Kapitel 28 - Die Tür

28. Die Tür



Die Luft in der Klinik ist schwer. Schwer von Schweiß, Blut, Panik. Stimmen hallen durch den engen Raum, Fragen, Schreie, Bitten, Anweisungen, alles in einem einzigen Chaos aus überforderter Not.

Ich streife mir die Ärmel hoch, reibe mir mit der Hand müde über das Gesicht. Zwei Helfer laufen an mir vorbei, einer mit einem Verband in der Hand, die andere trägt eine Schale mit heißem Wasser, ihr Gesicht blass, angespannt.

„Korash, wir brauchen mehr Platz für die Verbrennungsopfer, mehr Markierungen!“ ruft eine meiner Helferinnen, ihre Stirn gerunzelt vor Stress.

Ich atme tief durch, zwinge Ruhe in meine Stimme. „Nehmt die Liegen aus dem hinteren Raum, stellt sie in den Flur. Jeder, der noch stehen kann, macht Platz für die, die es nicht können.“

Ein Nicken, dann eilt sie weiter. Ich drehe mich zum nächsten, Simon einem jungen Heiler mit zittrigen Händen, der nicht weiß, wo er zuerst hinsehen soll.

„Fokussiere dich. Was kannst du in diesem Moment tun?“ frage ich ihn, leise, aber fest.

Er zuckt zusammen, dann nickt er hektisch und wendet sich wieder der Frau vor ihm zu, deren Arm er versorgt.

Dann öffnet sich die Tür mit einem Knall.

Die Kälte des Distrikts weht kurz in den Raum, fegt über den warmen Schweißgeruch, über die sterile Säure von Alkohol und Medizin.

Eine blauhäutige Elfe mit rotem Haar stolpert hinein. Sie stützt einen Mann, der mehr tot als lebendig aussieht. Sein Arm ist gebrochen, die Knochen fast durch die Haut gedrückt, sein Körper übersät mit Wunden – manche frisch, manche alt und wieder aufgerissen.

Ihre Augen suchen hektisch durch den Raum, dann finden sie mich.

„Er stirbt.“ Ihre Stimme ist fest, aber darin liegt Dringlichkeit. Keine Angst, keine Hilflosigkeit – nur die kalte, klare Erkenntnis.

Ich nicke knapp. „Dort hinten. Helft ihr, ihn auf den Tisch zu legen.“

Ein junger Helfer stürzt nach vorne, fängt die Bewegung der Elfe auf, während sie den Mann auf die Trage gleiten lässt. Blut sickert über das weiße Laken.

Ich trete an den Tisch, ziehe mir die Handschuhe über, während meine Augen bereits seine Verletzungen abtasten.

Tiefe Schnitte. Ein Bruch. Prellungen, innere Verletzungen wahrscheinlich.

Er sieht schwach aus.


Ich überprüfe die Verletzungen des Mannes mit routiniertem Blick. Rippenbrüche. Ein ausgekugeltes Schultergelenk. Mehrere tiefe Platzwunden am Kopf. Der Arm ist gebrochen, ein sauberer Bruch, vermutlich durch einen harten Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.

Dann sehe ich das Tattoo.

Ein Drache, tiefblau, geschwungen entlang der Rippen.

Mein Blick bleibt daran hängen. Die Farbe, die Form.

Ich richte mich langsam auf.

„Er hat ein Drachen-Tattoo.“ Meine Stimme ist neutral, fest. „Blau.“

Die Elfe hebt sofort abwehrend, fast entsetzt, die Hände. „Er ist keiner von ihnen.“

Ich mustere sie. Kein Zittern in der Stimme. Kein Ausweichen des Blicks.

„Er ist aus Zatsudan,“ fährt sie fort, „sein Name ist Shingo. Sein Bruder hat ihm das Tattoo gestochen. Die Aufständischen hielten ihn für einen Geldzwerg.“

Ich blicke erneut auf das Motiv.

Dann sehe ich es.

Die Linien sind geschmeidig, der Körper schlank, die Flügel fehlen. Ein Drachenbild aus Zatsudan. Dort winden sie sich durch den Himmel wie Flüsse aus Tinte.

Nicht wie Mithra.

Ich schiebe das Skalpell zur Seite und reibe mir kurz das Kinn.

„Das Motiv ist zatsudani,“ stelle ich kühl fest. „Deine Erklärung ist plausibel.“

Ein kurzer Blick zur Elfe. Sie entspannt sich nicht, aber ihr Kinn hebt sich leicht, als hätte sie genau auf diese Bestätigung gewartet.

„Nun gut.“ Ich deute auf die Trage. „Legt ihn auf den Operationstisch. Falls er noch eine Stunde leben soll, sollten wir anfangen.“

Sie beeilt sich. Ich weise meine Helfer an, das nötige Werkzeug vorzubereiten. Noch während sie sich hastig bewegen, beginne ich, seine Wunden zu reinigen.


Doch in mir weiß ich es, noch bevor er den Tisch berührt.

Sein Puls ist schwach, unregelmäßig. Seine Haut hat diesen fahlen, wächsernen Ton, den ich zu oft gesehen habe. Er ist am Kippen. Noch eine Minute, vielleicht zwei, dann ist es vorbei.

Ich atme langsam aus. Meine Miene versteinert noch tiefer.

„Normale Medizin wird ihm nicht mehr helfen.“ Meine Stimme bleibt ruhig, sachlich, auch wenn ich weiß, was es bedeutet.

Die Elfe erstarrt. Dann packt sie meine Ärmel, ihr Griff krampfhaft. „Nein! Nein, er kann nicht sterben! Du musst etwas tun!“

Ich mustere sie kurz, dann den Mann.

Es bleibt nur eine Sache, die ich noch versuchen kann.

Ich lege meine Hand auf seine Brust, genau über sein Herz. Das schwache, taumelnde Schlagen ist unter meinen Fingern kaum mehr zu spüren.

Langsam schließe ich die Augen.

Stille.

Dann ein Ruf, tief in mir. Ein stilles Gebet, ohne Worte, ohne Stimme.

Salmatyr.

Die Elfe schreit. Ihr verzweifeltes Flehen prallt an mir ab. Sie versucht nach meinem Arm zu greifen und jemand hält sie fest.

Salmatyrs Urteil strömt in ihn, unsichtbar, leise wie das Echo eines längst vergangenen Flüsterns.

Mein Atem verlangsamt sich.

Der Körper unter meinen Händen ist warm, doch ich spüre das Leben daraus entweichen, als würde es zwischen meinen Fingern hindurchsickern wie Sand.

„Wandle nicht leise in die Nacht, junge Seele.“ Meine Konzentration schärft sich. Ich stemme mich gegen die Tür.

Ich verankere ihn, zwinge die Schwere zurück.

Das Herz schlägt einmal.

Dann wieder.

Und dann… fester.

Ich öffne die Augen. Ein erster Schritt.

Ich lasse meine Hand auf seiner Brust ruhen, das schwache Pochen seines Herzens unter meinen Fingern ein flüchtiges Echo dessen, was es einmal war. Meine Augen gleiten zu der Elfe. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt, ihr Gesicht verzerrt zwischen Angst und Hoffnung.

„Ich bin ein Arzt“, sage ich ruhig. „Das heißt, ich verbringe meine Zeit damit, das Leiden derer zu lindern, die hierher kommen.“

Ich lasse diese Worte für einen Augenblick stehen.

„Der Tod allerdings - ist kein Leid. Er ist die einzige, absolute Wahrheit.“

Ihre Augen weiten sich. Sie will etwas erwidern, doch ich hebe leicht die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Das Einzige, was wir entscheiden können, ist, wann wir uns ihr stellen.“ Mein Blick kehrt zu dem jungen Mann zurück. „Diese Entscheidung liegt nun bei ihm. Nicht bei mir.“

Die Elfe schüttelt den Kopf, ihr Atem flach. „Bitte…“

Ich schließe die Augen.

Wieder rufe ich nach ihm. Nicht mit Worten, nicht mit Stimme – mit dem, was darunter liegt.

Ich folge dem letzten Funken in ihm, taste nach dem, was ihn noch hier hält.

Was bleibt an der Schwelle?

Ich lasse die Kraft durch ihn strömen, aber halte mich zurück – nicht ziehend, nicht fordernd. Nur… lauschend.

Einen Moment lang ist da nichts.

Dann…

Ein Zittern.

Ein Beben, tief in seiner Brust.

Sein Herz zuckt unter meiner Hand.

Ich spüre, wie sich etwas regt. Hoffnung.

Meine Augen bleiben geschlossen, meine Hand ruht auf seiner Brust, doch ich spüre es. Die Veränderung in der Luft. Das leichte Auflockern der Anspannung in ihrem Körper. Den Atem, der sich stockend beruhigt, als sie einen Schritt näher tritt.

„Wenn er dir wichtig ist,“ flüstere ich, „dann gib ihm etwas. Gib ihm etwas, woran er sich festhalten kann. Aber gib ihm nicht, was du willst. Gib ihm was er braucht.“

Einen Moment herrscht Stille.

Dann höre ich es – nicht meine Stimme, nicht das Flüstern meines Gebets, sondern ihres. Ein gebrochener, verzweifelter Laut, leise, doch so schwer, dass er die Luft um uns zieht.

„Du wolltest doch immer besser werden,“ haucht sie. Eine einzelne Träne fällt auf den Boden, versickert im Staub zwischen den alten Steinfliesen. „Mehr Meister finden. Der Beste von allen werden, Shingo.“

Ihre Stimme zittert, aber sie hält an den Worten fest, wie an einem letzten Rettungsseil.

„Und irgendwann… wollten wir gemeinsam zurückkehren nach Lin Quei…“ Ihre Hand streicht vorsichtig über seine blutverschmierte Stirn. „Du wolltest mir deine Heimat zeigen…“

Ein tiefer Atemzug.

Nicht von ihr.

Nicht von mir.


Ich bleibe regungslos, halte die Augen geschlossen, während ich noch einmal in ihn hineinlausche.

Und diesmal…

… lauscht etwas zurück.


Ein sanftes, goldenes Leuchten breitet sich aus, beginnt an meiner Handfläche, fließt über seine Brust, seine Schultern, seine zerschundenen Arme. Die Wunden, die eben noch klaffend offen waren, schließen sich, als hätte die Zeit selbst sie zurückgenommen. Der blutige Schnitt an seiner Stirn verblasst, die blauen Flecken schwinden, die gebrochenen Knochen richten sich mit einem kaum hörbaren Knacken.

Ein Murmeln geht durch den Raum.

Die Helferinnen, die Patienten – manche nur halb bei Bewusstsein, andere zu schwach, um sich zu erheben – drehen ihre Köpfe. Augen weiten sich. Jemand schnauft ungläubig.

Ich spüre ihre Blicke, aber ich ignoriere sie.

Der junge Mann atmet tief ein. Langsam. Gleichmäßig.

Dann öffnet er die Augen.

Sein Blick ist klar, die dunklen Iriden scharf gestellt, als wäre er gerade aus einem langen Traum erwacht. Er sucht, tastet durch den Raum, bis sein Blick auf ihr ruht.

„Arelyel?“ Seine Stimme ist verwirrt, aber ruhig. „Was ist passiert?“

Ein Schluchzen. Sie wirft sich auf ihn, die warmen Tränen auf ihren Wangen glänzen im Licht. Ihre Arme umschließen ihn fest, als könnte er noch einmal verschwinden, wenn sie nicht stark genug zupackt.

„Ich hatte dich verloren,“ flüstert sie. „Aber du bist zurückgekommen.“

Schritte.

Vorsichtig, zögernd. Die Helferinnen treten näher. Manche der Patienten auch, trotz ihrer Schwäche. Ihre Augen flackern zwischen mir und dem Mann, der eben noch dem Tod näher war als dem Leben.

Ein Moment der Stille.

Dann, leise, fast ehrfürchtig, spricht Simon.

„Du hast ihn gerettet.“

Noch ein Schritt näher.

„Du hast ihn geheilt.“

Ich blicke sie an, unbewegt.

Dann schüttele ich den Kopf.

„Ich habe ihm lediglich die Tür aufgehalten,“ sage ich sachlich. „Retten konnte er sich nur selbst.“

Ein leichtes Lächeln tritt auf meine Lippen.
Ich habe nichts getan, doch es ist schön, dass es so ausgehen konnte.

Wie wir sterben und wie wir leben.
Vielleicht ist das die einzige Freiheit, die wir haben.


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