Kapitel 10 - Geister

10. Geister


Meine Skizzen des Eisenmanns breiten sich wie eine aufgeschlagene Karte über den Arbeitstisch aus. Jede Linie ist präzise gezogen, jede Notiz eine Kralle meiner Gedanken, die versucht, das Unfassbare zu begreifen. Ich hatte jede Einkerbung dieses Dings studiert, jeden Mechanismus nachgezeichnet, bis sich mein eigener Puls mit dem seiner verborgenen Scharniere vermischte. Doch so tief ich in die Theorie eintauchte – es blieb ein Rätsel.

Der Arcana-Locator. Ich hätte es früher merken müssen. Ohne ihn bin ich blind.

Ich massiere meine Schläfen und lehne mich zurück, gerade als die Tür aufspringt. Ein kalter Windhauch schlägt durch die Werkstatt, wirbelt meine losen Papiere auf. Ich sehe auf.

Cyrus.

Er taumelt in den Raum, als hätte ihn die Stadt ausgespuckt. Seine Kleidung ist zerrissen, an mehreren Stellen verbrannt – Spuren der heißen Dampfstöße seiner eisernen Lunge. Sein Hemd ist an der Seite dunkel verfärbt, dort, wo ein Holzsplitter sich tief ins Fleisch gebohrt hat. Eine Platzwunde an seiner Lippe, eine neue Narbe für seine Sammlung.

Ich blinzele. Meine Gedanken rutschen, stoßen gegen eine Wand aus Alarm und Wut.

„Cyrus?!“

Ich bin schon bei ihm, greife nach seinem Arm, spüre die Spannung in seinen Muskeln, als er sich ins Mobiliar sinken lässt. Sein Atem ist flach, aber nicht instabil. Trotzdem sieht er schrecklich aus.

Mein Blick schweift über ihn, mein Gehirn arbeitet schneller als mein Mund. Schnittwunden. Blut. Der Holzsplitter. Ich greife nach meinem Beutel, ziehe Bandagen und Alkohol hervor.

„Sag mir, dass du nicht das getan hast, was ich denke.“

Er verzieht den Mund zu einem müden Grinsen.

„Ich bin nur kurz frische Luft schnappen gegangen.“

„Frische Luft?!“ Ich presse die Zähne zusammen, während ich den Alkohol extra unvorsichtig auf die Wunde drücke. Er zuckt zusammen.

„Also, falls du’s wissen willst, die Luft da draußen ist ziemlich schlecht. Ich hab ne Umfrage gemacht. Drei Zwerge fanden sie auch nicht besonders toll.“

Ich ersticke ein Fluchen und fange an, die Bandagen um seinen Arm zu wickeln. „Du bist ein gottverdammter Idiot, Cyrus.“

„Kann sein. Aber ich bin ein gottverdammter Idiot mit dem hier.“

Er greift in seine Tasche, zieht ihn hervor und hält ihn mir vor die Nase. Der Arcana-Locator.

Ich starre. Eine Sekunde lang existiert nichts außer diesem kleinen, unscheinbaren Gerät in seinen blutverschmierten Fingern.

Dann packe ich es ihm aus der Hand, halte es fest, als hätte ich die Lösung aller Probleme gefunden.

„Ich hoffe, du weißt das zu schätzen,“ murmelt Cyrus. „Hat mich fast meinen perfekten Körper gekostet.“

„Dein perfekter Körper sieht aus, als wäre er bereit für einen Galerieplatz in der Kanalisation.“

„Hey, manche Frauen stehen auf Narben.“

Ich hebe eine Augenbraue, schüttle dann den Kopf. Wütend. Erleichtert. Er ist ein Idiot, aber er ist mein Idiot.

Ich umarme ihn fest.

Ich lege den Arcana-Locator vorsichtig auf den Tisch, atme tief durch.

„Du hättest sterben können.“

Er lehnt sich zurück, schließt kurz die Augen. „So leicht macht die Welt es mir nicht.“

Ich presse die Lippen aufeinander, binde die letzte Bandage fester, als ich sollte. Er zuckt nochmal.

„Hey, Syl—“

„Halt den Mund.“

Er tut es.

Ich lehne mich gegen den Tisch, sehe ihn an. Hab ich dir das angetan, Cy?


Ich schiebe den Arcana-Locator näher zu mir, streiche mit den Fingern darüber.

„Ich hätte einen anderen Weg gefunden, Cyrus.“

„Weiß ich.“

Und doch bist du gegangen.

Ich sage nichts mehr. Er auch nicht.

Ich drehe mich um und zünde eine Lampe an. Wir haben eine lange Nacht vor uns.



Ich atme tief ein und lege den Arcana-Locator auf den Tisch. Der feine Messingrahmen glänzt im Schein der Lampe, das Kristallauge in seiner Mitte schimmert wie flüssiges Silber. Cyrus hat sich auf die nächstbeste Ablagefläche gesetzt, ein Bein auf der Werkbank, seine Bewegungen müde, aber beobachtend. Ich ignoriere ihn.

Meine Hände gleiten über das Metall des Golems.

Der Koloss liegt reglos auf dem schweren Holzgestell, seine Struktur aus geschwärztem Stahl und einer Legierung, die ich nicht einmal benennen kann.

„Dieser Bastard ist biegsamer als eine Syk-Natter,“ murmelt Cyrus hinter mir.

Ich nicke abwesend. „Er kann sich verbiegen, drehen, wenden – in einem Ausmaß, das die Biomechanik eines jeden Humanoiden übersteigt. Wie ich vermutet hatte.“

Ich greife nach dem Arcana-Locator, drücke auf die kleine Kupferplatte an seiner Seite. Das Kristallauge beginnt zu pulsieren. Ein sanftes, rhythmisches Licht tanzt über die Oberfläche des Golems, tastet ihn ab wie ein Suchscheinwerfer in einer mondlosen Nacht.

Zuerst ist da nichts.

Dann flackert es.

Eine feine, fast unsichtbare Linie an der rechten Schulter leuchtet auf – kaum dicker als ein Haar. Ich verenge die Augen, folge der Spur mit dem Finger.

Ein winziger Widerstand.

Meine Fingerspitzen ertasten eine Vertiefung, eine millimeterdünne Rille, die sich mit der perfekten Präzision eines Schlossmechanismus in das Metall einfügt. Ich atme aus, meine Gedanken rasen.

„Was hast du?“ fragt Cyrus, während er sich leicht nach vorne beugt.

„Einen Spalt,“ sage ich, ohne den Blick abzuwenden.

Ich drücke leicht. Nichts. Ich setze mehr Druck an. Immer noch nichts. Ich verlagere mein Gewicht, drücke mit beiden Händen –

Ein leises Klicken.

Cyrus hebt eine Augenbraue. „Ist das gut oder schlecht?“

„Das ist Fortschritt.“

Ich taste weiter. Der Locator führt mich zu einer weiteren Einkerbung, diesmal zwischen den Schulterblättern. Meine Hand fährt darüber, und diesmal spüre ich es sofort: eine präzise eingelassene Fläche, in die meine Finger perfekt passen. Fünf Einkerbungen.

Cyrus beugt sich über meine Schulter. „Soll das ein Witz sein? Es gibt keinen verdammten Weg, dass du einfach deine Hand da reinsteckst und—“

Ich lege meine Finger hinein.

Ein zweites Klicken.

Dann beginnt es sich zu bewegen.

Ein leises Zischen ertönt, als ein Mechanismus in Gang gesetzt wird. Die Vertiefung zieht sich leicht zusammen, als hätte ich eine Art Hebel betätigt. Ich zögere, dann drehe ich vorsichtig meine Hand.

Ein dritter Klick.

Mit einem tiefen, mechanischen Grollen öffnet sich eine versteckte Luke im Rücken des Golems. Ein feiner Dampf entweicht, warm auf meiner Haut, begleitet von einem Geruch nach heißem Metall und altem Öl. Ich weiche einen Schritt zurück.

Das Innere ist nicht das, was ich erwartet habe.

Zwischen den freigelegten Platten, direkt in der Mitte der Öffnung, ruht ein einzelner Knopf.

Er ist nicht einfach nur eingelassen – er ist in Magie eingewoben.

Feine Runen überziehen seine Oberfläche, filigrane Zeichen, die tief in das Metall geätzt wurden. Ich muss nicht einmal genauer hinsehen, um zu wissen, dass ich sie nicht lesen kann.

„Eldarin,“ flüstere ich.

Cyrus runzelt die Stirn. „Urelfisch? Das verheißt ja bekanntlich nur Gutes.“

Ich nicke bedacht. „Das hier ist weit älter als alles, was wir in Soranica je gesehen haben.“

Meine Finger streichen über die feinen Gravuren. Die Linien leuchten kurz auf, ein blasses Blau, dann verblasst es wieder. Ein Artefakt aus einer anderen Zeit. Eine Technologie, die nicht für uns gedacht war.

Ich lehne mich zurück, lasse meinen Blick über die Schriftzeichen gleiten.


Die Runen waren wunderschön und erschreckend zugleich. Jedes Zeichen kunstvoll in das Metall geätzt, feine Linien, so alt, dass sie fast mit der Oberfläche des Golems verschmolzen waren. Die alte Welt, dachte ich. Ich hatte darüber gelesen. Bruchstücke, kaum mehr als Legenden. Und doch war es real. Dieser Golem war echt.

Ich legte den Arcana-Locator beiseite und atmete tief durch. Zu viele Fragen, zu wenig Antworten. Ich konnte es nicht entziffern. Vielleicht, wenn ich mehr Zeit hätte. Ein paar Wochen. Ein paar Monate. Oder ein Leben.

Cyrus‘ Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Also? Aktivieren wir das Ding jetzt oder nicht?“

Ich wirbelte zu ihm herum. „Bist du irre?“

Er hob die Hände. „War ja nur ne Frage.“

Ich rieb mir über die Stirn. „Ich kann die Runen nicht entziffern. Und wir haben nicht genug Zeit, um es herauszufinden. Wir brauchen jemanden, der Eldarin lesen kann.“

Cyrus lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tisch. „Dann brauchen wir nen Elfen.“

Ein Elfen. Ja. Aber nicht irgendeinen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Es gab einige Elfen, die Eldarin lesen konnten. Die meisten davon lebten in Milthrandir – und waren damit für mich keine Option. Ich würde diesen verfluchten Distrikt nie wieder betreten.

Mein Blick wanderte zurück auf den Golem. Die feinen Einkerbungen. Die Magie, die darin pulsierte. Ich wusste, dass es eine Lösung gab. Sie war in meinem Kopf, versteckt unter Schichten von alten Erinnerungen.

Cyrus’ Augen ruhten auf mir. „Du hast jemanden im Kopf.“

Ich runzelte die Stirn, versuchte, den Gedanken zu fassen. Eine Elfe, die…

„Verdammt,“ murmelte ich und rieb mir die Hände.

Cyrus musterte mich skeptisch.

„Coraline,“ sagte ich leise.

Er blinzelte. „Gesundheit?“

„Cy.. Die Elfe aus dem Job mit der Seelenwaffe.“

Die Erinnerung kam zurück. Die Nacht, in der wir mit Mogor zusammenarbeiteten. Ein Ork, der seine Seelenwaffe verloren hatte – eine Axt, so schwer und finster wie sein Blick. Es war irgendeine Art heiliger Ritus in seinem Stamm. Coraline, seine wortkarge Freundin, begleitete uns.

Ich hatte nie ganz verstanden, warum sie sich überhaupt mit ihm abgegeben hatte. Er schien eher - simpel. Vielleicht, weil sie selbst nicht wirklich irgendwohin passte.

„Und du meinst, sie kann das lesen?“

Ich zögerte. „Ich weiß es nicht.“

Cyrus warf mir einen genervten Blick zu.

„Ich meine,“ fügte ich schnell hinzu, „sie hat irgendwas an sich. Ich kann’s nicht genau sagen, aber sie wirkte damals… alt. Nicht vom Aussehen her, aber irgendwie…“ Ich suchte nach dem richtigen Wort.

„Abgeklärt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Erfahren. Wie jemand, der Dinge gesehen hat, die andere nicht mal erahnen.“

Cyrus rieb sich das Kinn. „Falls sie’s nicht kann, kennt sie vielleicht jemanden, der es kann.“

Ich nickte langsam. „Das ist meine Hoffnung.“

Das war ein absoluter Schuss ins Dunkle, aber mir fiel kein besserer Ansatz ein. Noch zweieinhalb Wochen.

Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und atmete durch. „Na großartig. Und wo genau finden wir sie? Ich nehme an, du hast ihre Adresse nicht zufällig im Notizbuch.“

Ich verzog das Gesicht. „Das ist das Problem. Sie war nie leicht aufzuspüren.“

Ich begann auf und ab zu gehen. Wie fanden wir jemanden, der nicht gefunden werden wollte? Wo hätten wir sie suchen sollen?

„Verdammt,“ murmelte ich erneut. Ich dachte an die letzte Spur, die wir von ihr hatten.

Ich hielt inne.

„Cyrus…“

Er sah mich an.

„Mogor.“

„Mogor?“ Er zog eine Augenbraue hoch.

Ich nickte langsam. „Er hat sich nach unserer Sache damals in den Distrikt der Hauslosen abgesetzt. Ich habe gehört, er hat dort eine Art Stamm von ausgestoßenen Grünhäuten aufgebaut. Andere Orks, Goblins… die sich nirgends einfügen konnten.“

„Und du meinst, er könnte wissen, wo Coraline ist?“

„Ich denke, wenn irgendjemand es weiß, dann er.“

Cyrus schnaufte. „Na großartig. Dann verbringen wir den Abend mit einem Haufen stinkender Orks und noch stinkenderem Bier.“

Ich konnte mir sein Grinsen vorstellen, ohne hinzusehen.

„Dann sollten wir wohl unseren nächsten Besuch planen.“

Wir jagen Geister, Cy. Manche aus Metall. Manche aus unserer Vergangenheit.


Kommentare

Please Login in order to comment!