Kapitel 29 - Das Fallen der Blüten

29. Das Fallen der Blüten



Die Welt um mich ist nur noch Magie.

Keine Wände, kein Boden, kein Horizont. Nur fließende Energie, die sich in feinen Strömen durch die Dunkelheit zieht, wie silberne Fäden, gesponnen aus etwas, das jenseits der stofflichen Welt liegt. Ich bin nicht blind hier, sondern sehe mit meinem Verstand – und das, was ich suche, liegt klar vor mir.

Echopuls.

Ein Zauber, der Magie speichert, sie ruhen lässt wie stilles Wasser in einer Tiefe, die kein gewöhnliches Auge durchdringen kann. Ein Trick der Schwächeren, der Mittelmäßigen, die ihre Macht in kleinen Dosen sammeln müssen, um sich für eine größere Entfaltung vorzubereiten. Ich lasse meine Magie daran entlanggleiten, entfalte das Muster, beobachte, wie es sich verzweigt und mit meinem eigenen Fluss interagiert.

„Interessante Wahl, meine Gebundene.“

Seine Stimme ist kein Laut, sondern ein Gefühl. Eine Vibration tief in meiner Sphäre, die die Struktur meiner eigenen Magie berührt.

Beelthuran.

Seine Präsenz ist wie immer – eine Leere, die Raum einnimmt, ein Schatten ohne Ursprung. Hier, in meiner Sphäre, existiert er nicht wirklich. Aber das tut er nie.

„Du hast dich also dazu herabgelassen, meine Arbeit zu kommentieren.“ Ich bleibe ruhig, meine Aufmerksamkeit auf die pulsierende Struktur des Zaubers gerichtet.

Ein leises, genüssliches Schmunzeln, das sich durch die Fäden meiner Magie zieht.

„Ich frage mich nur, warum eine Magierin wie du sich für eine Technik interessiert, die jene nutzen müssen, deren Reserven nicht ausreichen.“

Ich drehe die Schriftrolle in meinen Händen. Hier, in der Sphäre, ist sie kein bloßes Pergament. Sie ist ein Konzept, ein lebendiger Gedanke.

„Es ist wichtig, die Tricks derer unter mir zu kennen.“

Ich spüre, wie er sich nähert, wie die Struktur meiner Magie auf seine Berührung reagiert – nicht durch Form oder Farbe, sondern durch eine subtile Verzerrung.

„Wir Magier manifestieren unsere eigene Realität in die Welt hinein,“ sage ich ruhig. „Aber was unterscheidet einen Magier, der Erfolg hat, von einem, der scheitert?“

Ein Schimmer aus Faszination in seiner Präsenz.

„Vielleicht arkane Macht oder sein Geburtsrecht?“

„Der Magier, der bereit ist, absolut alles zu tun, gewinnt.“ Meine Stimme bleibt kühl, unerschütterlich. „Das ist die Realität.“

Beelthuran lacht leise. Ein dunkles, vibrierendes Amüsement, das sich durch die Magie um mich her zieht.

„Und deshalb bist du zu mir gekommen.“

Es ist keine Frage.

„Ich habe mir deine Macht genommen, weil sie mir nützlich ist.“

„Du hast dir etwas weit Größeres genommen, als du verstehst.“

Ich hebe eine Augenbraue, drehe mich leicht in seine Richtung. Ich kann ihn nicht sehen – nicht so, wie ich einen sterblichen Körper sehen könnte. Aber ich spüre ihn. Ein Schatten in den Schatten, eine Existenz, die nicht nach den Regeln dieser Welt funktioniert.

„Dann erleuchte mich.“

Er schweigt für einen Moment, als würde er genießen, dass ich frage. Dann bewegt sich etwas in der Struktur meiner Sphäre. Ein Puls, tief, uralt. Anders als jede Magie, die ich kenne.

„Was du durch mich gewonnen hast, ist nicht die gezähmte, berechnete Magie der Sterblichen.“ Seine Stimme ist weicher jetzt, fließender, beinahe ein Wispern in der Dunkelheit. „Du hast dir Zugang zu einer Form der Magie gesichert, die auf diesem Kontinent längst niemand mehr beherrscht.“

Etwas verändert sich in der Energie um mich. Ich spüre es in meinen eigenen Linien, in der Art, wie meine Magie auf seine Worte reagiert – als würde etwas erwachen, das ich nie zuvor bewusst wahrgenommen habe.

„Seelenmagie.“

Das Wort zerschneidet meine Sphäre, hallt in einem Echo nach, das nicht aus Laut besteht, sondern aus Erkenntnis.

„Eine wilde Magie,“ fährt Beelthuran fort. „Nicht gezähmt. Nicht gebunden an Runen und Formeln. Sie gehorcht keinem sterblichen Willen – nur denen, die bereit sind, ihre Grenzen loszulassen. Den Fey, den Eldarin, den Dämonen.“

Mein Atem bleibt ruhig, doch ich kann fühlen, wie meine Magie in Bewegung gerät. Nicht unter meiner Kontrolle – nicht ganz. Sie reagiert. Sie lebt.

„Seelenmagie zieht aus dem, was du bist,“ sagt er sanft. „Sie greift nach deinen Ängsten, deinen Hoffnungen, deinen Erlebnissen – und manifestiert Dinge, die für andere unmöglich wären.“

Ein Puls, tief in meinem Inneren.

Er hat recht.

Ich fühle es.

„Und ich habe sie mir geliehen.“

„Du hast sie dir erkauft. Mit dem Preis, den sie verlangt.“

Eine Seele.

Das Wort liegt unausgesprochen zwischen uns. Doch es trägt kein Gewicht. Keine Bedeutung. Keine Furcht.

Ich lasse meine Finger durch die fließende Magie gleiten, spüre, wie sie mir antwortet – nicht nur durch Macht, sondern durch etwas Tieferes. Ein Echo, das weit über mein Bewusstsein hinausreicht.

Ich sehe ihn nicht, aber ich weiß, dass er mich beobachtet. Dass er auf eine Reaktion wartet.

Ich schenke ihm keine.

„Dann erfülle deinen Teil des Handels.“

Beelthuran hält inne.

Ich spüre sein Lächeln, wie ein kalter Hauch auf meiner Haut.

„Wie du wünschst.“

Die Dunkelheit der Sphäre zittert, als Beelthuran sich bewegt. Nicht physisch – er hat keinen Körper hier, keine Form, die ich greifen könnte. Aber ich spüre ihn, ein Puls aus Schatten, eine Präsenz, die sich wie kalte Finger um die Linien meiner Magie schließt.

„Aber Mylaina...“

Er spricht meinen Namen mit einem Hauch von Faszination, als wäre er ein Rätsel, das er endlich zu verstehen beginnt.

„Was drängt dich dazu?“

Seine Stimme ist sanft, beinahe ehrfürchtig. „Eine junge Halbelfe, gesegnet mit gottähnlichem Potenzial. Du hättest alles haben können. Ruhm. Macht. Verehrung. Warum das hier? Warum ich? Warum eine Magie, die niemand auf diesem Kontinent wagt?“

Während er spricht, bewegt sich etwas. Nicht in der Sphäre. In mir.

Eine fremde Kraft, dunkel und ungebändigt, strömt in meine Seele. Kein Feuer, keine Hitze – sondern eine Welle aus kalter Klarheit. Als würde eine Tür aufgestoßen, die schon immer da war, verborgen in den Tiefen meines eigenen Seins.

Er bezahlt mich für meine Antwort.

Beelthuran gibt mir einen Vorgeschmack auf das, was ich beansprucht habe.

Und die Welt verändert sich.

Ich stehe nicht mehr in der Dunkelheit der Sphäre. Ich stehe auf einer weiten, grünen Ebene. Der Himmel über mir ist wolkenlos, leuchtend blau, aber es ist nicht der Himmel dieser Welt. Die Luft ist süß, durchzogen von einem sanften Duft, der an Frühling erinnert. Und überall um mich herum tanzen Kirschblüten, getragen vom Wind, fallend wie rosafarbene Schneeflocken.

Ich atme ein.

„Ich kann es spüren,“ flüstere ich, ohne nachzudenken. Meine Stimme hallt durch diese unwirkliche Landschaft.

Das Fallen der Blüten.

Ich sehe es nicht nur. Ich fühle es. Die Struktur, die Energie, das Wesen dieser Manifestation. Kein gewöhnlicher Zauber, keine statische Form von Magie – sondern etwas Lebendiges, geboren aus mir, aus meiner eigenen Seele.

Mein Herz schlägt ruhig. Zu ruhig.

Ich fokussiere mich. Schiebe die Schönheit dieser Ebene beiseite, konzentriere mich auf das, was wirklich zählt.

Langsam balle ich meine Faust.

Und sofort verändert sich alles.

Die Kirschblüten, sanft und verspielt, erstarren in der Luft. Dann, mit einem einzigen Impuls meines Willens, zerfallen sie zu Asche.

Beelthuran sieht mich an.

Und seine Faszination weicht einem neuen Gefühl.

Furcht.

Er sieht es jetzt.

Ich erspüre die Intrigen und Details, wie eine Weberin der Realität.

Ich starre tief in seine orangen, leuchtenden Augen.

„Ich schreite voran, weil ich muss,“ sage ich ruhig.

Beelthuran verharrt. Ich spüre, wie seine Form flackert, wie seine Präsenz in meiner Sphäre zittert.

Dann beginnt er, sich zu demanifestieren.

Er hätte erwartet, dass ich mich fürchte. Dass ich zögere. Dass ich zweifle.

Aber es gibt nichts, was mich halten könnte.

„Ich bin nicht deine Gefangene Dämon. Du sitzt hier fest mit mir,“ zum ersten mal seit langer Zeit bricht ein leichtes Lächeln über meine Lippen.

Jeden Magier von Relevanz, jeden großen Turm, habe ich besucht.
Ich habe mein Echo hinterlassen.

Bald sind die Tage der weißen Stadt gezählt.


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