Kapitel 3 - Pechvögel

3. Pechvögel

Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln, während ich mich den steilen Hang hinaufkämpfe. Der Wind pfeift durch die schroffen Felsen und trägt Eiskristalle mit sich, die sich wie Nadelstiche auf meinem Gesicht anfühlen. Die Luft ist dünn, und jeder Atemzug brennt in meiner Lunge.

An meinem Gürtel baumeln die zusammengebundenen Klauen zweier Sensan-Eulen, ihre leblosen Körper schwingen mit jedem Schritt gegen meinen Oberschenkel. Ihre kleinen Körper fühlen sich schwerer an, als sie sollten. Ich ziehe meinen Mantel enger um mich, blicke herb auf mein gefiedertes Gepäck und murmele in den Wind: „Das Leben findet einen Weg, hm?“

Die Sensan-Eulen sind selten hier oben, und diese beiden sind jung, fast noch Küken. Ein schneller Fang dank der ätherischen Öle, die ich in ihre Höhlenöffnung geträufelt habe, um sie herauszulocken. Effizient und einfach, wie die Zatsudani es mir beigebracht haben.

Effizienz bedeutet in den Bergen von Zatsudan Überleben. Ihr Fleisch wird uns für ein paar Tage reichen – wenn wir sparsam sind. Aber ich weiß, dass Vance sie kaum anrühren wird. Er war heute Morgen ungewöhnlich still.

Ich hoffe, dass er wenigstens das Feuer gemacht hat.

Der Eingang zur Höhle ist ein klaffender schwarzer Schlund inmitten der weißen Einöde. Der würzige Geruch von Räucherstäbchen hängt in der Luft, träge und schwer, während ich meine Stiefel abklopfe und eintrete.

„Vance?“ Meine Stimme hallt durch die alten Gänge. Nichts.
Ich lege die Eulen ab und rufe erneut: „Vance, bist du hier?“
Meine Schritte werden schneller, mein Instinkt sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Dann biege ich um eine Ecke, und da ist er.

Er sitzt auf dem kalten Steinboden, umgeben von einem kleinen Schrein, den er aus drei Holzfiguren und zwei brennenden Räucherstäbchen aufgebaut hat. Der Rauch kringelt sich um seine Silhouette, während die Flammen Schatten über sein Gesicht tanzen lassen. Seine Hände – groß und gezeichnet von Narben – liegen gefaltet zwischen seinen Knien, und sein Kopf ist leicht gesenkt.

„Ich hab dir gesagt, dass du mich auf diesem Kontinent nicht so nennen sollst, Lenora,“ sagt er, ohne aufzusehen. Seine Stimme ist ruhig, fast schneidend. „Ich heiße Zhan. Und du bist Senva. Oder hast du das vergessen?“

Seine purpurnen Augen blitzen, als er mich schließlich ansieht, scharf und durchdringend. Ein schwaches Lächeln spielt um seine Lippen, aber es erreicht nicht seine Augen.

Ich trete näher, knie mich vor ihn und lasse meinen Blick über den Schrein gleiten. Die Figuren sind grob geschnitzt, aber mit einer Sorgfalt angeordnet, die ich nur von Vance kenne.

„Scheiße, ich hatte keine Ahnung, dass heute…“ Meine Worte brechen ab, als Schuldgefühle wie ein Stein in meinem Magen sinken.

Vance antwortet nicht. Stattdessen greift er nach den Figuren, steckt sie behutsam in seine Gürteltasche und drückt die Räucherstäbchen mit zwei Fingern aus.

Ich lege eine Hand auf seine Schulter und suche seinen Blick, aber er weicht mir aus. Sein Körper ist schwer, seine Augen müde.

Meine Finger gleiten zu meinem Gürtel, wo ich die kleine Spieluhr berühre, die er mir vor Jahren gegeben hat. Ich ziehe sie hervor, drehe den Mechanismus und lasse die Melodie erklingen.

Die zarten Noten füllen die Höhle, klar und melancholisch, wie ein leises Flüstern aus der Vergangenheit.

Vance schließt die Augen, und für einen Moment scheint er weit weg zu sein, an einem Ort, den ich nicht erreichen kann. Die Spannung in seinen Schultern lässt nach, und ich sehe, wie der Schmerz kurz von ihm weicht, als die Melodie ihn einhüllt.

Ich lasse sie einen Moment spielen, dann schließe ich die Spieluhr wieder und stecke sie zurück. „Das reicht für heute,“ sage ich leise, meine Stimme sanft, aber entschlossen.

Er öffnet die Augen, und sein Blick trifft meinen. Ich halte ihn fest, lasse ihn nicht ausweichen.

„Zehn Jahre,“ flüstert er schließlich. „Kannst du das glauben? Zehn Jahre, seitdem sie weg sind.“

„Sie werden immer hier sein,“ antworte ich, während ich seine Wange mit meiner rauen Hand berühre. „Denn du bist hier.“

Ich halte sein Gesicht, zwinge ihn, mich anzusehen. „Nur noch dieser eine Job, Vance. Dann bauen wir diese Hütte in Onderon. Wir fangen Fische, legen die Füße hoch und werfen jeden verdammten Brief von Ren in die Feuerstelle.“

Ein schwaches, gequältes Lächeln zuckt über sein Gesicht. „Onderon, ja? Keine Krähen mehr.“

Ich hebe eine Braue. „Eulen, Vance. Das hier sind Eulen.“ Ein schiefes Lächeln spielt um meine Lippen, bevor ich hinzufüge: „Die Krähen in Onderon schmecken zwar besser, aber für dich verzichte ich natürlich auch auf die.“

Ein schwacher Glanz in seinen Augen, ein Hauch von Amüsement, und das genügt mir.

Dann richte ich mich auf und strecke ihm die Hand entgegen. „Komm, ich mach uns Feuer. Du brauchst was im Magen.“

Er greift nach meiner Hand, und ich ziehe ihn hoch. Zusammen gehen wir durch die kalten Tunnel zurück. Die Melodie der Spieluhr scheint noch immer in der Luft zu hängen, ein leiser Nachhall von Trost.

Nur noch dieser eine Job.

Der Schnee beißt in meine Haut, und jeder Atemzug brennt wie Feuer in meiner Brust. Der Abstieg ist mühsam, der Pfad schmal und tückisch, aber wir müssen weiter. Der Wind ist erbarmungslos, doch die Stille zwischen mir und Vance ist schwerer als jede Schneedecke.

Vor uns liegt Torshaven, ein unscheinbares Dorf, das sich inmitten der schroffen Berge duckt. Die Kamine rauchen, und ein Fluss glitzert zwischen den Häusern – schmal, beinahe verborgen unter einer dünnen Eisschicht. Doch die Ruhe ist eine Illusion.

Schwarz-rote Uniformen ziehen sich wie eine eiserne Faust um das Dorf, die Schärpen der Garde des Imrans leuchten wie Blutflecken in der verschneiten Landschaft. Sie haben das Dorf umstellt, jeder Kontrollpunkt perfekt positioniert, jede Bewegung präzise.


„Das ist seltsam,“ murmelt Vance, ohne den Blick von der Szene vor uns abzuwenden.

„Seltsam?“ Ich schnaube. „Die Garde verlässt Lin Quei nicht ohne Grund. Und schon gar nicht, um den Alchemisten zu zu babysitten.“

Vance nickt langsam, aber sein Gesicht bleibt angespannt. „Das macht keinen Sinn. Es gibt keine Apparaturen, keine Werkstätten, keine Hinweise auf einen Waffenfeldtest. Und keine Magier.“

Ich ziehe die Stirn kraus. „Zatsudan ohne Magier – das finde ich nur seltsam, weil es ja anscheinend wichtig genug ist für die Garde.“

„Exakt,“ sagt Vance leise. Seine purpurnen Augen verengen sich, und ich weiß, dass er bereits nach einer Erklärung sucht, während ich noch versuche, meine Gedanken zu ordnen.

„Es muss ein Experiment sein,“ sagt er schließlich, seine Stimme rau vor Zorn. „Und die einzige Ressource, die Torshaven hat, sind die Bewohner.“

Ein Knoten zieht sich in meinem Magen zusammen, aber ich zwinge mich, die Ruhe zu bewahren. „Die Zatsudani machen so etwas ständig. Was ist an diesem Experiment anders? Warum läuft die Leibgarde auf?“

Er antwortet nicht, sondern starrt schweigend auf die Szenerie. Ich spüre seine Anspannung, die sich wie ein Messer durch die Kälte schneidet.

„Moment,“ sage ich schließlich und deute auf den schmalen Fluss, der sich wie eine silberne Ader durch das Dorf zieht. „Das könnte unser Weg rein sein.“

Vance folgt meinem Blick, seine Augen verengen sich. „Riskant,“ murmelt er.

„Gegen die Leibgarde des Imrans gibt es keinen sicheren Weg,“ erwidere ich. „Aber das hier könnte funktionieren. Wenn wir sie ablenken.“

Er kniet sich hin, nimmt eine Handvoll Schnee auf und lässt ihn durch seine Finger rieseln. Dann deutet er nach Westen, wo eine steile Schneedecke gefährlich über einem Hang hängt. „Dort. Ich könnte eine Lawine auslösen. Das würde sie nach Westen ziehen.“

„Und ich nehme den Fluss,“ ergänze ich.

Er schüttelt den Kopf. „Nein. Das ist zu gefährlich. Wir sollten zusammen—“

„Hey.“ Ich hebe eine Hand und grinse schief. „Du weißt, ich habe in Geländekunde nie aufgepasst.“

Vance zieht eine Braue hoch, aber ich sehe, wie sich die Anspannung in seinen Schultern leicht löst.

„Ich meine es ernst,“ füge ich hinzu, diesmal ruhiger. „Niemand außer dir kann das präzise genug auslösen, damit es wirklich funktioniert. Und ich brauche nur zwei, drei Sekunden um reinzukommen. Wenn ich das Experiment sehe, schlage ich zu. So wie immer.“

Er sieht mich lange an, seine Augen suchen meinen Blick, als würde er nach etwas suchen, das ihn umstimmen könnte. Aber ich lasse ihm keine Wahl.

„Du weißt, dass das der beste Weg ist,“ sage ich leise. „Du sorgst für Ablenkung, und ich gehe rein. Wir machen das schnell, sauber – und dann sind wir raus.“

Er schließt kurz die Augen, dann nickt er. „In Ordnung,“ murmelt er. „Aber Lenora… sei vorsichtig.“

Ich klopfe ihm leicht auf die Schulter und werfe ihm ein Lächeln zu. „Immer doch.“

Dann wende ich mich um, mein Blick auf den Fluss gerichtet. Der Wind heult durch die Berge, und die Uniformen der Garde bewegen sich wie Schatten durch die weiße Landschaft.

Hinter mir knirschen Vances Schritte im Schnee, und ich weiß, dass er bereits beginnt, seinen Teil des Plans vorzubereiten.

Der Fluss unter mir schimmert schwach im letzten Licht der Dämmerung. Der eisige Wind zerrt an meinem Mantel, und ich kauere mich hinter einen Felsen, direkt am äußeren Perimeter der Leibgarde des Imrans. Das Warten ist unerträglich, jeder Atemzug scheint lauter als die Bewegung der Soldaten vor mir.

Ich lege eine Hand an meinen Nacken, spüre den kleinen, glatten Stein unter meiner Haut. Die Magie darin summt leise, eine beruhigende Erinnerung daran, dass Vance noch oben ist, in Position.

„Vance?“ denke ich, und die Worte fließen in die Verbindung zwischen uns. „Ich bin bereit. Warte auf Freigabe für den Zugriff.“

„Noch nicht,“ kommt seine Antwort, kühl und kontrolliert. „Lenora, halte die Augen offen. Jedes Detail. Jeder Hinweis darauf, was dieses Experiment ist. Wir können es uns nicht leisten, etwas zu übersehen.“

Ich nicke leicht, auch wenn er es nicht sehen kann. „Schon klar. Ich scanne alles. Du weißt, ich bin nicht blind.“

Ein scharfes Schnauben hallt durch unsere Verbindung, fast wie ein Lächeln, das nie ganz Form annimmt. „Manchmal bist du aber zu schnell, um zu sehen, worauf es ankommt.“

Ich beiße die Zähne zusammen, aber bevor ich etwas entgegnen kann, spüre ich eine Bewegung im Dorf. Meine Augen fixieren das Herrenhaus im Zentrum, das sich wie eine dunkle Festung von den einfacheren Hütten abhebt.

Dann sehe ich die Frau. Die hochschwangere Silhouette, gestützt von zwei Wachen, die sie hastig ins Herrenhaus führen. Ihr Gesicht ist vor Schmerz verzogen, ihre Hände verkrampft an ihrem Bauch. Die Tür schließt sich hinter ihr, und die unheilvolle Stille scheint schwerer als die eisige Luft.

„Vance,“ denke ich, mein Bewusstsein direkt mit seinem verbunden. „Ist sie… das Ziel?“

Ein Moment des Schweigens, während er die Szene von oben beobachtet. Dann kommt seine Antwort, leise, aber mit einem Unterton, der alles verändert. „Vielleicht sie. Vielleicht das Kind.“

Die Worte sinken in mein Bewusstsein wie ein Stein, der in kaltes Wasser fällt. Mein Atem stockt, und ich spüre, wie meine Hand sich instinktiv um den Griff meines Dolches krampft.

„Das Kind,“ wiederhole ich flüsternd, mehr zu mir selbst als zu ihm. „Sie ist nur das Mittel?“

Die Stille zwischen uns wird schwer, drückend. Es ist die Art von Moment, die jeden Gedanken überflüssig macht, weil die Wahrheit so klar vor uns liegt, dass es keinen Sinn macht, sie in Worte zu fassen.

„Lenora,“ kommt seine Stimme, diesmal weicher. „Das ist unsere Mission.“

Ich atme tief ein, lasse die eisige Luft meine Gedanken klären. „Wenn es das ist, was es braucht,“ sage ich schließlich, meine Worte klar und fest. „Dann werde ich es tun.“

Ein weiterer Moment der Stille, bevor ich fortfahre: „Ich bin bereit. Gib mir sechs Sekunden zur Infiltration. Ich erledige diesen Auftrag.“

Ich spüre Vances Zögern, wie er mit den gleichen Gedanken ringt, die auch mich quälen. Aber dann kommt seine Antwort, leise und entschlossen. „Verstanden.“

Die Stille ist erdrückend, die Zeit zieht sich wie zäher Honig. Der eisige Wind ist das Einzige, was die völlige Ruhe durchbricht – ein gleichmäßiges, monotones Rauschen, das fast beruhigend wirkt.

Ich kauere mich tiefer hinter meinen Felsen und versuche, mich auf den Fluss zu konzentrieren, der vor mir liegt. Mein Blick wandert immer wieder zum Herrenhaus. Die Schatten der Wachen, die leise Kommunikation, die kaum hörbar ist, und die leeren Fenster – alles fühlt sich ominös an.

Fünf Minuten vergehen. Dann zehn. Mein Atem wird langsamer, ruhiger, während ich meinen Körper und Geist für das, was vor mir liegt, stähle. Keine Emotionen. Kein Zögern. Nur der Auftrag.

Doch plötzlich ändert sich etwas. Der Wind, der eben noch gleichmäßig und stetig war, wird stärker, wütender. Er heult wie ein lebendiges Wesen und zerrt mit roher Gewalt an meiner Kleidung. Schnee und Eis wirbeln auf, und ich spüre, wie der Boden unter mir leicht vibriert.

„Vance?“ denke ich alarmiert.

Seine Stimme kommt sofort, und sie klingt angespannter, als ich sie je gehört habe. „Lenora, hör zu. Ein Sturm formt sich. Direkt um das Herrenhaus. Und das ist kein normaler Sturm.“

Ich luge über den Rand des Felsens und kann sehen, was er meint. Der Schnee wird in kreisenden Winden erfasst, die wie kleine Tornados aussehen. Teile der Zäune, die das Herrenhaus umgeben, werden von den Böen mitgerissen, und die Wachen stolpern zurück, halten sich die Hände schützend vor die Gesichter.

„Verdammt,“ flüstere ich leise, während ich den tobenden Wind beobachte, der immer stärker wird.

Der Sturm wird immer heftiger, die Böen so stark, dass ich mich tiefer hinter den Felsen kauern muss. Die Wachen kämpfen, um sich auf den Beinen zu halten, und das Chaos um das Herrenhaus wird immer größer. Es ist der perfekte Moment. Ich spüre, wie mein Puls sich beschleunigt, die Spannung sich in meinem Körper aufbaut. Der Augenblick ist da – ich warte nur noch auf Vances Signal.

Doch das, was ich als Nächstes höre, ist nicht das erwartete „Los.“ Es ist seine Stimme, ruhig, aber mit einer Härte, die mich innehalten lässt.

„Lenora, zieh dich zurück.“

Ich blinzele, unsicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. „Was?“

„Du hast es gehört,“ denkt er zurück, seine Worte schärfer jetzt. „Dieser Sturm – das ist keine normale Ablenkung. Etwas in diesem Experiment gerät außer Kontrolle. Es könnte sich von selbst zerstören.“

Ich starre zum Herrenhaus, das fast vollständig in den wütenden Wind gehüllt ist. Die Zäune sind verschwunden, und die Wachen ziehen sich zurück, versuchen, Abstand zu gewinnen. Es ist ein Chaos, wie ich es noch nie gesehen habe.

„Lenora, hör mir zu,“ fährt Vance fort, seine Stimme fast eindringlich. „Das hier ist zu riskant. Du weißt es genauso gut wie ich. Wenn wir weitergehen, könnten wir uns selbst in etwas hineinziehen, das uns beide umbringt. Vielleicht erledigt sich dieses Problem von selbst.“

Ich beiße die Zähne zusammen, mein Griff um den Dolch wird fester. „Das ist nicht unser Auftrag, Vance. Wir sollten das Experiment stoppen – nicht darauf hoffen, dass es sich selbst erledigt.“

„Manchmal muss man einen Schritt zurücktreten,“ entgegnet er. „Wir können das hier nicht kontrollieren, Lenora.“

Seine Worte sind kalt, sachlich, wahr – aber genau das ist das Problem.

„Das kannst du nicht ernst meinen,“ murmele ich laut, auch wenn ich weiß, dass er es hören wird.

„Lenora, es ist zu riskant,“ wiederholt er. „Zieh dich zurück. Dieser Job ist vorbei.“

Ich balle die Fäuste, spüre die Kälte des Metalls in meiner Hand. „Vielleicht können wir nicht alle retten,“ entgegne ich, meine Gedanken scharf wie Messer. „Aber vielleicht können wir das Kind retten. Oder die Mutter. Oder die Familie. Vielleicht können wir das ganze verdammte Dorf retten, Vance. Diese Menschen sind unschuldig.“

Die Stille, die folgt, ist schwer, fast erdrückend. Der Sturm tobt um mich herum, der Wind reißt an meinem Mantel, aber ich lasse mich nicht beirren.

„Ich gehe rein,“ sage ich schließlich, meine Stimme klar und entschlossen. „Wenn du gehen willst, geh. Aber ich bleibe. Und ich werde tun, was ich kann, um diese Menschen zu retten.“

Ich kann spüren, wie Vance zögert, seine Gedanken rasen. Aber dann kommt schließlich seine Antwort, leise und knapp: „Verstanden.“

Der Wind reißt meine Haare aus dem Mantel, und ich spüre, wie mein Herz gegen meine Rippen hämmert. Die Wachen sind fast vollständig abgelenkt, und ich bereite mich darauf vor, mich in Bewegung zu setzen.

„Ich gebe dir 20 Sekunden,“ denkt Vance schließlich, seine Stimme wieder ruhig, aber mit einer Kante, die zeigt, dass er nicht einverstanden ist. „Sei schnell, Lenora.“

Ich nicke, obwohl er es nicht sehen kann, und schiebe mich langsam weiter in Richtung des Flusses. „Wie immer, Vance,“ denke ich zurück, bevor ich in die Dunkelheit eintauche.

Das Geräusch beginnt leise – ein tiefes, dumpfes Grollen, das durch die Luft vibriert. Es kriecht über meine Haut, lässt die Haare in meinem Nacken aufstehen, bevor es stärker wird. Lauter. Gewaltiger. Ich drehe den Kopf zur Westseite und sehe sie: eine gewaltige Lawine, die sich mit unaufhaltsamer Kraft den Hang hinab bewegt.

Das Grollen hallt durch das Tal, eine unaufhaltsame, wütende Naturgewalt, die alles verschluckt. Ich spüre, wie der Boden unter mir leicht vibriert, während Schnee und Eis alles auf ihrem Weg mit sich reißen. Die Leibgarde ruft durcheinander, und der Sturm tobt wie ein wildes Tier um das Herrenhaus. Für mich ist es das perfekte Chaos.

Ich drücke mich an die kalte Steinwand und beobachte, wie die Wachen sich zurückziehen, in Richtung eines Teleportationszirkels, den sie offenbar vorbereiten. Ich höre Schreie: „Der Alchemist Shen wird bald eintreffen!“

Ich atme tief ein, versuche die wachsende Unruhe in mir zu unterdrücken. „Vance, ich gehe rein.“

Er antwortet nicht sofort. Das Schweigen ist schwerer als jedes Wort, das er hätte sagen können. Dann: „Lenora…“

Seine Stimme ist rau, fast ein Flüstern, und ich spüre, wie er ringt – mit den richtigen Worten, mit den Gedanken, die er nicht aussprechen kann.

„Sie ziehen sich zurück.“ Eine Pause, lang und tief. „Warum tust du das?“

Ich schließe die Augen, fühle den eisigen Stein in meinem Rücken. „Vielleicht… ist irgendwo da drin noch etwas Wichtiges.“

Die Stille, die folgt, ist fast unerträglich. Der Sturm tobt, die Schreie der Wachen hallen durch die Nacht, aber zwischen mir und Vance herrscht nur diese bedrückende, unausgesprochene Wahrheit.

„Du wirst sterben,“ denkt er schließlich, und die Schwere in seiner Stimme lässt meine Brust enger werden.

„Vielleicht,“ entgegne ich, meine Gedanken klar, aber ruhig. „Aber ich muss gehen.“

Eine weitere Pause. Ich spüre, wie er mit seinen Gefühlen kämpft, mit den Worten, die er nicht sagen will. Als er schließlich spricht, ist seine Stimme leise, voller Trauer. „Beeil dich, Lenora.“

Ich halte inne und spüre den Stich in meinem Herzen bei dem Ton seiner Worte. Aber wir beide wissen, dass er mich nicht aufhalten wird.

„Wie immer,“ denke ich zurück, kurz und knapp.

Ich warte auf eine weitere Antwort, aber es kommt nichts mehr. Ich weiß, dass er dort oben ist, dass er mich beobachtet. Ich weiß, was er denkt.

Der Sturm tobt, und meine Hand krampft sich um den Griff meines Dolches. Ich atme tief durch und stoße die Tür zum Herrenhaus auf.

Das Haus ist ein Labyrinth aus Dunkelheit und Kälte. Die schwere Holztür fällt hinter mir zu, doch ich habe kaum einen Moment, um Luft zu holen. Der Sturm, der draußen wütet, tobt plötzlich wütender als zuvor.

Ich höre ein donnerndes Geräusch, als die Wände des Hauses zu zittern beginnen. Ein scharfer Ruck geht durch die Erde, und mit einem Mal reißt der Boden im Perimeter um das Gebäude auf. Ich stolpere nach vorne, klammere mich an das Treppengeländer, als ein Fluss aus Feuer und Säure durch die entstehenden Risse in der Erde schießt. Funken tanzen durch die Luft, und es fühlt sich an, als würde das Haus selbst gegen die Welt kämpfen.

Ich keuche, presse mich gegen das Geländer. Das Einzige, was mich jetzt schützt, ist die Tatsache, dass ich direkt im Zentrum des Chaos bin – mitten im Auge des Sturms.

„Verdammt,“ murmele ich und zwinge mich, den Blick von den tobenden Elementen abzuwenden. Ich muss mich fokussieren. Es gibt keine Zeit, über den Wahnsinn nachzudenken.

Meine Stiefel donnern über die knarzenden Treppenstufen, als ich nach oben eile. Der Lärm des Sturms dringt durch die Wände, die jeden Moment einzustürzen scheinen, doch ich ignoriere es. Meine Finger krampfen sich um den Griff meines Dolches, als ich den oberen Flur erreiche.

Dann sehe ich sie.

Im hintersten Raum des Hauses, wo die Luft stiller ist und das Chaos draußen wie ein ferner Albtraum klingt, sitzt eine Familie. Die Mutter hält ein Kind in ihren Armen, die Haare hängen ihr verschwitzt ins Gesicht. Der Vater, zerschlagen und ausgemergelt, umfasst sie beide, als könnte er sie mit bloßer Willenskraft beschützen.

Das Kind ist dürr, fast geisterhaft, aber seine Augen – seine Augen sind ein Prisma aus Farben, die pulsierend leuchten. Magie strömt aus ihnen, unkontrolliert, wild. Der Junge scheint kaum bei Bewusstsein zu sein, als er den Raum mit einem leeren Blick absucht.

Meine Schritte werden langsamer, der Dolch in meiner Hand zittert.

Die Mutter sieht mich an, ihre Augen weit vor Panik, und sie drückt das Kind fester an sich. Der Vater hebt eine Hand, versucht, sich zwischen mich und seine Familie zu schieben, obwohl ich sehe, wie er zittert, fast zu schwach, um überhaupt zu stehen.

Ich weiß, was ich tun soll. Es ist meine Aufgabe.

Ich trete einen Schritt vor, mein Dolch schwer in meiner Hand.

Das Prisma in den Augen des Kindes glüht stärker, als es mich anblickt – ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Verwirrung und Schmerz liegt. Dann stößt er einen schiefen Schrei aus seiner kleinen Kehle. Der Vater schiebt sich weiter vor, seine Arme wie ein Schutzschild ausgebreitet. Die Magie blitzt durch die Luft und beginnt sie fast zu verbrennen.

Wenn du ihn sehen könntest, Vance. Er hat dieselben Augen wie du.

Meine Hand zittert stärker. Die Hitze brennt unerträglich heiß.

Der Junge ist es. Er ist der Sturm.

Ich atme aus, langsam, tief. Dann lasse ich den Dolch fallen.

Das Geräusch des Metalls, das auf den Boden trifft, ist lauter als die Schreie des Sturms. Der Geruch von verbrannter Haut durchzieht die Luft, doch die beiden umklammern ihren Sohn. Es ist, als hätte ich aufgehört zu existieren.

Ich greife an meinen Hals und aktiviere den Sendestein. „Vance,“ denke ich, und meine Stimme ist ruhig. Friedlich. „Wenn wir uns wiedersehen, dann grillen wir noch ein letztes Mal ein paar Krähen in Onderon, okay?“

Seine Antwort kommt sofort, scharf und panisch: „Lenora! Nein, verdammt, komm sofort da raus!“

Ich schließe die Augen, lasse meinen Kopf für einen Moment sinken. Meine Finger gleiten über die vertraute Form der Spieluhr, die in meiner Tasche liegt.

Du wirst es verstehen.

Ich atme tief ein und aktiviere den Stein ein letztes Mal. „Pass auf dich auf, Vance.“

Ich lasse meine Hand sinken, während draußen der Sturm tobt. Die Spieluhr in meiner Hand fühlt sich schwerer an als jemals zuvor.

Gibt es etwas Schöneres als unsere Kinder?
Ich will atmen, doch nichts außer Feuer ist übrig.
Ein schmerzverzogenes Lächeln zieht sich über meine aufgeplatzten Lippen.

Das ist okay.


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