Dann hebt Melody langsam ihr Glas und nimmt einen kleinen, bedachten Schluck.
Ein Lächeln huscht über ihre Lippen.
„Nun.“
Sie setzt das Glas zurück auf den Tisch, den Blick unverändert auf mich gerichtet.
„Dann sind wir uns ja einig.“
Ein Moment vergeht.
Dann hebt sie ihr Kinn, ihr Blick fest, und verneigt sich leicht.
Ein Hauch von Triumph in ihrer Haltung.
Gut.
Sie dreht sich um und verlässt den Raum, ihr Gang leichtfüßig, aber nicht überhastet.
Ich sehe ihr nach.
Ich habe sie geprüft. Sie hat bestanden.
Aber nun steht die wahre Prüfung bevor.
Lavender ist mein Sohn. Mein Blut. Mein Erbe.
Er kann diese Welt entweder mit einer Hand aus Stahl führen – oder als weiteres unbedeutendes Opfer in ihrem Spiel enden.
Diese Entscheidung überlasse ich ihm.
Ich werde nur sicherstellen, dass er sie trifft.
Ich betrachte mich im Spiegel.
Das Licht der Kerzen wirft sanfte, schmeichelnde Schatten auf mein Gesicht – eine Kunst für sich. Ich habe mich nie der Illusion hingegeben, dass Macht allein reicht. Sie muss verkörpert werden. Präsentiert.
Dorian tritt hinter mich, akkurat wie immer, sein Gesicht neutral, während seine geübten Hände Puder auf meinem Wangenknochen verteilen. Das Makeup ist subtil. Nur ein Hauch, gerade so viel, dass es das Licht reflektiert und meine Präsenz schärft.
Ich bleibe still, lasse ihn tun, was er tun muss. Doch dann spüre ich es – ein fast unmerkliches Verharren seiner Finger, bevor er beginnt, mit einem feinen Pinsel über meine linke Wange zu fahren.
Über die Narbe.
Ich halte Dorian mit einem kurzen Handzeichen auf.
„Nicht.“
Er blinzelt, zieht sich leicht zurück. „Aber Sir Scott, eure Präsenz sollte vor den Augen der Welt so perfekt sein, wie euer Wesen selbst.“
Ich atme tief ein, dann stehe ich langsam auf. Meine Bewegung ist fließend, kontrolliert. Dorian macht instinktiv einen Schritt zurück.
„Mein treuer Dorian.“ Ich drehe mich zu ihm um, meine Stimme ruhig, aber gewichtig. „Perfektion existiert nicht.“
Er sagt nichts. Wartet. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, wann ich nicht unterbrochen werden will.
Ich lasse meine Finger über den Rand meines Ärmel gleiten, als würde ich die Worte selbst abwägen. Dann sehe ich ihm direkt in die Augen.
„Es geht darum, jeden kleinsten Winkel deines Potenzials in Stahl zu schmieden.“
Ich trete an den Spiegel heran, betrachte mein eigenes Abbild. Die feinen Linien, die mein Gesicht gezeichnet haben. Die Jahre, die in der Präzision meines Ausdrucks liegen.
„Die Unreinheiten, die übrig bleiben. Die Makel.“
Meine Finger streichen leicht über die Narbe, kaum mehr als eine Spur in der Haut. Ein altes Andenken. Eine Lektion, die nicht getilgt werden darf.
„Sie verderben die Klinge nicht, Dorian.“ Ich lasse die Hand sinken, grinse leicht. „Sie machen sie wirklich tödlich.“
Dorian senkt leicht den Kopf, doch ich sehe, dass er versteht.
Er tritt zurück, stellt das Puder beiseite. Ich betrachte mich erneut im Spiegel. Das Bild ist genau so, wie es sein soll.
„Das ist es, was dieser Stadt mangelt.“
Ich spreche es nicht in Richtung Dorian, sondern in den Raum, als würde ich die Worte der Welt selbst überlassen.
„Die Fähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken.“
Ich lasse den Satz in der Stille verharren, koste den Moment aus.
Dann drehe ich mich um, mein Grinsen schärfer als jede Klinge.
„So lass mich ihr ultimativer Test sein.“
Ich sehe, wie Dorian die Mundwinkel leicht hebt – sein stilles Zeichen der Zustimmung.
„Was meint ihr, mein guter Dorian?“
Er neigt leicht den Kopf, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Belustigung.
„Ich denke, Sir Scott, die Stadt hat keine andere Wahl.“
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