Kapitel 27 - Freiheit
27. Freiheit
Ich betrete die Fabrikhalle, meine Schritte hallen leise auf dem kalten Metallboden wider. Die Luft riecht nach Öl, nach Schmiedeasche und altem, verbranntem Eisen. Doch es fehlt etwas.
Es fehlt das dumpfe Hämmern auf den Ambossen. Das Kreischen von glühendem Stahl unter schweren Hämmern. Das tiefe Brummen der Schmelzöfen.
Ich bleibe stehen, runzle die Stirn. Mein Blick wandert über die verwaiste Halle, sucht nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass ich mich irre – doch nichts. Nur Dondir sitzt auf einer umgedrehten Kiste, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht blass, die Augen rastlos.
Mein Magen zieht sich zusammen.
„Was ist los, Junge?“
Dondir hebt den Kopf, seine Stimme ist rau und bricht fast.
„Es ist schrecklich, Sigmund.“ Er schluckt schwer. „Melkior hat sie alle mitgenommen. Runter zur stählernen Ebene. Sie… Sie weigern sich zu arbeiten, bis die Gildenleiter etwas gegen die Geldzwerge unternehmen.“
Ich atme tief ein, schließe für einen Moment die Augen.
Natürlich.
„Die da oben werden nicht handeln. Das haben sie nie.“ Meine Stimme ist ruhig, aber in ihr liegt ein Hauch von Bitterkeit.
Dondir reibt sich die Hände, seine Beine wippen rastlos. „Aber wenn sie bemerken, dass keiner etwas tut…“
Ich nicke langsam, mein Blick in die Ferne gerichtet.
„Dann werden sie marschieren.“
Ich atme tief durch, dann straffe ich die Schultern und setze mich in Bewegung. Meine schweren Stiefel hallen auf dem Steinboden wider, während ich durch die stillen Hallen der Fabrik marschiere.
Dondir folgt mir zögernd, sein Blick voller Unruhe, aber ich schenke ihm keine weitere Beachtung. Mein Fokus liegt auf dem Lärm, der mit jedem Schritt lauter wird – ein tiefes, brodelndes Grollen, wie ein Sturm, der sich über der stählernen Ebene zusammenbraut.
Als ich den Hintereingang erreiche, bleibe ich für einen Moment stehen. Durch den offenen Torbogen kann ich sie sehen:
Hunderte von Arbeitern, dicht gedrängt auf der weiten Plattform aus Metall und Stein. Die Gesichter sind grimmig, die Hände umklammern Hämmer, Schmiedezangen, manche tragen bereits Helme und Schilde. Sie stampfen mit den Füßen auf den Boden, hämmern mit ihren Werkzeugen gegen das Metall – ein Rhythmus, dumpf und gewaltig, wie das Echo eines uralten Krieges.
Mein Magen zieht sich zusammen.
Auf dem Podium in der Mitte der Menge steht Melkior, seine Gestalt aufrecht, seine Stimme ein Donnern über der tobenden Masse.
„WIE LANGE NOCH? WIE LANGE WOLLEN WIR NOCH WARTEN, BRÜDER?“
Ein dröhnendes Brüllen antwortet ihm.
„WIE VIELE SIND GEFALLEN? WIE VIELE WERDEN NOCH FALLEN, WENN WIR UNS NICHT ERHEBEN?“
Die Menge tobt, Hämmer krachen gegen Schilde. Funken sprühen, als Eisen auf Eisen trifft.
Ich knirsche mit den Zähnen.
Ich bleibe abrupt stehen.
Mein Magen dreht sich um, als mein Blick auf den kopflosen Körper fällt.
Der tote Geldzwerg ist an einem Pfahl aufgespannt, die Arme grotesk zur Seite gebunden, als hätte man ihn ans Kreuz genagelt. Sein Körper ist blass, eingefallen, die Haut von der Kälte leblos und fahl. Dort, wo einst sein Kopf war, klafft nur ein blutverkrusteter, leerer Rumpf.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Die Menge feiert es. Einige Arbeiter haben sich davor versammelt, brüllen ihre Wut in den eisigen Morgen. Andere hämmern ihre Werkzeuge gegen den Pfahl, als wäre er ein Symbol für die Ketten, die sie sprengen wollen.
Aber das ist kein Symbol.
Das ist eine Leiche. Ein Mann.
Hingerichtet ohne Würde.
Mein Blick schweift zu Melkior, der direkt daneben steht, die Brust geschwellt, die Faust in die Luft gereckt.
Ich sehe den Funken in seinen Augen – den Rausch, die Überzeugung. Die Grenze wurde überschritten, und es gibt keinen Weg zurück.
Melkior hebt die Arme, und das Gebrüll wird lauter.
„DAS IST DER PREIS IHRER GIER!“ brüllt er über die Menge hinweg. „DIES IST DIE ANTWORT AUF UNSER LEID! EIN GELDZWERG WENIGER, UND WIR FANGEN GERADE ERST AN!“
Ein Chor aus Stimmen erhebt sich, jubelnd, brüllend, Hämmer krachen auf Metall.
Ich schlucke schwer.
Ich wusste, dass es eskalieren würde. Ich wusste, dass Melkior nicht loslassen würde.
Aber das hier?
Ich stähle mich und trete Richtung Bühne. Schiebe ein paar Arbeiter zur Seite, die selbst unsicher scheinen, ob sie mich aufhalten sollen oder nicht.
„MELKIOR!“
Meine Stimme donnert durch die Menge, übertönt das Geschrei und die hämmernden Fäuste auf Schilde. Die Masse verstummt fast augenblicklich, nur ein nervöses Grundgemurmel bleibt. Dutzende Augenpaare richten sich auf mich, einige mit Wut, andere mit Zweifel.
Ich hebe den Arm und zeige mit schwerem Blick auf den kopflosen, kalten Körper des Geldzwergs, der wie eine Trophäe an den Pfahl gebunden ist – ohne Würde, ohne Ehre.
„Ist das hier euer Weg?“ Meine Stimme schneidet durch die Stille wie ein frisch geschliffenes Schwert.
Die Menge rührt sich nicht.
„Sagt mir, meine Waffenbrüder und Schildschwestern – ist DAS der Weg Lotarms?“
Einige Blicke weichen aus. Andere verhärten sich.
„Ihr wollt ein Ende der Gewalt – und ich HÖRE euch!“ Meine Brust hebt sich, meine Stimme trägt. „Ihr wollt die goldenen Ketten sprengen, die unsere Straßen vergiften und uns unsere Söhne und Töchter nehmen – und ich HÖRE euch!“
Ein leises Murren geht durch die Menge.
„Das letzte Mal, als Lotarm in den Krieg zog,“ mein Blick gleitet über die Gesichter, meine Worte schwer wie Eisen, „marschierten wir vom großen Berg durch die Tiefen Wege. WIR marschierten zu einer neuen Heimat – für unsere Freiheit. Wir flohen vor dem Krieg. Wir luden ihn nicht vor unsere Tür ein!“
Ich fahre mit der Hand über den Bart, sehe zu Melkior hinauf, der mit bebenden Schultern auf mich herabblickt.
„Seht euch um,“ fahre ich fort, diesmal ruhiger, drängender. „Unsere Väter und Mütter haben diesen Ort mit ihren Händen gebaut. Unsere Kinder sollen in diesen Straßen leben, nicht in Gräbern darunter. Wollt ihr wirklich, dass das hier unser Vermächtnis wird? Dass Lotarm nicht für seine Stärke, seinen Stolz erinnert wird – sondern für sinnloses Blutvergießen?“
Schweigen.
Die Luft ist dicht, schwer von Wut, aber auch von Unsicherheit. Ein einziger Funke könnte diese Menge in jede Richtung treiben.
Melkior ballt die Fäuste. Sein Kiefer spannt sich, sein Blick brennt vor Frust.
Ich halte seinem Blick stand.
Lotarm war immer stark. Aber jetzt war es an uns zu entscheiden, wie wir stark sein wollten.
Die Hitze breitet sich in meinem Bauch aus – nicht nur Wut, sondern auch Schmerz. Doch bevor ich weitersprechen kann, donnert Melkiors Stimme erneut über die Menge.
„Du sprichst von Freiheit, Würde und einem Ende der Gewalt, während Dondirs und Thalmdirs Leichen noch nicht mal zur Erde zurückgekehrt sind!“ Seine Stimme bebt vor Trauer und Wut, schneidet durch die Luft wie geschmiedeter Stahl.
Meine Finger ballen sich instinktiv zu Fäusten.
„Thalmdir, dein eigener BESTER Freund wurde vor deinen Augen hinterhältig gemeuchelt – und du predigst BESCHWICHTIGUNG?!“ Melkiors Stimme überschlägt sich beinahe, rau, schmerzerfüllt. „Siggi, wenn ich dich nicht kennen würde, wie ich es tue, dann würde ich glauben, dass diese Feiglinge dich in der Tasche haben!“
Das Grummeln in der Menge wird lauter.
„Er hat recht! Es muss enden!“ ruft ein Zwerg.
„GENAU wie damals geht es um unsere Freiheit!“ Melkior hebt seinen Hammer in die Höhe, sein Blick brennend. „Und weder wir noch unsere Hämmer werden SCHWEIGEN!“
Die Menge bricht in Applaus aus, wild, fast manisch. Der Klang von Hämmern auf Schilde donnert durch die Halle, ein wütender, dröhnender Rhythmus, der den Boden vibrieren lässt.
Ich stehe da, atme schwer.
Ich sehe es in ihren Gesichtern.
Die Schmiede von Lotarm – sie sind bereit zu marschieren.
Ich kann sie nicht aufhalten.
Der Lärm schlägt gegen meine Brust wie ein Schmiedehammer. Hunderte Hämmer auf Schilden, auf Stein, auf den Boden unter ihren Füßen. Ein donnerndes Echo, das sich in mir festsetzt, sich mit meinem Atem verwebt.
Trommeln. Marschschritt. Gleichschritt.
Mein Blick verschwimmt.
Nicht mehr die stählerne Ebene. Nicht mehr Lotarm.
Tiefe Gänge.
Schwarzes Gestein. Fackelschein. Der Geruch von geschmolzenem Metall und Blut.
Der Rhythmus ist derselbe. Der Takt, in dem wir marschierten, Schilde an Schilden, Dolche im Dunkel bereit. Reihen füllen sich. Reihen brechen. Löcher, wo einst Kameraden waren. Keine Namen mehr, nur Stille, die nie nachklingt.
Ich blinzle.
Das Licht ist heller. Der Boden fester.
Lotarm.
Der Lärm bricht über mich herein. Die Masse tobt, Melkior reißt die Faust in die Luft.
Ich drehe mich um, marschiere von der Bühne, bevor mein Herz sich dem Takt anpasst.
Jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich mich gegen einen Strom stemmen. Doch als die Menge hinter mir verschwindet, höre ich andere Schritte. Leiser, zurückhaltender.
Ich drehe mich um.
Dondir.
Nicht allein. Fünfzehn andere mit ihm. Junge, alte. Schmiede. Arbeiter.
Keine Krieger. Keine Generäle.
Dondir tritt vor, die Schultern schwer von mehr als nur Müdigkeit.
„Wir wissen, dass du recht hast.“ Seine Stimme dringt durch das Dröhnen nach.
Ich mustere die Gesichter. Keine Wut. Keine Raserei.
„Aus Blut wird nur mehr Blut.“ Eine Zwergin murmelt es, kaum lauter als der Wind, der durch die stählerne Ebene zieht.
Ich atme tief aus.
Das Echo der Hämmer liegt mir noch in den Knochen.
Ich atme aus, drehe mich zu ihnen um.
„Holt, was ihr tragen könnt. Alles, was wir an Rüstung, an Waffen, an Schutz haben. Wir bereiten uns vor.“
Zögern. Nur einen Moment.
Dondir bricht es zuerst. „Worauf genau?“
Ich sehe zurück, dorthin, wo die Menge tobt. Wo Melkior sie in Brand steckt. Wo der Krieg begonnen hat, noch bevor jemand es gemerkt hat.
„Diese Stadt wird brennen.“
Ein Zittern läuft durch die Gruppe. Keine Feiglinge, keine Schwächlinge. Aber Arbeiter. Keine Krieger.
Eine Zwergin hebt den Kopf. „Aber wir könnten doch–“
Ich schüttle den Kopf. „Es ist zu spät, es aufzuhalten.“
Dondir atmet schwer aus. „Und wenn wir es trotzdem versuchen?“
Ich blicke ihn an, lange genug, dass er die Antwort selbst versteht.
„Wir müssen die retten, die die Flammen nicht erreichen dürfen.“
Es gibt nichts mehr zu sagen.
Sie wissen es.
Ich drehe mich um, beginne zu gehen. Einer nach dem anderen setzen sie sich in Bewegung. Ein schwerer, wortloser Entschluss.
Das Dröhnen hinter uns bleibt.
Magdar…
Meine Kiefer spannt sich an.
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