Kapitel 22 - Schatten
22. Schatten
Hammerfall liegt mir zu Füßen – ein schimmerndes Nest aus Gold, Lügen und unzähligen schwachen Punkten in der Rüstung seiner Bewohner. Ich kenne es gut. Die Stadt atmet in der Nacht anders, langsamer, auf eine Weise, die ehrlicher ist als das Geschnatter und die aufgesetzten Höflichkeiten des Tages.
Von hier oben sehe ich das Anwesen von Lady Melody perfekt. Die breiten Wege, gesäumt von Laternen, die schweren Eisentore, die verzierte Fassade, in der sich die Lichter der Stadt brechen. Die Wachen patrouillieren in einem vorhersehbaren Muster – Schritt, Pause, Blick über die Schulter, weiter. Unachtsam. Selbstzufrieden.
Die Menge macht es trotzdem zu einer Herausforderung.
Mein Blick wandert weiter, tiefer in das Anwesen hinein, zur Seite, bis ich die Werkstatt sehe.
Mein eigentliches Ziel.
Zwischen meinen Fingern dreht sich ein kleines Pergamentstück. Die Nachricht von Mogor. Eine Bitte, eine Einladung – oder eine Falle.
Sylvana also. Und ihr Begleiter.
Ich kenne die beiden, flüchtig zumindest. Wilde Herzen, rastlose Geister. Ich hätte nicht gedacht, dass sie noch am Leben sind. Und doch haben sie es geschafft, meinen Namen zu flüstern, tief genug, dass er zu mir getragen wurde.
Und warum?
Wegen der Runen.
Eldarin.
Ein Relikt einer Welt, die nur noch in den Erinnerungen weniger existiert. Ein Erbe, das die meisten nicht einmal mehr erkennen würden, geschweige denn verstehen. Wenn sie wirklich einen Golem mit solcher Schrift gefunden haben… dann ist es vielleicht wert, sich die Sache anzusehen.
Aber wenn nicht?
Dann habe ich mir gerade zwei Namen notiert, die ich bald wieder aus der Stadt tilgen muss.
Ich blecke die Zähne, schnaube leise.
Noch eine Runde. Noch eine Patrouille.
Dann bewege ich mich.
Die Schatten hüllen mich ein, fließen mit mir, als ich über die Balustrade gleite. Keine Erschütterung. Kein Laut. Meine Schritte sind leicht, meine Atmung kontrolliert. Ich lasse meine Finger über die Mauer gleiten – warm vom Tag, kühl unter der Nachtluft.
Drei Wachen. Einer links vom Haupteingang, zwei in der Seitenallee. Sie sind auf ihren Posten, aber nicht aufmerksam. Hier zu arbeiten, macht sie selbstgefällig. Zu viel Gold, zu wenig Angst.
Meine Muskeln entspannen sich im richtigen Moment. Ein sanfter Hauch Wind – ich bewege mich mit ihm, tauche aus den Schatten auf. Die erste Wache bemerkt mich nicht, bis meine Finger seinen Nacken berühren. Ein präziser Druckpunkt. Sein Körper zuckt, die Augen weiten sich – doch er fällt lautlos in meine Arme. Ich lehne ihn an die Wand, als wäre er in Sekundenschlaf gefallen.
Die anderen beiden. Ich nehme einen Umweg über den Sims, lande geschmeidig hinter ihnen. Einer dreht sich halb um – zu spät. Meine Hand trifft seinen Solarplexus, während meine andere seine Halsschlagader einklemmt. Er sackt kraftlos zusammen. Der dritte Wache bleibt nicht einmal Zeit, Luft zu holen, bevor zwei gezielte Stöße an seinen Nervenpunkten ihn reglos machen.
Ich setze ihn mit gekreuzten Armen auf eine Kiste, den Kopf leicht nach vorne geneigt – als würde er dösen. Niemand wird etwas bemerken, bis es zu spät ist.
Der Pfad zum Hauptgebäude ist offen. Ich blecke meine Zähne in einem angedeuteten Grinsen. Jetzt wird es interessant.
Zeit, den Tüftlern einen Besuch abzustatten.
Der Gang ist still. Nur der entfernte Klang von Stimmen und das schwache Knistern der Laternen dringen durch die Wände. Ich trete lautlos weiter, meine Sinne geschärft - doch in dem Moment, in dem ich einen Schritt nach vorne mache, spüre ich die kalte Berührung von Stahl an meinem Nacken.
„Keine Bewegung."
Die Stimme hinter mir ist ruhig, aber bestimmt. Kein Zittern, keine Unsicherheit.
Ich schmunzle.
In einer fließenden Bewegung drehe ich mich mit dem Dolch, schiebe mich unter dem Arm der Angreiferin hindurch, entwaffne sie mit einem kurzen Ruck am Handgelenk und schlage sie gegen die Wand.
Ihre Atmung ist kurz, aber nicht panisch. Ihr Körper angespannt, aber nicht vor Ärger, sondern Frustration.
Ihr welliges Haar fällt in ihr Gesicht, doch ihre Augen sind scharf gestellt.
Kein Zittern in ihrem Blick, nur ein Hauch von Frustration. Furcht? Vielleicht. Aber keine Unterwürfigkeit.
„Wie ist dein Name?" frage ich trocken.
„Serana." Ihr Ton ist genervt, als ärgere sie sich mehr über ihre Unterlegenheit als über die Gefahr, in der sie gerade steht.
Ich mustere sie. Dann drehe ich sie langsam, führe sie genau in die Position, in der ich eben gestanden habe.
Mit einem flinken Griff lege ich den Dolch an ihre Kehle - nicht fest genug, um zu schneiden, aber präzise genug, um den Punkt zu setzen.
„So positionierst du dich, wenn du jemanden unbemerkt töten willst."
Ich lasse den Dolch einen Moment dort, spüre, wie sie stillhält. Dann ziehe ich die Klinge zurück, drehe sie sanft zu mir und blicke ihr tief in die Augen.
Ich wende den Dolch in meiner Hand und drück ihn ihr vor die Brust, drehe mich um und gehe weiter.
Vielleicht hätte sie mich töten können, wenn sie entschlossen gewesen wäre.
Ich trete durch die Tür, schleichend wie der Wind. Die Werkstatt ist erfüllt vom Geruch heißen Metalls und kalter Tinte. Das schwache Licht der Kerzen wirft lange, flackernde Schatten auf das Chaos aus Plänen, Werkzeugen und halbfertigen Erfindungen.
Cyrus liegt auf einer Bank, ein Arm über die Augen geschlagen, sein gleichmäßiges Atmen durchbrochen von leisen, unregelmäßigen Schnarchern. Sylvana sitzt gebeugt über den Golem, ein Werkzeug in der Hand, die Stirn gerunzelt in tiefer Konzentration. Ihre Finger fahren über die Oberfläche der alten Mechanik, als könne sie die Geheimnisse darin ertasten.
Ich lasse meinen Blick über den Raum gleiten, dann lehne ich mich gegen den Türrahmen.
„Ihr arbeitet noch spät.“
Sylvana zuckt zusammen, dreht sich dann abrupt zu mir um. Ihre Augen weiten sich für einen Moment, bevor sie sich schnell wieder fängt.
„Verdammt, Cora.“ Sie seufzt, fährt sich mit der freien Hand durch das Haar. „Kannst du bitte einmal normal einen Raum betreten?“
Ich hebe eine Braue. „Ich bin hier, oder nicht?“
Sie schüttelt leicht den Kopf, ein gequältes Lächeln auf den Lippen.
Mein Blick gleitet über den Golem. Das Ding ist alt. Älter, als sie vermutlich ahnt. Ich fahre mit den Fingerspitzen über eine der Runen an seinem Torso. Eldarin.
„Also, bist du bereit?“ Ich lasse meine Hand sinken und sehe Sylvana an. „Oder wolltest du erst eine Parade für mich veranstalten?“
Sie schnaubt leise. „Cyrus hat gesagt, du wärst genau so unhöflich, wie ich dich in Erinnerung hatte.“
Ich trete näher, mein Blick auf den geöffneten Mechanismus gerichtet. „Zeig mir, was du hast.“
Cyrus rührt sich auf der Bank, murmelt etwas Unverständliches und blinzelt träge ins Licht der flackernden Kerzen. Seine Augen sind glasig vom Schlaf, seine Haare zerzaust. Dann bleibt sein Blick an mir hängen.
Er schreckt hoch, abrupt wach. „Was zur Hölle—?“
Ich hebe eine Hand. „Leise.“
Er blinzelt, als würde er noch immer nicht ganz realisieren, was passiert. Dann bricht ein Grinsen über sein Gesicht.
„Verdammt, Cora.“ Er fährt sich mit einer Hand durch die Haare. „Du hast dir ja wirklich Zeit gelassen.“
Ich mustere ihn kurz. Dieselbe übermüdete Rastlosigkeit, dieselbe Unvernunft, die ihm schon immer im Nacken saß. Aber er lebt. Noch.
„Schön, dass du dich erinnerst, wer dir mal das Leben gerettet hat.“
Er öffnet den Mund für eine schnippische Antwort, doch ich unterbreche ihn mit einem scharfen Blick.
„Sei still.“ Meine Stimme ist leise, aber fest. „Meine Anwesenheit hier bleibt besser unbekannt.“
Cyrus hebt abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut.“ Dann schnaubt er leise. „Deine Dramaturgie hast du jedenfalls nicht verloren.“
Ich ignoriere das, drehe mich wieder zu Sylvana. „Wo waren wir?“
Die Runen fühlen sich alt an. Nicht nur im Sinne von Jahrhunderten oder Jahrtausenden—nein, älter. Ein Relikt aus einer Zeit, die längst hätte vergessen sein sollen. Und doch stehe ich hier, meine Fingerspitzen über das kalte Metall gleitend, während die Muster unter mir vage pulsieren, als hätten sie nur auf Berührung gewartet.
Sylvana beobachtet mich mit der nervösen Faszination eines Kindes, das nicht weiß, ob es sich vor der Dunkelheit fürchten oder sie berühren soll. Cyrus blinzelt den Schlaf aus seinen Augen, hockt sich hin und runzelt die Stirn.
Ich lege die Hand auf die Gravuren. Der Raum verändert sich sofort.
Ein dumpfes Ziehen in der Luft. Eine unsichtbare Präsenz, die sich aus den Schatten meiner Magie formt. Es ist nicht der Golem—nein, er schläft. Das hier ist das Echo von dem, was in ihn hineingeflossen ist.
Ich lasse den Atem langsam ausströmen. Dann öffne ich den Fluss der Magie.
„Die Sprache der Urelfen ist Magie selbst,“ sage ich, ohne den Blick zu heben. „Sie zu sprechen, heißt, sie zu aktivieren.“
Und dann spreche ich.
Die Worte kommen nicht aus meinem Mund, sondern aus dem Gewebe des Raumes selbst. Sie sickern durch die Luft wie Öl über Wasser, graben sich tief in das Mark des Moments.
„Kehr um, fürchtest du die Teufel, gefangen in den Scherben des Prismas.
Reflektionen ersticken uns, wenn unsere Augen verschlossen bleiben.
Ich kann die Essenz des Lebens halten. Eine Seele geht hinein, eine kommt heraus.
Aber bevor ihr Narren euch als Götter maskiert, fragt euch eins.
Seid ihr bereit zu zweifeln?“
Es wird still. Schwer. Die Worte hallen in den Knochen nach, nicht in den Ohren.
Ich lasse die Magie verblassen. Die Schatten ziehen sich in meine Finger zurück, das kalte Glimmen der Runen stirbt. Doch die Kälte im Raum bleibt.
Sylvana sieht mich an, als hätte sie gerade den Rand der Welt betreten und bemerkt, dass dahinter nichts ist.
Ich mustere sie einen Moment, dann spreche ich.
„Die Bürde der Entscheidung ist deine.“
Sie schluckt. Ich sehe es an ihrem Hals, sehe es in der Art, wie ihre Finger sich um ihr Handgelenk schließen.
„Wenn du ihn aktivieren willst,“ sage ich schließlich, „sprich Vash Del’rel – Ich bin bereit.“
Einen Moment lang bleibt sie einfach stehen.
Ich nicke knapp. Dann drehe ich mich um und gehe zur Tür.
„Meine Schuld ist beglichen.“
Und damit laufe ich richtung Tür.
Ich bin fast im Rahmen, als ich innehalte. Meine Finger ruhen auf dem kalten Metall des Griffs, doch ich drehe mich noch einmal um. Sylvana steht da, immer noch wie versteinert, als würde das Gewicht meiner Worte und der Runen sie am Boden halten.
„Ich habe noch eine Nachricht von deiner Schwester, Sylvana.“
Ihre Augen weiten sich leicht. Ich sehe, wie sich Cyrus neben ihr aufrichtet, sein Blick neugierig, aber wachsam.
„Sie sagt: Die Partie ist eröffnet und das Brett in Position. Die Türme werde ich aus dem Spiel nehmen.“
Ich lasse die Worte sinken. Lasse sie wirken. Dann neige ich den Kopf leicht zur Seite, meine Stimme kaum mehr als ein kühler Hauch:
„Doch den König, liebe Schwester, musst du schlagen, wenn die Möglichkeit sich öffnet.“
Ein Atemzug vergeht. Dann drehe ich mich um und verlasse die Werkstatt.
Ein subtiler Hauch von Zweifel versucht sich in meinen Kopf zu schleichen, doch ich ersticke ihn.
Die Balance liegt in deinen Händen, Sylvana.
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