Kapitel 26 - Ich sehe dich
26. Ich sehe dich
Ich sitze im Halbdunkel meines Arbeitszimmers, den Kopf gegen die Lehne gekippt, die Augen geschlossen. Aber Schlaf kommt nicht.
Zweifel nagen an mir, schwerer als sonst. Sie legen sich auf meine Brust, rauben mir den Atem. Die Gewissheit, dass ich die Kontrolle behalte, beginnt zu bröckeln – wie alte Farbe, die von der Wand blättert.
Dann klopft es.
Ich richte mich auf, fahre mir mit einer Hand über das Gesicht, bevor ich ein knappes „Herein“ murmle.
Die Tür öffnet sich leise, und meine Botin tritt ein.
„Herr Mareau,“ beginnt sie förmlich. „Lady Melody hat verkündet, dass zum Ende der Frist ein großer Ball in ihrem Anwesen stattfinden wird. Das große Finale der Nacht soll die Präsentation des Golems sein. Sie scheint überzeugt, dass die Tüftler es schaffen werden.“
Ich atme langsam aus, schließe für einen Moment die Augen.
Natürlich.
Ich sinke tiefer in den Stuhl, spüre das Holz unangenehm gegen meinen Rücken. Mein Körper fühlt sich an, als würde er gegen mich arbeiten, die Müdigkeit zu schwer, um sie abzuschütteln.
Mita bleibt stehen. Zögert. Dann tritt sie einen Schritt näher.
„Herr Mareau… geht es Ihnen gut?“ Ihr Ton ist vorsichtig, aber nicht unterwürfig. „Soll ich einen Arzt rufen?“
Ich zwinge ein halbes Lächeln auf meine Lippen und richte mich auf.
„Mita heißt du, richtig?“ frage ich sanft.
„Ja, Herr Mareau.“
Ich mustere sie einen Moment, dann lehne ich mich vor und stütze die Ellbogen auf den Tisch.
„Hast du eine Familie, Mita?“
Sie blinzelt, wirkt einen Moment verwirrt über die unerwartete Frage. Dann antwortet sie ernst:
„Nur meine Großmutter. Ich arbeite hier, damit ich sie mitversorgen kann.“
Ich nicke langsam. „Du bist eine gute Frau.“
Dann öffne ich eine Schublade und ziehe einen schweren Beutel Gold hervor. Ich drehe ihn in meiner Hand, lausche für einen Moment dem dumpfen Klang der Münzen, bevor ich ihn Mita in die Hand drücke.
Ihre Finger schließen sich instinktiv darum, aber ihr Blick bleibt auf meinem Gesicht, suchend.
„Kümmer dich damit um deine Großmutter.“ Meine Stimme ist leise, aber fest. „Man weiß heutzutage nie, was passieren kann.“
Mitas Lippen öffnen sich ein Stück, als wollte sie etwas sagen – eine Frage, ein Protest. Aber sie schließt sie wieder.
Dann, als ich mich abwende und in Richtung Balkon trete, spricht sie doch:
„Herr Mareau… Ihr plant doch nicht zu gehen, oder?“
Ich halte inne, drehe mich mit einem müden Lächeln zu ihr um.
„Nein,“ sage ich ruhig.
Dann lehne ich mich an das kühle Balkongeländer, während unten die Stadt in tausend Lichtern brennt.
„Ich plane zu gewinnen.“
Ich hebe die Pfeife an meine Lippen, ziehe langsam, lasse den Rauch in meiner Lunge kreisen, bevor ich ihn in die kühle Nachtluft entlasse. Es hilft – nicht viel, aber genug, um den Knoten in meiner Brust für einen Moment zu lockern.
Dann höre ich Schritte.
Leicht, geschmeidig. Aber heute nicht leicht genug.
Breanna.
Ich spüre ihre Präsenz, bevor ich sie sehe. Und noch bevor sie mir die Pfeife stibitzen kann, schnellt meine Hand vor, fängt ihr Handgelenk ein und dreht sie leicht zu mir.
„Tsk.“ Sie zieht ihr Handgelenk zurück und flucht leise vor sich hin.
Erst da fällt mir die Verfärbung auf. Dunkel, tief, als hätte jemand mit voller Absicht zugegriffen und nicht mehr losgelassen.
Mein Blick verengt sich.
„Bre…“ Meine Stimme ist ruhiger, als sie sein sollte, aber der Sturm in mir grollt bereits. „Wer hat das getan?“
Breanna hebt eine Braue, zieht ihr Handgelenk langsam zurück und betrachtet mich mit diesem typischen Ausdruck, der irgendwo zwischen Belustigung und Spott schwankt.
„Soll ich jetzt etwa glauben, dass dich das interessiert?“
Ich atme ruhig aus, lehne mich gegen die steinerne Balustrade und drehe die Pfeife in meinen Fingern. Der Rauch kräuselt sich in der Luft, tanzt mit dem leichten Wind, bevor er sich auflöst.
„Ja.“
Bre blinzelt, als hätte sie mit allem gerechnet – nur nicht mit einer ehrlichen Antwort.
Ich senke den Blick, betrachte für einen Moment die dunklen Straßen von Hammerfall unter uns.
„Solange ich denken kann, war ich mit meinen eigenen Zielen beschäftigt“, gebe ich zu. „Der Suche nach meiner Mutter. Dem richtigen Zug im richtigen Moment. Dem nächsten großen Schritt.“ Ich schnaube leise, mehr über mich selbst als über sie. „Aber irgendwo auf dem Weg habe ich aufgehört, auf das zu achten, was direkt um mich herum passiert. Ich dachte immer ich filtere das irrelevante heraus. Aber ich lebe garnichtmehr richtig.“
Ich hebe den Kopf und sehe ihr in die Augen.
„Ich will das ändern.“
Bre verzieht leicht die Lippen, als wollte sie etwas sagen, aber ich bin schneller.
„Wenn du in Schwierigkeiten steckst, bin ich da Breanna. Egal, was es ist.“
Ein kurzer Moment des Schweigens. Breannas Gesicht bleibt ausdruckslos, doch ihr Kiefer spannt sich einen Hauch zu sehr an.
Dann zuckt sie mit den Schultern und grinst gespielt selbstsicher.
„Ich hab niemanden, der mir Probleme macht, Lav. Ich hab jemanden angegriffen und es verkackt, das ist alles.“
Ich mustere sie, versuche, hinter ihren Worten zu lesen.
„Sicher?“
„Sicher.“
Ich bleibe noch einen Moment still, nicke dann langsam.
„Wir beide wissen, dass ich gerade viel zu tun habe mit Melody, mit dem Job. Aber wenn irgendjemand dich bedroht, wenn irgendetwas ist…“ Ich hebe eine Braue. „Dann kümmere ich mich darum.“
Bre schnauft amüsiert, lehnt sich neben mir gegen die Balustrade und gibt mir einen kurzen Seitenblick.
„Hört, hört, Lavender Mareau, der große Beschützer der Armen. Was kommt als Nächstes? Spendest du dein Vermögen für Waisenhäuser?“
Ich lache leise.
„Nicht mein Vermögen.“
„Oh? Sondern?“
Ich grinse, ziehe an meiner Pfeife und lasse den Rauch durch meine Nase entweichen.
„Melodys.“
Breanna schüttelt schmunzelnd den Kopf, macht sich über mich lustig, irgendetwas über meine grenzenlose Selbstüberschätzung. Doch hinter der gewohnten Schärfe in ihrer Stimme liegt ein Funken Wärme, kaum wahrnehmbar – aber da.
Ich kann dich sehen, Bre. Ist das zu spät?
Ich sehe dich.
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