Die Hexen vom Wyrmwald by Bernsteinschmiede | World Anvil Manuscripts | World Anvil

Ziegen sehen von Natur aus so aus.

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Ziegen sehen von Natur aus so aus, als hecken sie irgendwelche Gemeinheiten aus. Wenn man dann auch noch versucht, etwas heimlich zu tun und obendrein noch ein klein wenig paranoid ist, dann glitzern ihre irren Augen geradezu vor hinterlistiger Bosheit.
Ardagh steht an dem Hügel, der die Straße zum Dorf Thal säumt. Sie verläuft in der Senke, nach welcher das Dorf so einfallsreich benannt ist. Diese Biegung zwischen einem Hügel mit kahlem Haupt und dem Graben mit dem Bach ist die letzte Gelegenheit geschützt vor den Augen der Menschen noch einmal alles zu überprüfen. Danach gibt's kein zurück. Er hat es viel zu lange vor sich hergeschoben.

Es wäre falsch zu behaupten, dass er nicht gerne einkaufen geht. Er verabscheut es mit jeder Faser seiner kleinen schwarzen Seele. Aber von den Seeleuten zu Hause weiß er, dass man ab und zu ein Fass Kraut oder ein paar Äpfel besorgen muss. Es sei denn, man legt Wert darauf seinen Speiseplan völlig auf Suppe zu beschränken und seinen Fingernägeln dabei zuzusehen, wie sie von allein herunter fallen. Und, tcha, einmal abgesehen von der Nüsse und Beeren Zeit gibt es im Wald hauptsächlich Vögel. Und um die zu zerlegen braucht man außerdem ab und zu ein neues Messer.
Er wirft der Ziege, die ihm am nächsten steht einen säuerlichen Blick zu. Die eckigen Pupillen starren zurück ohne zu Blinzeln, während das Tier versuchsweise an dem Zaun knabbert, der Dorf und Hügel notdürftig umgibt. Außer den Ziegen ist niemand zu sehen. Und selbst Ardagh ist nicht misstrauisch genug die Viecher wirklich im Verdacht zu haben.
Er geht noch einmal seine mentale Liste heikler Punkte durch.
Keines der fünf Amulette ist unter der Kleidung zu sehen. Man merkt auch kaum was, wenn man darüber streift. Der Silberring steckt in einem Beutel, der kommt ebenfalls unters Hemd um den Hals. Die Rebhühner, die er auf dem Markt eintauschen will, sehen alle völlig normal aus. Keines davon ist grau oder hat Schnurrhaare. Und er hat hier um diese Jahreszeit schonmal ein Rebhuhn gesehen, also kann sich auch darüber niemand wundern. Ein paar Münzen für den Schmied sind sicher in der Manteltasche, in ein altes Mäusenest eingewickelt damit das Klimpern keine ungebetene Aufmerksamkeit auf ihn ziehen kann. Es ist erstaunlich, auf welche Entfernungen die Menschen das Geräusch von potentieller Bereicherung wahrnehmen.

Als Ardagh von seiner Manteltasche aufsehen will, trifft er den Blick zweier Augen, die keine streifenförmige Pupille vorweisen.
Sie blicken aus dem ungewaschenen Gesicht eines Jungen, das plötzlich zwischen den Ziegenbeinen aus dem Graben lugt und ihn mit unverhohlenem Interesse mustert. Er muss am Bach gehockt sein, denn ein paar plattgesessene Grashalme fallen von seiner Hose, als er den Graben erklimmt.  Ardagh schätzt ihn auf acht oder zehn oder so. Alt genug um lästig zu werden. Der Saum der Hose ist sehr großzügig bemessen und offensichtlich schon viele Male ausgelassen und wieder vernäht worden. Keine Schuhe. Ein Maul zwischen vielen, niemand, dessen Geplapper Erwachsene Aufmerksamkeit schenken. Das ist gut.

Der Rotzbengel lässt seinen kritischen Blick im Gegenzug über Ardaghs abgetragenen Mantel wandern, der von den Knöcheln bis weit über den Rücken sorgfältig mit Straßenstaub bedeckt ist. Dann zum Hut mit der breiten Krempe, dessen Spitze sich nach hinten beugt wie eine verwelkende Blume und schließlich vom wilden Mopp aus sattblonden Haaren die darunter hervorstehen wie übermütiger Löwenzahn zu den struppigen dichten Augenbrauen. Ardagh will dem Jungen gerade sagen, dass er Leine ziehen soll, da nickt der Bengel zufrieden und trabt herauf zum Zaun um direkt vor Ardagh stehen zu bleiben. Er ist nur einen knappen Kopf kürzer als Ardagh und spricht mit der Ungezwungenheit eines selbstsicheren Kindes.

"Ich heiß Lukas" und dann ohne einen Wimpernschlag vergehen zu lassen: "Hat man's gut als Herumtreiber?"
Ardagh muss beinahe lachen. Die Anspannung legt sich ein wenig.
Er lässt sich auf eine Erwiderung ein: "Kommt drauf an. Kannst du jonglieren? Singen?"
Der Junge schüttelt den Kopf.
"Dann bist du als Ziegenjunge um Einiges besser dran.", winkt Ardagh ab.
Lukas schiebt trotzig das Kinn vor. "Kannst du denn singen oder irgendwas davon?", fragt er zweifelnd.
Ardaghs Brauen ziehen sich zusammen, als kurzes Misstrauen über sein Gesicht huscht, aber die nonchalante Maske rückt sofort wieder auf ihren Platz.
"Tcha." Er zuckt mit den Achseln. "Ich glaub nicht, dass ich einen Trick auf Lager habe, der hier irgend jemanden amüsieren würde."

"Lukas!"
Beide Köpfe zucken herum.
Hinter der Biegung zum Dorf kommt ein großer Mann mit einem Gesicht voller Pockennarben hervor. Er trägt Bretter und lange Zaunpflöcke unterm Arm. Breit, aber nicht besonders kräftig. Hat seine guten Tage schon hinter sich. Schlurft träge, versucht aber Haltung anzunehmen sobald er um die Ecke kommt. Sieht nicht besonders helle aus.

"Lukas!", brüllt der Mann, den Ardagh als niederen Knecht einstuft, erneut.
Die fehlenden Zähne geben seinen Worten einen sehr feuchten Klang, den er durch Lautstärke und Langsamkeit wett zu machen versucht.

"Red nicht mit dem Fremden da!"
Nun, Ardagh wird ganz bestimmt nicht warten, bis der Fremde mit ihm redet, so schlägt er einen Bogen um den Knecht und hastet, nein, stolziert an ihm vorbei. Selbstbewusstsein und Stärke. Das ist wichtig.

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