Die Hexen vom Wyrmwald by Bernsteinschmiede | World Anvil Manuscripts | World Anvil

In der Luft

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Staubteilchen blinken vor dem Streifen Sonnenlicht der an die Deckenbalken fällt. Wenn man versucht eines davon bei seinem Tanz zu beobachten, wird einem schwindlig.
Es ist seltsam, tagsüber in der Stube zu liegen. Oder aufzuwachen und festzustellen, dass Mittag ist.
Es wäre schön, für ein paar Sekunden so zu tun, als wäre alles nur ein Traum gewesen. Aber jedes Mal, wenn Ludwin aufwacht, weiß er genau, dass die Alpträume ihn an etwas erinnern, was wirklich passiert ist.
Er versucht die Zehen zu bewegen. Es klappt nicht. Wie jeden Morgen. Oder nein, jeden Mittag, wenn er nicht mehr hoffen kann nochmal einzuschlafen.
Wenn er offiziell aufwacht, muss er sich darüber Gedanken machen, wie dringend er den Nachttopf braucht. Bestimmt kann er es sich noch ein wenig verkneifen.
Du hattest Glück!, haben sie gesagt, 'dass du deine Blase noch kontrollieren kannst.' Das stimmt. Er würde vor Scham sterben, wenn ihm Gerlinda die Windel wechseln müsste. Es ist schon schlimm genug, dass sie ihm mit dem Nachttopf helfen muss. Eine junge Bäuerin sollte nicht dem Bruder ihres Mannes mit dem Nachttopf helfen müssen. Ein junger Mann sollte nicht tagsüber vor dem Kamin seiner Schwägerin schlafen.

Er versucht wieder, den Staubteilchen zuzusehen. Wie kommt es, dass alle, die hier ein und aus gehen nicht jeden Atemzug husten müssen, wenn so viel Zeug in der Luft herum fliegt?
Ruß vom offenen Kamin, Erde vom festgetretenen Lehmboden, Staub von den geschwärzten Balken, Tierhaare, Ackerschmutz von der Kleidung, die winzigen Beine toter Insekten. Eigentlich müsste er sich schlechter fühlen. Kartoffel und Richhart sind tot. Aber in ihm drin ist alles dumpf und langsam, als ob sein Kopf innen hohl und außerdem unter Wasser wäre.
Draußen gackern und flattern die Hühner. Der Staub vor der Decke dreht sich im Luftzug vom offenen Fenster. Jemand kommt über den Hof.
Ludwin beißt die Zähne zusammen um sich für die Anstrengung und den Schmerz in der Wirbelsäule zu wappnen. Sitzen kann er noch nicht, aber sich zumindest etwas hochstemmen. Dann spricht draußen die Stimme die zu den Schritten gehört und er lässt sich wieder zurück sinken. Sein Atem stockt kurz, als der Schmerz durch den Rücken in die Hüften schießt und sich dann aprupt verliert, wo seine Beine sein sollten. Nun genaugenommen sind sie noch da. Er hat unter der Wolldecke nachgesehen.
Er schließt die Augen und versucht ruhig zu atmen, wie jemand, der schläft.
Die Tür scharrt über die Holzbretter an denen man Dreck und Dung abstreift. Jemand tritt forschen Schrittes ein, ohne sich die Füße abzustreifen.
Ludwin spürt, wie sich sein Körper anspannt, aber er hält die Augen geschlossen. Zwei weitere lange Schritte und dann steht der Pfarrer vor dem Krankenlager.
Ludwin kann ihn ziemlich deutlich vor seinem Inneren Auge sehen. Ein hagerer Mann mit missbilligenden Augen und Linien am Mund die aussehen, als währen sie hineingeschnitzt. Die Hautfalten an seinem Hals wackeln jedesmal, wenn er den Kopf schüttelt, was er sehr oft tut.
Laut und deutlich, damit man es draußen hören kann, spricht der Gottesmann einen Segen, den Ludwin nicht verstehen kann, weil er in Kirchensprache gesprochen ist. Er bildet sich ein den Luftzug zu spüren, den die kräfteigen Hände über ihm verursachen, als sie zackig über ihm ein paar Gesten des Kirchenwunders vollführen. Ein Teil von ihm möchte immer noch hastig den Blick senken, wenn der Herr Pfarrer die Hand hebt, selbst, wenn er gar keinen Riemen darin hält. Er möchte nicht mit dem Pfarrer reden. Er ertappt sich dabei, wie er denkt, dass er eigentlich auch keinen Segen von ihm haben will und fühlt die Scham in sich hochsteigen. Oder ... nicht hoch. Weil er liegt.
"Ich weiß, dass du nicht schläfst, Sohn.", tadelt die Stimme von oben.
Scharfkantige kleine Splitter von Schmerz flitzen durch Ludwins Hüften, obwohl er wirklich kaum zusammengezuckt ist. Er lässt trotzig die Augen zu. Immerhin hat Gerlinda gesagt, er soll soviel zu schlafen versuchen, wie irgend geht. Dann versucht er halt jetzt zu schlafen.
Zum Glück gibt der Pfarrer sich nicht allzu viel Mühe mit ihm zu reden. Nach ein paar Sekunden des Schweigens hört Ludwin seine Kleider rascheln, weil er das Gewicht verlagert und sich zum Gehen anschickt.
Es folgt der typische leiernde Singsang eines frommen Ratschlags:
"Danke Gott für deine Rettung und Tu Buße für deine Verfehlungen, vielleicht schenkt er dir Genesung."
Lud weiß nicht, welche seiner vielen Verfehlungen ihm eingebracht hat von einem Monster angegriffen zu werden. Wahrscheinlich diejenige, die ihn veranlasst hat in der Nacht zum Wald zu gehen, hilft ihm sein Gedächtnis auf die Sprünge. Na gut. Aber was er den Pfarrer am Liebsten gefragt hätte ist, ob seine Verfehlungen denn jetzt schwerer oder leichter waren als die der anderen beiden, die jetzt tot sind.
Die Tür klopft dumpf auf den Türstock ohne, dass er den Mut aufbringt etwas zu sagen. Gleichzeitig ist er froh, dass er nicht reden musste. Und es macht sich auch schon das Schlechte Gewissen breit, dafür, dass er sich schlafend gestellt hat und dafür, dass er so undankbare Gedanken hat.
Draußen hört er jetzt mehr Stimmen. Er hat so auf die Geräusche hier drin geachtet, dass er nicht mitbekommen hat, wie mehr Leute über den Hof gekommen sind.
Gerlindas Stimme bedankt sich übertrieben demütig. Der Pfarrer lobt ihre Frömmigkeit und Nächstenliebe. Wahrscheinlich hat sie ihm einen großzügigen Korb gefüllt für seine Mühen. Sie wird extra zur Dorfkapelle gegangen sein um den Segen zu erbitten. Ah, jetzt ist das schlechte Gewissen definitiv da. Er hätte zumindest so tun können, als sei er dankbar für den Besuch.
"Er schläft. Aber du kannst sicher sein, dass der Herr seinen Segen auch auf Kranke herab leuchten lässt, die gerade nicht selbst beten können.", tröstet der Pfarrer Gerlinda.
Lud ertappt sich, wie er ein Bisschen enttäuscht ist, dass sie jetzt denkt, er schläft. Dabei sollte er sie nicht noch mehr von der Arbeit abhalten als er es durch seine Situation eh schon tut.
"Vielen Dank, Herr Pfarrer." Oh. Wilhelms Stimme ist auch da.
Es ist ungewöhnlich, dass er tagsüber beim Haus ist statt auf dem Acker. Hoffentlich ist er nicht gekommen um nach Ludwin zu sehen. Sein Bruder versteht nicht so ganz, dass der Körper nicht schneller heilt je mehr er schwitzt vor Anstrengung. Ludwin weiß das inzwischen. Er hat versucht aufzustehen bis er sich vor Schwindel und Schmerz erbrochen hat Gerlinda ihm gedroht hat ihm den Kopf unter ein Ochsenjoch zu legen damit er am Boden bleibt. Ihrem Mann hat sie verboten noch einmal zu behaupten, Bewegung lasse die Knochen schneller wieder an die richtige Stelle springen.
"Der Pfaffe war doch vorletzte Woche schon da.", murrt Wilhelm draußen.
Sie sprechen nicht besonders laut vor der Tür, immerhin 'schläft' drinnen jemand. Aber das Fenster ist offen. Lud hat kein Gutes Gefühl dabei ihnen zuzuhören, aber wenn er jetzt ein Geräusch macht damit sie wissen, dass er wach ist, dann kommt Gerlinda bestimmt drauf, dass er vor dem Pfarrer nur so getan hat als schlafe er.
"Das war für die letzte Ölung! Aber Gott sei Dank sieht es aus, als hat er das Schlimmste hinter sich!"
Lud ist sich da nicht -
"Da bin ich mir nicht so sicher.", brummt sein Bruder draußen.
"Sag sowas nicht!", weißt seine Frau ihn zurecht, "Gott hat ihm das Leben geschenkt!"
"Und wofür? Damit seine Familie einen Krüppel durchfüttern muss?"
Bäm. Da ist es.
Komisch. Es so zu hören tut gar nicht so weh, wie er dachte. Es ist eher ein erschöpftes die-Schultern-hängen-lassen im Inneren als ein Schlag ins Gesicht.
"Denk an deine Christenpflicht!", Gerlindas Tonfall ist bemüht beschwichtigend, aber bestimmt ist sie sauer. "Du kannst ihn doch nicht auf der Straße betteln lassen - immerhin ist er dein Fleisch und Blut!"
Wenn Lud das Kissen unter seinem Kopf hervor zieht, kann er es sich vielleicht über den Kopf legen. Aber es ist ziemlich kurz und vielleicht reicht es nicht über beide Ohren.
"Die Kirche wird sich schon um ihn kümmern. Immerhin sind wir nicht die einzigen mit Christenpflicht. Außerdem zahlen wir Steuern."
Beide Arme nach oben zu heben um sich die Ohren zuzuhalten, verursacht ein ziemlich beuruhigendes Ziehen im Rücken, das wahrscheinlich nicht gut für die Heilung ist.
"Es ist doch noch nicht völlig aus der Welt, dass er vielleicht mal mit Krücken stehen kann. Wenn wir für seine Genesung beten kann er vielleicht sogar wieder arbeiten. In vielen Dörfern sollen die Schmiede lahm sein."
"Dann bete, dass das schnell passiert."
Lud legt den linken Arm über seinen Kopf, den Oberarm auf ein Ohr, die Hand aufs andere. Er versucht dem Rauschen zu lauschen, das man immer hört, wenn man sich die Ohren zuhält.
Es klingt bedrohlich. 
Und vielleicht bildet er es sich nur ein, aber irgendwo in dem Rauschen glaubt er, ein leises Knurren zu hören.

 

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