Kapitel 15 - Schnee und Stille
15. Schnee und Stille
Die Nacht ist tief, der Sturm tanzt um uns herum wie ein ruheloser Geist. Schneeflocken wehen über die Veranda, sammeln sich in kleinen Häufchen auf dem Geländer, bevor der Wind sie fortreißt. Der eisige Atem der Berge ist allgegenwärtig, drückt gegen meine Wangen, füllt meine Lungen mit seiner klirrenden Kälte. Und doch ist es nicht unangenehm. Es ist nur die Art, wie diese Welt atmet.
Neben mir steht Magora. Ihr rotes Haar wird von der Kapuze ihres Mantels halb verdeckt, aber ich sehe noch immer die Sommersprossen auf ihren Wangen, die der Kälte trotzen. Ihre Arme sind vor der Brust verschränkt, ihre Haltung gelöst, aber aufmerksam. Wir haben uns nie viel aus Worten gemacht.
Ich atme einmal tief durch und lasse den Blick über das verschneite Niemandsland schweifen.
„Danke, Mag.“
Sie antwortet nicht sofort, aber ich spüre, wie sie sich leicht zu mir dreht. Ich schüttle den Schnee von meinen Zöpfen und fahre fort:
„Du hast mein Leben gerettet. Seines auch.“
Meine Stimme klingt rau, ehrlicher, als ich es geplant hatte. Ich weiß nicht, was dieses Kind ist, was es bedeutet. Aber es bedeutet etwas. Mehr, als ich vielleicht in Worte fassen kann.
Magora nickt langsam, als würde sie jedes Wort abwägen, bevor sie antwortet.
„Es ist in Ordnung.“ Ihre Stimme ist wärmer als zuvor, weniger pragmatisch als sonst. „Es ist eine harte Welt hier draußen, Zhan.“ Sie lehnt sich mit den Ellenbogen gegen das Geländer, betrachtet die tanzenden Schneeverwehungen, als würde sie in ihnen etwas suchen. „Aber wir haben schon vor Jahren gelernt, dass man hier aufeinander aufpassen muss.“
Ich sehe sie einen Moment lang an. Dann nicke ich.
„Das haben wir.“
Der Wind heult kurz auf, peitscht die Flocken um uns herum. Magora schüttelt den Kopf und grinst leicht.
„Bleib hier, solange du musst. Bis du raus zu deiner Jägerhütte kannst. Falls sie überhaupt noch steht.“
Ich schnaube leise.
„Oh, ich wette, sie steht. Aber ich wette auch, dass es da drin schlimmer aussieht als der sechste Kreis.“
Sie lacht kurz, eine flüchtiger Moment der Erleichterung.
„Dann solltest du dich drauf einstellen, dass du erstmal hier bleibst.“
Ich drehe mich zu ihr, mustere sie einen Moment. Dann lehne ich mich leicht gegen die hölzerne Säule der Veranda und lasse ein kleines Lächeln zu.
Zum ersten Mal seit langer Zeit.
Die Nacht war still gewesen. Zum ersten Mal seit Tagen hatte es sich nicht so angefühlt, als würde der Sturm die Welt verschlingen wollen. Aber jetzt, mit der aufgehenden Sonne, brachte der Wind eine andere Kälte mit sich. Eine, die tiefer schnitt als Frost.
Ich sah es in Magoras Augen, noch bevor die Wache eintraf. Eine Unruhe, die sich in ihren Schultern abzeichnete. Sie lehnte sich vom Geländer ab, als der uniformierte Soldat durch den Schnee stapfte und vor ihr strammstand.
Er salutierte. „Kommandantin Vensar. Die Späher sind zurück.“
Magoras Haltung veränderte sich sofort. Gerade, fokussiert, die Ruhe selbst. „Bericht.“
Der Mann atmete tief ein, als würde er sich innerlich auf seine eigenen Worte vorbereiten. „Es ist weitaus schlimmer, als wir zunächst gedacht hatten. Es gibt… keinerlei Überlebende.“
Mein Blick blieb auf dem Soldaten hängen. Kein Zucken, keine Gefühlsregung, nur dieser Moment, in dem man realisiert, dass eine ganze Siedlung einfach nicht mehr existiert.
„Zusätzlich…“ Der Soldat griff in seine Tasche und zog ein verkohltes Stück Stoff hervor. Schwarz und Rot, kaum mehr als ein Fetzen, aber das Emblem darauf war noch erkennbar.
Magora zuckte zusammen.
Die Leibgarde des Imrans.
„Wie ist das möglich?“ Ihre Stimme war ruhig, aber ich konnte die Anspannung darin hören. „Was würde die Leibgarde des Imrans hier draußen machen?“
Der Soldat schüttelte langsam den Kopf. „Wir wissen es nicht, Kommandantin. Wir…“
Seine Unsicherheit war verständlich. Der Imran hatte kaum Interesse an diesen eisigen Landen gezeigt. Warum sollte seine persönliche Garde so weit abseits der Handelsrouten auftauchen?
Magora holte tief Luft, ihre Haltung fester als zuvor. „Wenn es hier draußen eine Bedrohung gibt, die selbst die Leibgarde ausschalten kann, dann müssen wir uns wappnen. Es ist Zeit, die Truppen zusammenzutrommeln und neue Perimeter zu bilden. Ich will—“
„Kommandantin.“
Die Wache hob zögernd die Hand, als würde sie sich für ihre Unterbrechung entschuldigen.
„Es gibt noch mehr.“
Magoras Blick wurde schärfer. „Sprich.“
„Einige Gruppen uniformierter Leute ziehen umher. Eine davon sind… Zwerge.“
Ein leises Knacken im Schnee. Magora wirkte noch angespannter als zuvor. „Zwerge?“
Die Wache nickte. „Wir konnten einige blaue Tätowierungen sehen. Wir vermuten, dass es…“
„Geldzwerge.“
Ich sagte es, bevor der Soldat es konnte. Ich spürte, wie ihre Blicke auf mich fielen. Magoras Miene blieb regungslos, aber sie hatte verstanden.
„Ich bin in Soranica aufgewachsen, bevor ich hierherkam.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, wie sie aussehen. Aber was zur Hölle machen die Geldzwerge hier draußen?“
Magora starrte einen Moment lang auf das verkohlte Stück Stoff in der Hand des Spähers. Dann schüttelte sie den Kopf. „Wenn die Geldzwerge hier sind, dann sind sie vielleicht verantwortlich für das, was in Torshaven passiert ist.“
Sie straffte die Schultern und drehte sich zur Wache. „Trefft mich in meinem Büro der Kaserne. Wir müssen uns neu formieren.“
Dann sah sie zu mir. „Vance, ich werde den Jungen mitnehmen. Mach dich in der Zeit nützlich und geh jagen. Vielleicht hast du Erfolg und wir haben ein paar Tage länger Essen.“
Ich hielt ihrem Blick stand, dann nickte ich.
Magora wandte sich ab, trat ins Haus und wickelte den Jungen fester in die Decken, um ihn vor der Kälte zu schützen
Ein leises Seufzen entkam mir. Ich trat näher an den Kleinen heran, beugte mich ein Stück zu ihm herunter.
„Pass auf dich auf, Niji.“
Er sah mich nicht wirklich an, seine Augen halb geschlossen, zwischen Erschöpfung und einer Art friedlicher Trance.
Dann drehte ich mich um, trat an die Wand des Hauses und nahm einen der alten Jagdbögen von den Haken. Die Sehne war noch straff, die Pfeile in gutem Zustand. Mag nickt mir zu. Ich warf mir den Köcher über die Schulter und trat hinaus in die weiße Wildnis.
Der Wind war kälter geworden. Zeit die Gegend auszukundschaften.
Der Wind war trügerisch sanft auf dieser Höhe. Er zog über den schneebedeckten Grat hinweg, strich mir durch die geflochtenen Zöpfe und ließ die kalte Luft wie ein leises, unerbittliches Flüstern über den Felsen hinwegrollen.
Unter mir zog sich ein enger, verschneiter Pfad durch das Gebirge – der einzige sichere Übergang für Karawanen, die sich so weit von den Handelsstraßen entfernten. Und genau dort, zwischen den weißen Klippen und dem tosenden Nichts darunter, bewegte sich die Patrouille der Geldzwerge.
Ich ließ meinen Blick über sie gleiten, leise, methodisch. Ihre Umhänge waren schwer mit Schnee beladen, doch an den freien Stellen konnte ich das Blau ihrer Tätowierungen erkennen, die sich über Nacken und Arme schlängelten. Keine einfachen Schuldeneintreiber. Diese Männer waren hochrangig. Veteranen des Handelskrieges.
Was treibt euch so weit aus euren dunklen Gassen, hm?
Die Geldzwerge hatten immer ihre Finger in den Taschen der Mächtigen. Verbündete des Imrans, Finanzierer von Zatsudans Kriegszügen. Doch was brachte sie hierher, in die Wildnis? Es gab nur eine handvoll plausibler Antworten.
Dann sah ich es.
In ihrer Mitte, auf einem knarrenden Schlitten aus dunklem Holz, stand ein Käfig. Eisenstangen, von Frost überzogen. Darin: Kinder.
Fünf.
Eine von ihnen, kaum älter als acht, kauerte sich in die Ecke, ihre Wangen rot von der Kälte, ihre Hände unter den Ärmeln ihres dünnen Mantels versteckt. Die anderen waren älter – Jugendliche, vielleicht fünfzehn, vielleicht älter. Ihre Gesichter waren bleich, mager und angespannt. Hatten sie die aus Lin Quei mitgenommen?
Wenn sie Geiseln haben, kann das nur eins heißen.
Die Geldzwerge wussten, wonach sie suchten. Und sie wussten, dass ich hier war.
Wenn sie das Dorf erreichen, werden sie Fragen stellen. Meine Identität fliegt auf und ich bin ein toter Mann. Und was Niji erwartet… Könnte noch schlimmer sein.
Ich schloss für einen Moment die Augen. Sie versuchten, mich zum Zögern zu bringen. Mich zum Nachdenken zu zwingen.
Der Schnee knirschte unter meinen Knien, als ich mich tiefer in meine Deckung senkte. Langsam griff ich in die Innentasche meines Mantels und zog einen kleinen, glatt polierten Stein hervor. Smaragdgrün, durchzogen von feinen, schimmernden Adern.
Ich spürte, wie die Magie in meinen Adern vibrierte.
Langsam ließ ich meinen Atem ruhiger werden, meine Gedanken klarer. Ich legte meine Fingerspitzen auf den Stein, ließ die Wärme meiner Magie in ihn fließen.
Die Luft um mich herum veränderte sich.
Das Flüstern des Windes wurde dumpfer, tiefer. Als würde der Berg selbst aufmerken, als würde er meine Absicht spüren.
Zwischen meinen Fingern begann der Stein zu leuchten – erst schwach, dann pulsierend, ein unnatürliches, fast lebendiges Grün, das sich wie eine Flamme an den Rändern kräuselte.
Die Erde reagierte.
Unter der Schneedecke vibrierte etwas, ein Zittern, das sich tief in die Felsen grub. Ich konnte es spüren, als würde die Welt unter meinen Knien den Atem anhalten.
Dann –
Ein einziger Impuls.
Kein Geräusch, kein greller Blitz. Nur ein plötzlicher, massiver Druck, der aus dem Stein in den Berg schoss, wie eine unsichtbare Hand, die sich in das Eis grub.
Der Hang unter mir zuckte. Ein Bruch in der Stille.
Und dann, als hätte der Berg nur auf ein Zeichen gewartet –
Er gab nach.
Die gewaltige, eisige Welle brach los und begann alles zu verschlingen. Krachend gaben Bäume nach und Steine kamen ins rollen. Einige Zwerge deuteten nach oben, riefen und versuchten sich zu retten. Der Wagen mit den Kindern blieb verlassen zurück. Panisch rüttelten sie an den Gitterstäben.
Keiner entkam.
Ich verharrte noch für einen Moment, die Finger um den jetzt farblosen Stein gelegt.
Ich beobachtete, atmete tief ein. Dann ließ ich den Stein in den Schnee fallen, wo er lautlos versank.
Die Welt wurde wieder still. Langsam begann ich herabzusteigen. Ich untersuchte die Straße, als ich ein schmerzerfülltes Stöhnen hörte.
Der Oberkörper eines Zwergs ragte aus dem eisiges Sarg.
„Du warst das, onderianische Krähe.“ Er keucht und flucht.
„Euch kranken Schweinen ist nichts heilig, die Zatsudani hatten recht!“ Die Verzweiflung und der Schmerz waren in sein Gesicht gebrannt.
„Ihr könnt ihn nicht haben,“ atme ich aus, als ich mich neben ihn knie und mein Jagdmesser ziehe.
„Nein bitte, Naarghh - , “ ein letztes Keuchen als mein Messer seine Kehle durchtrennt.
Ich ziehe meine kompakte Schaufel heraus und klappe sie auf, bevor ich seinen den Schnee färbenden Kopf mit Schnee bedecke.
Ich lief ein paar Meter weiter und sah eine kleine, fragile Hand. Bewegungslos ragte sie durch die Schneedecke, während die fallenden Flocken schon daran waren, sie für immer verschwinden zu lassen.
Meine Hände zitterten. Ich grub. Wie im rausch schaufelte ich das weiße Meer beiseite, bis ich den leblosen, fragilen Körper des Mädchens vor mir sah.
Lenora… Für mich ist es längst zu spät. Es tut mir leid.
Aber vielleicht hattest du auch Recht. Vielleicht war etwas wichtiges in diesem Haus. Ich werde ihn beschützen, bis ich das herausfinde.
Ein paar Meter weg vom Pfad, kämpfe ich mich durch den Boden. Ich lege das Mädchen in das ausgehobene Loch und ziehe die Spieluhr aus meiner Tasche. Ich platziere sie auf ihr. Dann bedecke ich sie mit Erde und Schnee.
Meine Augen vergessen, worauf sie sich gerade fokussieren wollten.
Meine Hände zucken leicht, als wollten sie sich erinnern, wofür sie existieren.
Danach atmet die Szene ihren letzten Atemzug. Das Rauchen des Windes, die Kälte auf meiner Haut.
Alles was übrig ist.
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