Kapitel 11 - Gift
11. Gift
Manche Türen lassen sich nicht öffnen, ohne etwas zurückzulassen.
Das war ein Satz, den mein Vater ständig wiederholte. Aber in den letzten Wochen suchte er mich heim, wie ein ruheloser Geist.
Ich stehe vor dem massiven Steingebäude und blicke nach oben. Dritter Stock, Balkon links. Dwindels Quartier.
Ich klopfe gegen das Geländer des Fensters und rufe nach oben. „Oi, Dwindel! Mach auf, Junge!“
Keine Antwort.
Ich brumme leise in meinen Bart und trete einen Schritt zurück, werfe einen Blick auf das Gebäude. Es sind solide Häuser hier im Distrikt. Gebaut für Schmiede, für harte Arbeiter. Aber die Wände erzählen Geschichten, wenn man genau hinsieht. Und gerade gefällt mir diese Geschichte nicht.
Eine Bewegung am Rande meines Blickfelds. Ein Nachbar kommt aus der Tür unter mir, ein älterer Zwerg mit breiten Schultern und einem rußverschmierten Hemd. Ich erkenne ihn flüchtig von der Anlage.
„Kennst du den Jungen im dritten Stock?“ frage ich, meine Stimme ruhiger, als ich mich fühle.
„Dwindel? Aye, kenn ich. Guter Junge, immer freundlich. Aber…“ Er kratzt sich am Bart. „Hab ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.“
Zwei Tage. Mein Nacken spannt sich.
Ich nicke knapp. „Danke.“
Dann trete ich an die Tür des Gebäudes, drücke sie auf und nehme zwei Stufen auf einmal. Die Treppen sind eng, aber das hält mich nicht auf. Dwindel ist keiner, der sich einfach zwei Tage aus allem raushält. Nicht ohne Grund.
Oben angekommen, klopfe ich an die Tür seines Quartiers. „Dwindel? Ich bin’s, Sigmund.“
Stille.
Dann sehe ich es.
Die Tür steht einen Spalt offen.
Ein ungutes Gefühl kriecht mir in den Rücken. Ich drücke die Tür vorsichtig auf und trete ein.
Chaos.
Das Quartier sieht aus, als hätte ein Sturm gewütet. Der Tisch ist umgekippt, die Schranktüren stehen offen, als hätte jemand nach etwas gesucht. Der Geruch von verschüttetem Bier und kaltem Schweiß hängt in der Luft. Und dann sehe ich ihn.
Dwindel liegt auf dem Boden, seine Kleidung zerrissen, sein Gesicht blass, seine Brust hebt und senkt sich ungleichmäßig.
„Verdammter Mist.“
Ich bin sofort bei ihm, knie mich neben ihn und prüfe seinen Puls. Sein Herz rast. Und dann sehe ich seine Augen – halb geöffnet, aber ohne Fokus.
Spice.
Die verdammte Scheiße frisst ihn auf. Und dazu ist er verwundet, wahrscheinlich zusammengeschlagen.
Ich drücke eine Hand gegen seine Schulter. „Junge, hörst du mich?“ Keine Reaktion.
Ich reiße meinen Blick los und brülle durch den Raum. „HILFE! VERDAMMT, HILFE!“
Nichts. Ich presse die Zähne aufeinander und tue das Einzige, was jetzt zählt. Ich reiße eine Tischdecke in Streifen, presse sie auf seine Wunden, versuche ihn stabil zu positionieren.
Dann Schritte. Eine Frau taucht in der Tür auf, die Augen weit.
„Was—?“
„Ein Arzt!“ Ich schneide ihr die Frage ab. „Los, renn! Sofort!“
Sie zögert einen Moment, dann dreht sie sich um und sprintet los.
Ich presse die improvisierte Binde fester auf Dwindels Seite. Seine Atmung ist flach.
„Verdammter Junge…“ murmele ich. „Was hast du dir da nur eingebrockt?“
Ich werfe einen Blick zur offenen Tür, nach draußen, dorthin, wo die Dunkelheit des Distrikts lauert.
Wer auch immer das getan hat – ich werde es rausfinden.
Dwindels Körper bebt leicht unter meinen Händen. Seine Atmung ist ungleichmäßig, flach. Ich presse die improvisierte Binde noch fester gegen seine Seite, aber sein Puls ist schnell – zu schnell.
Draußen hallt ein schriller Ruf durch die Straßen.
„Ein Arzt! Bitte, ein Arzt!“
Die Frau, die ich losgeschickt habe, brüllt in Panik, und ich höre das Echo ihrer Worte an den Steinwänden abprallen. Schritte hasten vorbei. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund.
Ich will gerade rufen, dass sie sich beeilen sollen, als mein Blick auf Dwindels Brust fällt – und mein Magen sich zusammenzieht.
Das Symbol.
Ein Drachenkopf, tief eingebrannt in seine Haut, kaum sichtbar unter den zerrissenen Stofffetzen. Die verdammte Markierung Mithras.
Die Geldzwerge.
Mir wird eiskalt, aber ich kann es mir nicht leisten, jetzt zu erstarren. Dwindels Pupillen beginnen zu flattern, sein Mund öffnet sich ein Stück, und ein dünner Schaum quillt über seine Lippen.
„Nein, nein, nein, nicht jetzt, Junge! Bleib bei mir!“ Ich rüttle ihn leicht, versuche, seine Aufmerksamkeit zurückzuholen, aber sein Körper wirkt immer lebloser, wie ein Schatten seiner selbst.
Ich schreie noch einmal nach draußen, meine Stimme rau vom Ruß der Schmiede. „Beeilt euch, verdammt!“
Dann höre ich eine tiefere Stimme, leise, aber bestimmt, draußen mit der Frau sprechen.
„Ich bin Arzt. Wo ist er?“
Ich atme tief durch. Dwindel. Dieses verdammte Zeichen auf seiner Brust brennt sich in meinen Kopf.
Das war eine Botschaft.
Die Tür schwingt auf, und ein schlanker junger Mann tritt ein. Sein Mantel ist abgetragen, seine Wangen leicht eingefallen, aber seine Augen – scharf wie geschliffener Stahl. Zu jung für einen Arzt, denke ich. Doch seine Hände sind ruhig, als er sich vor Dwindel hinkniet.
„Ich bin Korash,“ sagt er knapp, während er mit geübten Bewegungen Dwindels Lider anhebt, seine Atmung prüft. „Weißt du, was er genommen hat?“
„Spice.“ Das Wort verlässt meinen Mund wie ein Eisenstück, das ich auf einen Amboss schlage. Schwer. Unverrückbar.
Korash nickt, keinerlei Überraschung in seinem Gesicht. Vielleicht hat er das hier schon zu oft gesehen. Vielleicht hat er bereits aufgegeben, es schockierend zu finden.
Der junge Arzt packt eine kleine Phiole aus seinem Mantel, öffnet sie mit den Zähnen, während ich Dwindel stabil halte. Er gibt ihm Tropfen auf die Zunge, drückt gegen seine Brust, während ich seine fiebrige Stirn halte. Wir arbeiten schweigend, nur der angespannte Rhythmus unseres Atems füllt den Raum.
Doch Dwindels Körper gibt nach. Seine Haut ist zu blass, seine Atmung zu flach. Ich spüre, wie sein Puls unter meinen Fingern unregelmäßig wird – dann zu stocken beginnt.
„Nein. Nein, komm schon, Junge.“
Ich schüttele ihn leicht, als könnte ich ihn zurückholen, ihn wieder ins Leben rütteln. Korash drückt fester, zählt leise, wiederholt die Prozedur, aber irgendwann…
Irgendwann hört er auf.
Ich kann es kaum hören, weil mein eigener Puls zu laut schlägt, aber das leise, bedauernde „Es tut mir leid“ schneidet mir trotzdem ins Mark.
Mein Griff um Dwindels Hand bleibt fest, auch als sie langsam kälter wird. Ich starre auf sein Gesicht – so jung, viel zu jung – und dann auf das eingebrannte Symbol auf seiner Brust.
Das war keine Gerechtigkeit.
Nur ein Urteil.
Und wenn sie es mit ihm getan haben… dann könnte Dondir als Nächster dran sein.
Ein Brennen setzt sich in meiner Brust fest. Ich stehe langsam auf, meine Hände ballen sich zu Fäusten.
„Scheiße,“ murmle ich, meine Stimme wie ein Echo im leeren Raum.
Ich atme tief durch. Meine Hände ruhen schwer auf meinen Knien, fühlen sich an wie Stein, während mein Blick auf Dwindel fällt. Bald werden die Wachen kommen, ihn mitnehmen, ihn wegtragen wie einen Fremden, ein weiteres Stück Papier in ihren verdammten Akten. Aber nicht so. Nicht in diesem Zustand. Nicht so schmutzig, so entblößt.
Ich zwinge mich, die Enge in meiner Brust zu ignorieren, mich zu bewegen. Meine Finger sind rau, geübt darin, Metall zu formen, aber jetzt glätten sie behutsam den zerfetzten Stoff seines Hemds, streichen durch seine zerzausten Haare. Es ist nicht viel, aber es ist das Einzige, was ich noch für ihn tun kann.
Korash sagt nichts, aber ich spüre seinen Blick. Ruhig, beständig, mit einer Gelassenheit, die für einen Jungen seines Alters unnatürlich ist. Kein leeres Mitleid. Nur dieses klare, nüchterne Verständnis. Dann, leise:
„Ich bleibe. Sobald die Wachen fertig sind, werde ich ihn reinigen.“
Ich halte inne, drehe langsam den Kopf und sehe ihn an. Der Junge spricht, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Keine Spur von Unsicherheit. Nur eine schlichte Tatsache. Ich nicke, runzle die Stirn, weil ich nicht ganz begreife, warum er mir das abnimmt. Warum er bleibt. Aber jetzt ist nicht die Zeit, das zu hinterfragen.
„Danke, Korash.“ Es kommt rauer über meine Lippen, als ich es beabsichtigt habe. Er scheint es nicht zu beachten.
Ich atme tief durch. Die Wachen werden jeden Moment hier sein. Und es gibt noch etwas, das ich tun muss.
„Ich werde seinen Eltern Bescheid sagen.“
Ich hatte Dondir im Blick gehabt. Und dachte, das reicht. Aber ein gelegtes Feuer, fragt nicht ob es sich ausbreiten darf.
Korash hebt langsam den Kopf, sieht mich an. Sein Blick ist klar, fest. „Sag es ihnen, wie es war.“ Kein Zögern in seiner Stimme. Keine Ausflüchte. „Keine Lügen. Sie verdienen die Wahrheit.“
Ich halte seinem Blick stand. Dann senke ich langsam den Kopf und nicke. Die Wahrheit. Ich wünschte, es gäbe eine einfachere Version davon. Eine, die weniger wehtut. Aber es gibt keine.
Ich richte mich auf, strecke die Schultern. Dwindel ist fort. Aber Dondir ist noch da.
Und wenn es noch etwas gibt, das ich tun kann, dann werde ich es tun.
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