Kapitel 25 - Farbenblind
25. Farbenblind
Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln, als ich den schmalen Pfad entlang stapfe. Der Hirsch über meiner Schulter ist schwer, sein Fell durchgefroren, sein Blut längst zu Eis erstarrt. Die kalte Luft brennt in meiner Lunge, aber ich begrüße das Gefühl – es hält mich wach, hält mich in der Gegenwart.
Magora steht bereits auf der Veranda, die Arme verschränkt, als ich näher komme. Der Wind zerrt an ihren rötlichen Haaren, aber ihr Blick bleibt ruhig. Prüfend.
„Was hat so lange gedauert?“ Sie hebt eine Braue, doch in ihrer Stimme liegt keine echte Ungeduld. Mehr ein Echo der alten Zeiten, ein Hauch wertschätzender Wettkampf.
Ich schnaube leise, lasse den Hirsch mit einem dumpfen Schlag in den Schnee fallen.
„Hast du vergessen, wie wählerisch ich bin?“ Ich deute mit dem Kinn auf das Tier. „Ein guter Jäger setzt Prioritäten. Und der hier, wars wert.“
Magora mustert den Hirsch, dann mich. Ihr Blick wandert über meine Kleidung, bleibt an der leichten Vereisung an meinem Kragen hängen.
„Und du bist immer noch ein besserer Jäger als jeder andere hier. Manche Dinge ändern sich wohl nicht.“ Sie lehnt sich an den Holzpfeiler der Veranda, ihr Blick für einen Moment in die Ferne gerichtet. „Es ist gut, dich wieder in den Bergen zu sehen, Zhan.“
Zhan. Warum liegt soviel Nostalgie in diesem Klang? Ein Zauber der nur über ihre Lippen manifestiert werden konnte.
Ich sage nichts dazu. Ziehe nur den Dolch von meinem Gürtel und beginne, den Hirsch aufzubrechen. Der Geruch von Wildfleisch mischt sich mit der kalten Luft, dampfend in der eisigen Umgebung.
„Wie steht’s mit dem Jungen?“ frage ich schließlich.
Magora tritt näher, setzt sich auf die Stufen der Veranda und zieht die Beine an.
„Ruhiger als gestern. Er schläft viel. Aber seine Augen…“ Sie runzelt die Stirn. „Er wirkt fast wie eine Nachricht. Aber keine die ich verstehe. Vielleicht bin ich zu alt.“
Ich halte inne, meine Hände für einen Moment still auf dem Fell des Hirsches.
„Das sind wir beide, Mag.“ Ich lächle sarkastisch.
Magora seufzt, legt die Arme auf ihre Knie.
„Wohl wahr. Ich könnte ein wenig mehr altersgerechten Frieden vertragen.“
Die Stille zwischen uns ist schwer, aber vertraut. Der Wind pfeift durch die hohen Felsen, ein Klagelied der Berge.
Ich nehme mein Messer wieder auf und fahre fort. Manche Dinge ändern sich nicht. Aber andere?
Andere haben sich vielleicht schon längst verändert. Oder rede ich mir das nur ein?
Magora holt tief Luft, als würde sie die richtigen Worte suchen. Ihr Blick bleibt an mir hängen, scharf und prüfend.
„Da ist noch etwas, Zhan.“
Ich halte inne, lasse den Hirsch hinter mir und trete näher zur Veranda. Magoras Ton ist ruhig, aber etwas darin lässt mich aufmerken.
„Komm rein. Schau ihn dir an.“
Ihre Worte hängen für einen Moment zwischen uns, und es gibt eine Pause, in der nur der Wind durch die Balken des Hauses pfeift. Dann dreht sie sich um und geht hinein.
Ich folge ihr, trete in das warme Halbdunkel des Hauses, wo das Knistern des Kamins die einzige Bewegung in der Stille ist.
Niji liegt auf der Decke, die Magora ihm bereitet hat. Sein Körper, eingehüllt in eine zu große Jacke, ist halb aufgerichtet. Seine Augen – diese prismatischen, unnatürlich tief leuchtenden Augen – sind offen. Wach. Prüfend.
Als er mich sieht, blinzelt er. Dann streckt er die Arme nach mir aus.
Ich zögere, aber nur für einen Moment. Dann gehe ich zu ihm hin, hebe ihn mit ruhiger Bewegung hoch. Er ist warm. Wärmer, als ein Kind in dieser Kälte sein sollte. Es ist keine fieberhafte Hitze – es ist etwas anderes.
Ich halte ihn auf Armeslänge und betrachte ihn genau. Er sieht anders aus. Wach. Anwesend. Nicht wie ein Kind, das erst seit ein paar Wochen auf dieser Welt ist.
„Er ist gewachsen, oder?“ Magoras Stimme durchbricht meine Gedanken.
Ich runzle die Stirn, werfe Niji einen weiteren prüfenden Blick zu.
„Ich denke ja.“
Magora verschränkt die Arme. Ihr Blick bleibt auf dem Jungen.
„Ich denke, er ist wesentlich älter als nur ein paar Wochen. Ich meine, schau mal, wie präsent er ist. Das ist nicht normal.“
Ich schweige.
In meinem Kopf dreht sich ein anderer Gedanke. Ich habe den Jungen gefunden, als die Überreste seines Dorfes noch dampften. Ich habe ihn aus einem Haus gezogen, in dem etwas Unnatürliches geschehen war. Ich habe ihn durch den Schnee getragen, während hinter mir der Wind Geschichten von Experimenten flüsterte, von alchemistischen Formeln und Magie. War das Experiment wirklich fehlgeschlagen?
War Torshavn ein Preis den der Imran freiwillig bezahlt hätte?
Ich denke an das, was der Alchemist getan haben könnte. Was hat er dem Jungen angetan? Dieser Sturm war ein Unfall, richtig? Es könnte nicht…
Magora mustert mich scharf.
„Zhan. Du weißt etwas, oder?“
Ich bin überrascht, aber nur für einen Augenblick.
Ich setze Niji langsam wieder auf die Decke, richte mich auf.
„Nein.“
Meine Stimme ist ruhig. Kontrolliert.
Magora hebt eine Braue, aber sagt nichts weiter.
Ich schaue noch einmal zu dem Jungen. Seine prismatischen Augen reflektieren das Feuerlicht auf eine Art, die die Welt verschwimmen lässt. Sein Atem ist wie die Farbe eines Pinsels. Und wir alle sind seine Leinwand.
Als ich Niji zurück auf die Decke legen will, schreit er plötzlich auf – ein kurzer, scharfer Laut, mehr Instinkt als wirkliche Angst.
Die Luft knackt, dann explodiert etwas zwischen uns.
Ein Funkenstoß – nicht aus Feuer, nicht aus Blitz, sondern aus etwas das mehr als beides war. Ein Funke reiner arkaner Energie schießt aus seinem kleinen Körper, zuckt durch die Luft und trifft mich am Unterarm. Ich spüre das scharfe, brennende Ziehen von versengter Haut, rieche den metallischen Beigeschmack von Magie in der Luft.
„Niji, beruhig dich!“ keuche ich, halte ihn instinktiv fester.
Er zittert in meinen Armen, sein Körper so heiß, dass ich das Gefühl habe, glühendes Eisen zu halten. Doch dann, langsam, beginnt sich seine Atmung zu verlangsamen. Die Wärme ebbt ab. Das Knistern in der Luft stirbt.
Stille.
Nur mein Herz schlägt noch viel zu schnell in meiner Brust.
„Götter…“ Magoras Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. Sie starrt auf meinen Arm, auf den dunklen Fleck verbrannter Haut, dann zurück auf den Jungen. „Was war das?“
Ich schlucke schwer, versuche meinen Atem zu kontrollieren.
Doch mein Kopf ist längst woanders.
Ich sehe die brennenden Ruinen von Torshavn vor mir. Den tosenden Sturm. Die prismatischen Augen, die zwischen Asche und Schnee leuchteten. Ich höre Lenoras Stimme in meinem Kopf – ein letztes Flüstern, bevor alles über ihr zusammenbrach.
Meine Hände zittern. Er ist der Sturm.
Ich schließe kurz die Augen, atme durch, zwinge die Bilder zurück in die Dunkelheit.
Dann sehe ich Magora an, meine Stimme heiser.
„Er scheint eine magische Begabung zu haben.“
Die Worte schmecken nach Untertreibung.
Magora sagt nichts. Ihr Blick spricht für sich.
Sie steht reglos neben mir, so nah, dass ich ihren Atem höre. Sie starrt Niji an, als könnte sie durch ihn hindurchsehen – als wäre die Antwort auf all ihre Fragen irgendwo tief in diesen Augen verborgen.
Augen, die nicht mehr nur wirres Prismenspiel sind.
Ihr Licht atmet jetzt. Farben fließen ineinander, ein stetiger Wandel, wie ein Sonnenaufgang in endloser Schleife. Ein Blick, der tiefer geht, als ein Kind es haben sollte.
„Götter, Zhan…“ Magoras Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. Sie blinzelt nicht. „Was ist er?“
Ich schlucke. Meine Kehle ist trocken.
„Ein Kind.“
Die Worte kommen mir wie Lüge vor und doch gibt es nichts Wahreres, was ich sagen kann. Ich weiß nicht, ob Magora mich jetzt vor die Tür setzt. Ob sie den Jungen in den Arm nimmt oder mir befiehlt, ihn fortzubringen. Ob es hier enden muss.
„Du weißt, dass ich alles aufs Spiel setze, wenn ich ihn hierbehalte.“
Ihre Stimme zittert nicht, aber ich höre das Gewicht darin. Die Wahrheit. Die Angst.
Ich atme aus. „Wir, Mag.“
Dann zwinge ich mich zu einem Lächeln, lege eine Hand auf ihre Schulter, spüre die Anspannung darunter.
„Wir riskieren alles.“
Magoras Lippen pressen sich zusammen, ihre Stirn legt sich in Falten. Ich sehe den Kampf in ihr – die Soldatin, die Vernunft spricht, und die Frau, die weiß, dass manche Dinge mehr bedeuten als ein Leben in Sicherheit.
„Ich kenne keine Frau, die mutig genug wäre, diesem Jungen eine Chance zu geben.“ Ich drücke ihre Schulter leicht. „Keine außer dich, Mag.“
Sie sieht mich an, lange.
Dann schließt sie langsam die Augen und atmet durch.
Ein Entschluss.
„Verdammt, Zhan…“ Sie öffnet die Augen wieder, schüttelt den Kopf. „Was mache ich nur?“
Aber sie bleibt stehen.
Und das bedeutet alles.
„Das richtige, Mag…“
Ein Hauch von Wärme steigt in ihre Augen, als sie eine Hand ausstreckt und Niji über die Wange streichelt.
Vielleicht ist es möglich.
Vielleicht kann er hier leben.
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