Hammer und Segen I - Die Architektin und der Priester by Racussa | World Anvil Manuscripts | World Anvil

1. August 1957

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Thomas ging nervös im grünen Schlafzimmer auf und ab. Leonid duschte jetzt seit mehr als einer halben Stunde. Im anderen Zimmer bereiteten sich Johann und Aleksandra darauf vor, das Hotel zu verlassen. Dem Direktor hatte man gesagt, dass der heutige Abend zu einem Spaziergang in der Stadt genützt würde. Deshalb würden sie auch John, den Taxifahrer, nicht benötigen. Das Abendessen hatte die Gruppe für neun Uhr bestellt im Restaurant.

Wenn alles gut ginge, würden sie um diese Zeit schon im Flugzeug sitzen, das sie mit einer Zwischenlandung in Lagos nach Bogotá bringen würde. Um ihre Spuren zu verwischen, würden sie von dort mit dem Zug bis nach Cartagena de las Indias fahren, wohin die Spur zu Aleksandras Bruder führte.

Endlich kam Leonid, das Handtuch schlampig um die Hüfte gebunden. Er wirkte erschöpft und geistesabwesend.

Thomas sprach ihn direkt an: „Es tut mir leid, dass ich in den letzten Tagen so abweisend zu dir war. Ich gebe zu, ich verstehe deinen Umgang mit Menschen nicht immer, aber deine gestrige Reaktion hat mich davon überzeugt, dass du nicht nur zu echten Gefühlen fähig bist, sondern auch unglaublich mutig. Du bist eine so seltsame Mischung aus unwiderstehlichen und abstoßenden Elementen, dass ich mir schwer tue, mir die richtige Verhaltensweise dir gegenüber zu überlegen.“

Leonid zog sich lustlos an: „Ich bin heute nicht in Stimmung für Diskussionen. Wären wir doch nur schon in Cartagena!“

Thomas versuchte zu angestrengt, Leonid nicht beim Anziehen zu beobachten: „Du hast diesen Wladimir seit über vier Monaten nicht gesehen. In dieser Zeit hätte ihm viel Schlimmes zustoßen können. In all der Zeit, die ich nun mit dir gemeinsam verbracht habe, hast du nie den Eindruck erweckt, dass du dich um ihn sorgen würdest. Was ist gestern so anders geworden?“

Leonid knöpfte das dunkle Hemd bis zum obersten Knopf zu. Er fuhr sich noch einmal mit der Hand durch die Haare und wandte sich dann zu Thomas: „Als wir uns kennenlernten, war er mein Ausbildner. Und im Nachhinein ist es erstaunlich, dass wir fünf Monate nebeneinander lebten, ohne uns die Begierde zu gestehen, die uns vom ersten Augenblick an fesselte. Erst als er zur Entwicklungsabteilung versetzt wurde, wagte ich es, ihn um ein Treffen zu bitten. Dieser erste Abend hat mein Leben völlig verändert. Wir haben fast die ganze Nacht geredet. Er hat mich über meine Ausbildung gefragt, meine Zukunftspläne, meine Kindheit. Ich habe zum ersten Mal vor einem anderen Menschen geweint. Ich habe in dieser Nacht all den Schmerz, all das Angeekelt-Sein vor meiner Rolle herausweinen können. Und dann hat er mich nachhause gebracht. Das hat mich verwirrt. Ich war so sicher gewesen, dass wir im Bett enden würden, und er und ich danach getrennte Wege gehen würden. Es hat vier Wochen gedauert, bis wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Und dieser Teil unserer Beziehung verlor bald an Reiz. Uns beide verbindet etwas anderes, möglicherweise das Schicksal, Waise zu sein; der Druck, immer Erfolg haben und gut gelaunt sein zu müssen. Jedenfalls war ich nie besorgt, wenn er auf Fahrten ging, weil er ein guter Soldat ist, und die Lage immer unter Kontrolle hat. Aber wenn ich jetzt höre, dass das Schwein von Kapitän ihn an Faschisten ausgeliefert hat, dann schießen mir tausend Bilder von Folter und Mord durch den Kopf. Ich habe diese Menschen erlebt. Ich habe gesehen, wie einer von ihnen meine Mutter, eine wehrlose Frau, erschossen hat. Das sind Wahnsinnige, die vor nichts zurückschrecken! Würde ich Wladimir verlieren, könnte ich nicht weiterleben. Wollte ich nicht weiterleben!“

Thomas ging zu Leonid und nahm ihn vorsichtig in die Arme. Leonid schwieg und legte seinen Kopf auf Thomas Schulter. „Liebst du deine Verlobte?“, fragte er unvermittelt.

Thomas dachte kurz nach: „Sie ist eine wundervolle Frau, voller Lebenskraft und von unverwüstlicher Fröhlichkeit. Ihre Seele ist völlig rein, ohne jede Sorge oder irgendeinen Hintergedanken. Wir kennen einander seit der Schulzeit. Und irgendwann kamen wir darin überein, dass wir das perfekte gemeinsame Leben haben können: Ich werde ein Haus für sie und unsere Kinder bauen. Drei wünschen wir uns, wobei mir egal ist, ob es Burschen oder Mädchen sind.“

Leonid hob den Kopf von Thomas Schulter und schaute ihm direkt in die Augen: „Das klingt wie eine Werbebroschüre für ein bourgeoises Einfamilienhaus!“

Thomas hielt kurz inne und drückte Leonid dann von sich: „Warum falle ich nur immer wieder auf dich herein? Jedes Mal, wenn ich denke, dass man mit dir auch vernünftige Gespräche führen kann, in denen es nicht um Sex oder Kommunismus geht, machst du dich wieder über mich lustig!“

Leonid zog Thomas wieder an sich heran: „Ich mache mich keineswegs über dich lustig. Ich mache mir eher Gedanken, ob du mit dieser Lebensform glücklich sein kannst. Wenn du jetzt schon weißt, wo du deine Pension verbringen wirst, mit wem und worüber ihr reden werdet, was hat dann dein Leben noch für einen Sinn? Es ist, als hättest du es schon gelebt. Du könntest dann genauso gut heute sterben als wie in fünfzig Jahren. Ich erträume mir so viel Größeres: Ich will an die Grenzen meiner Möglichkeiten gehen, ich will die Menschen retten, die in einem Strom von scheinbar unüberwindlichen Problemen ertrinken; ich will die Welt verändern, damit jeder nicht nur zufrieden, sondern glücklich ist. So wie das Strahlen von Kinderaugen, wenn sie ein Geschenk sehen; so wie der erschöpfte Atem einer Frau, die sich auf das Bett zurückfallen lässt, weil du sie perfekt befriedigt hast; so möchte ich, dass alle Menschen sich fühlen. Selbst der Tod wäre mir ein angemessener Preis, wenn ich das sehen könnte.“

Ein Klopfen an der Türe zum Badezimmergang schreckte beide hoch. Leonid löste die Umarmung und ging Richtung Tür.

Aleksandra öffnete die Tür und kam mit Johann in den Raum: „Es ist Zeit für unseren Spaziergang!“

 

Lamprin wartete zwei Straßen hinter dem Hotel mit einem abenteuerlich aussehenden Kleinauto auf die vier, die wie spazierenden Touristen aussahen. Während Alexandra wieder vorne Platz nahm, saßen Johann, Leonid und Thomas hinten. „Ich habe ihnen eine Kleinigkeit zu essen mitgenommen. In der Tasche ist außerdem noch etwas Geld, in türkischen Lira und britischen Pfund.“

Während er routiniert durch den chaotischen Stadtverkehr lenkte, überlegte Aleksandra, ob das Essen vergiftet sein konnte. Mit einem Schlafmittel vielleicht? Sie traute Lamprin immer noch nicht ganz, obwohl er alle ihre Befürchtungen durch sein Verhalten zerstreute: Während der gestrigen Sitzung hatte er jedem ihrer Vorschläge vorbehaltlos zugestimmt und seinen Einfluss auf die Revolutionäre geltend gemacht, als diese zuerst einen gewaltsamen Aufstand favorisierten. Lamprin schien Aleksandra zu perfekt: Er war pflichtbewusst und umsichtig, er konnte aber auch charmant sein; und auf jeden Fall riskierte er viel, wenn er dieser Gruppe zur Weiterflucht verhalf.

In einiger Entfernung vom Flughafeneingang hielt er den Wagen an: „Unsere Wege trennen sich hier. Ich werde Sie nicht weiter begleiten, um keinen unnötigen Verdacht zu erregen. Viel Erfolg mit Ihrem Unternehmen! Und wenn Sie wieder in die Heimat zurückkehren, vergessen Sie nicht, was Sie hier gesehen und erlebt haben. Dieses Land mit all seinen Schwierigkeiten hat Freiheit und Sozialismus verdient.“

Aleksandra gab ihm zum Abschied die Hand, hielt sie länger als nötig und versuchte, durch einen Blick in seine moosgrünen Augen zu erkennen, was er dachte. Sie sah nichts. „Ich werde nie vergessen, was ich hier erlebt habe. Und ich werde auch Sie nicht vergessen, Genosse Oberleutnant. Und sobald ich sicher in Moskau zurück bin, werde ich dafür sorgen, dass auch andere Sie nicht länger vergessen. Und auch nicht die Menschen hier, die auf unsere Unterstützung warten.“

Einen Augenblick herrschte Stille. Auch Lamprin zog seine Hand nicht zurück. Leonid, der für Johann und Thomas übersetzt hatte, machte die Autotür auf und stieg als erster aus.

 

Auf dem Weg zum Flughafen dachte Johann über Aleksandras Worte nach. Sie hatte ihm gestern noch gesagt, dass all die Treffen, die fiktiven Unterstützungspläne und die bevorstehende Revolution auf Sansibar reine Blendungsmaßnahmen seien, um den wahren Grund ihres Aufenthalts zu verschleiern. Doch die Art, in der sie Lamprin angeschaut hatte, sagte Johann etwas anderes: Sie wünschte sich diesen Umsturz, auf friedliche Weise, aber kompromisslos. Und ihr Versprechen, sich darum zu kümmern, war kein vorgeschobenes Argument, sie meinte, was sie sagte. Und hatte in ihrem Blick noch etwas gelegen, etwas, das über den Eifer für den Sozialismus hinausging? Fühlte sie sich zu dem jungen Offizier hingezogen?

Sie passierten das gläserne Portal und standen in der Halle, an deren anderem Ende ähnliche Glastüren direkt auf das Rollfeld führten. Ein Gitter trennte die Halle, das nur an den vorgesehenen Stellen zur Gepäckabgabe und zur Ausweiskontrolle unterbrochen war. Vor der Passkontrolle standen etwa dreißig Menschen. Auch Aleksandra, Johann, Leonid und Thomas stellten sich dazu. Diese Kontrolle war die letzte Hürde.

Noch während ein Beamter in seiner seltsam orientalischen Tracht Johanns Pass kontrollierte, kreisten dessen Gedanken weiter um die Verabschiedungsszene im Auto. War er eifersüchtig auf Lamprin? Wollte er im Zentrum von Aleksandras Aufmerksamkeit stehen? Nicht nur in einem beruflichen Sinn? „Haben sie kein Gepäck, Sir?“

Die Stimme des Beamten riss Johann aus seinen Gedanken. „Sir, hier ist Ihr Pass und der Ihrer Gattin. Hier sind Ihre Flugtickets, aber es gibt keine Gepäckaufgabebestätigung.“

Johann überlegte kurz: „Es ist richtig, dass wir heute ohne Gepäck fliegen. Und es ist sehr aufmerksam von Ihnen, dass Sie sich in so gastfreundlicher Weise um uns gekümmert haben.“ Mit diesen Worten legte er einen Zehn-Pfund-Schein auf den Tresen, den der Beamte unter einer Verneigung entgegennahm: „Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau eine gute Reise.“ Johann und Aleksandra nickten und gingen weiter. Johann wollte auf Thomas und Leonid warten, der etwas geistesabwesend wirkte, doch Aleksandra zog ihn weiter. Sie hatte auch Thomas instruiert, im Flugzeug nicht nebeneinander liegende Plätze zu buchen.

Johann überlegte, wie lange es dauern würde, bis ihr Verschwinden bemerkt würde. Wenn sie nicht zum Abendessen erschienen, gäbe das Anlass zu einer Suchaktion. Der Hoteldirektor könnte einen Überfall, eine Entführung oder einen Mord vermuten. Die sofort alarmierte Polizei würde nicht zuerst am Flughafen suchen, Passagierlisten überprüfen. Und selbst wenn, sie reisten unter anderen Namen. Einzig der Mann, dem Johann das Trinkgeld gegeben hatte, könnte sich möglicherweise an vier britische Passagiere ohne Gepäck erinnern.

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