Kapitel 21 - Tochter der Magie
21. Tochter der Magie
Die Luft in Tornlen ist kühl, das Licht der schwebenden Leuchtkristalle wirft sanfte Schatten auf die Reihen alter Bücher, die sich an den Wänden bis zur Decke türmen. Ich sitze an meinem massiven Schreibtisch aus dunklem Eldenholz, meine Fingerspitzen über die Runen eines alten, ledergebundenen Buches gleitend. Die Schrift atmet, flüstert, fast als würde sie mich locken.
Infernal.
Die Sprache der Teufel.
Das Buch beschreibt die Mechanismen dämonischer Pakte – die Worte, die sie wählen, die Versprechen, die sie geben, die feinen, unsichtbaren Ketten, die sie damit schmieden. Ein Händler in Lotarm hatte es mir verkauft, ohne zu wissen, was er besaß. Aber ich wusste es. Und Wissen ist wertvoll.
Ich lasse den Finger über eine besonders verschlungene Passage wandern.
„Das erste was ein Teufel säht ist Zweifel. Dein Weg, deine Moral, deine Chancen. Er nimmt den Wert deiner Identität, bis ein Pakt für deine Seele garnichtmehr so abwägig klingt, wie zunächst erdacht…“
Dann spüre ich es.
Eine Präsenz. Eine Bewegung im Türrahmen.
„Ein faszinierendes Studium, Mylaina.“
Meine Finger erstarren über dem Pergament.
Es gibt nur einen Menschen auf dieser Welt, der mich so nennt.
Ich hebe den Blick.
Elowin Delumiere steht in der Tür, sein langer, weißer Umhang schimmert im gedämpften Licht, seine goldenen Augen durchdringend wie immer. Er bewegt sich mit der Leichtigkeit eines Raubtiers, das keinen Laut macht, während er näher tritt.
Ich schließe das Buch langsam.
„Elowin,“ sage ich ruhig. „Ich hätte nicht erwartet, dich heute zu sehen.“
Er mustert die Regale, streicht mit seinen Fingerspitzen über die Buchrücken.
„Die Wege, wie Teufel ihre Opfer in Verträge locken…“ murmelt er. „Ein merkwürdiges Thema für dich.“
Ich erwidere seinen Blick.
„Erkenntnis ist nicht merkwürdig. Sie ist notwendig.“
Ein Hauch eines Lächelns streift seine Lippen.
„Das stimmt.“ Er neigt den Kopf leicht, als würde er eine Melodie hören, die nur ihm bekannt ist. „Und doch frage ich mich, ob du weißt, wann Erkenntnis gefährlich wird.“
Er will, dass ich zögere. Dass ich mich frage, ob er etwas weiß, das ich nicht weiß. Aber ich spiele dieses Spiel nicht mit.
„Wirst du mich warnen, Elowin?“
Sein Blick ruht auf mir, abschätzend.
„Warnen?“ Er schüttelt kaum merklich den Kopf. „Nein. Ich werde dir nur eine Erinnerung schenken.“
Er tritt an den Tisch, legt seine Fingerspitzen auf das alte Buch. Ich weiß, dass er es fühlt – das Flüstern der Runen, die fremde Magie, die in den Seiten lauert. Dann hebt er den Blick.
„Ein Handel, Mylaina, ist nur dann ein Fehler, wenn man nicht weiß, auf welcher Seite der Waage man steht.“
Ich halte den Atem an, warte, ob er noch etwas sagt. Elowin sucht nach einer Reaktion – nach einer Regung, einem Zucken in meinem Gesicht. Nach etwas, das ihm verrät, was ich denke. Doch ich gebe ihm nichts.
Dann bricht er das Schweigen selbst.
„Hast du von der Präsentation des Eisenmanns in Lotarm gehört?“
Seine Stimme bleibt ruhig, beiläufig, doch ich erkenne das Muster dahinter.
„Ich habe davon gelesen.“ Ich lehne mich leicht zurück, falte die Hände über das Buch. „Es klang… interessant. Eine formidable handwerkliche Leistung.“
Elowin schnaubt leise, als hätte ich etwas Naives gesagt.
„Oh ja, ganz ohne Zweifel ein kleines Wunder der Mechanik. Oder jedenfalls wäre es das, wenn die richtigen Leute daran gearbeitet hätten.“
Er geht langsam an den Regalen entlang, betrachtet die Bücherrücken mit mildem Interesse.
„Lavender Mareau.“ Er spuckt den Namen aus, als schmecke er bitter. „Ein junger Adeliger mit zu viel Ehrgeiz und zu wenig Demut. Er hat zwei Hauslose als Erfinder präsentiert. Sylvana – und irgendeine andere Ratte aus dem Distrikt der Hauslosen. Als hätte jemand wie sie solch ein Werk erschaffen können.“
Ich halte seine Worte fest, wie ein Dolchgriff in meiner Handfläche.
„Und doch muss sie in irgendeiner Weise involviert sein,“ sage ich ruhig.
„Natürlich. Aber ihre Rolle ist bedeutungslos.“ Elowin bleibt vor einem der Fenster stehen, blickt auf die Türme Milthrandirs hinaus. „Die Materialien dieses Konstrukts sind nichts, was in Lotarm zu finden wäre. Wer auch immer das gebaut hat, war kein Straßenkind mit einem Schraubenschlüssel.“
Er wendet sich mir wieder zu, sein Blick durchdringend.
„Und selbst wenn Sylvana es schafft, ihn zu wecken, wird sich der Eisenmann als ein nutzloses Stück Altmetall entpuppen. Ein magischer Nussknacker für irgendeinen dummen, adeligen Menschen.“
Seine Worte treffen tiefer, als ich es zugeben will. Doch mein Gesicht bleibt unbewegt.
„Warum erzählst du mir das?“
Elowin gähnt leise, hebt beiläufig eine Hand und streicht sich über die Stirn, als würde das Gespräch ihn bereits ermüden.
„Ich will verhindern, dass deine nutzlose Schwester und ihr Aufstand um nichts dich von deinen Studien und Verpflichtungen ablenken.“
Seine Stimme ist glatt, beiläufig. Aber in seinem Blick liegt ein Funke mehr.
Er will sehen, ob ich beiße.
Ich beiße nicht.
Ich lasse das Schweigen zwischen uns sprechen, beobachte ihn, während er sein eigenes Gewicht in der Stille wiegt.
Dann nickt er knapp und dreht sich um.
„Es beruhigt mich dich fokussiert zu sehen, Mylaina.“
Seine Schritte verhallen, als er den Raum verlässt.
Ich bleibe zurück.
Das Buch unter meinen Fingern.
Mein Herz ruhig.
Aber meine Gedanken nicht.
Ich bleibe reglos sitzen, die Fingerspitzen noch immer auf dem Buch mit den infernalen Runen. Die Luft in Tornlen fühlt sich schwerer an als zuvor.
Sylvana ist also dort.
Ich wusste, dass zwei Hauslose mit Lady Melody untergekommen sind, aber ich hatte nicht gewusst, dass eine von ihnen meine Schwester ist.
Das könnte nichts Gutes bedeuten.
Lady Melody spielt keine Spiele, die sie nicht zu gewinnen beabsichtigt. Wenn sie sich auf Sylvana eingelassen hat, dann nicht aus Großzügigkeit.
Ich schließe die Augen für einen Moment, versuche, das Schachbrett dieser Stadt vor mir zu sehen. Elowins herablassende Worte hallen in meinem Kopf nach, doch ich konzentriere mich auf das, was wirklich zählt.
Ist Sylvana in Gefahr?
Ich kann nicht einfach nach Hammerfall marschieren. Nicht mit den Augen Elowins und des gesamten Distrikts auf mir. Aber es gibt andere Wege, Informationen zu bekommen.
Das ist nicht gut. Vielleicht muss ich mit meinen Plänen schneller voranschreiten, als geplant.
Doch ich habe noch keine Garantie für einen Sieg in einem Duell. Ich muss stärker werden. Und das schnell.
Ein Name kommt mir in den Sinn.
Jemand, der Fäden zieht, ohne dass die Welt es bemerkt.
Jemand, der mir einen Blick hinter Lady Melodys Fassade gewähren könnte.
Ein altes Gesicht aus einer anderen Zeit.
Mein Entschluss steht fest.
Ich stehe langsam auf, schließe das Buch mit einem dumpfen Klopfen und schiebe es beiseite. Dann trete ich ans Fenster meines Turms und blicke hinaus.
Die Türme Milthrandirs ragen wie weiße Dolche in den Himmel.
Doch meine Gedanken sind längst woanders.
So viel wissen liegt in diesen Türmen. Ich werde die umwerfen, wenn ich es dann mit der Welt teilen kann.
Eine Welt ohne Makel ist stets eine Illusion.
Meine kleine Syl. Du siehst micht vielleicht schon längst nichtmehr als deine Schwester. Aber damals wie heute bist du der Ruf.
Ich spüre die Zeit zu handeln ist hier.
Du auch, Schwester?
Die Lüge des elfischen Bluts und des magischen Anrechts.
Ich symbolisiere jede Faser von ihr.
Ich bin das Erbe ihrer Wahrheit. Und ihre Korrektur.
Elowin.
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