Hammer und Segen I - Die Architektin und der Priester by Racussa | World Anvil Manuscripts | World Anvil

12. Juni 1957

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„Soweit wir die Lage abschätzen können, sind in die Umsturzplanungen zahlreiche hohe Vertreter der Partei und auch unseres Dienstes eingebunden.“

Aleksandra hatte Schelepins Ausführungen über einen möglichen Putsch aufmerksam gelauscht. Gerüchte dieser Art hörte man immer wieder, aber wenn der stellvertretende KGB-Chef sie äußerte, musste etwas dran sein. „Wir befinden uns an einem Wendepunkt der sowjetischen Geschichte. Einer Richtung geht der neue Kurs gegenüber dem Westen zu weit, der anderen ist er noch nicht genug vorangetrieben worden. Wenn sich diese beiden Extremgruppen nun aus verschiedenen Motiven zusammentun, ist auch unser Projekt gefährdet. Du wirst einen Plan erarbeiten, der jederzeit eine Entfernung Eraths aus Moskau ermöglicht. Er soll dabei nicht zu Schaden kommen; die Vorbereitungen müssen so unauffällig sein, dass nicht noch mehr Personen auf ihn aufmerksam werden. Wahrscheinlich wird es kein Problem geben, denn alle Analysten gehen davon aus, dass ein Putschversuch frühestens im August gestartet werden kann. Dann werden mögliche Putschisten die Urlaubsphase ausnützen wollen, um ihren Staatsstreich durchzuführen. Natürlich werden wir vorbereitet sein, aber jeder Umsturzversuch muss sehr gründlich betrachtet werden. Manchmal kann es dann auch nötig sein, bei gleichzeitiger offizieller Bekämpfung der Aufrührer ihr Anliegen indirekt zu fördern.“

Je mehr Aleksandra auf die kritischen Fragen Johanns zur inneren Organisation des Staates versuchte ehrliche Antworten zu geben, desto schwieriger wurde ihr verdecktes Agieren und ihre Zusammenarbeit mit dem so vertrauten KGB-General.

Doch noch während Schelepin weitersprach, überlegte Aleksandra schon Pläne: mit dem Schiff, mit dem Zug, mit dem Flugzeug? Wie könnte man Moskau im Fall des Falles schnell und unauffällig verlassen. Schiffe wären bei weitem das unauffälligste Verkehrsmittel, aber ihre Flexibilität war gering: Moskwa aufwärts und abwärts. Die Breitspurbahn Richtung Helsinki oder Warschau wäre das luxuriöseste Mittel, aber man konnte im spontanen Ernstfall wahrscheinlich kaum noch Tickets buchen, geschweige denn eine sichere Abfahrt finden. Nationale und regionale Eisenbahnlinien waren sogar noch unsicherer, weil da die Regierung oder eine Junta ohne internationale Verärgerung Abfahrten unterbrechen konnten. Vor allen der Faktor Geschwindigkeit ließ sie das Flugzeug als sinnvollstes Mittel wählen. Selbst bei errichteten Straßensperren müsste man über ein paar Schleichwege in dreißig Minuten vom Hotel zum Militärflughafen Alexander Newski gelangen. Von dort könnte man mit jeder beliebigen Maschinengröße starten. Wichtig wäre auch noch, eventuelle Verfolger in die Irre zu führen. Sicher könnte Oberstarzt Bogenza – ohne ihr allzu viel Information zu geben – eingebunden werden, weil sie nicht nur eine loyale Ärztin, sondern auch eine verlässliche KGB-Mitarbeiterin war.

Schelepin, der merkte, dass Aleksandra in Gedanken abschweifte, schnippte vor ihren Augen. Sofort richtete sie ihren Blick wieder auf ihn: „Wie gesagt, wenn er das Land wie geplant am 31. Juli verlässt, ist die Chance verschwindend gering, dass er in irgendetwas verwickelt wird, aber wir sollten vorsichtig sein.“

Die Worte des Generals riefen Aleksandra etwas in Erinnerung, was sie fast vergessen hätte: Die täglichen Begegnungen mit Johann und die daraus erwachsende zunehmende Vertrautheit durften nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Einsatz ein Ende haben würde, und zwar sehr bald, denn er hatte schon mehr als die Hälfte seines Aufenthalts absolviert.

Obwohl Aleksandra über ihren eigentlichen Auftrag natürlich schwieg; und Johann bewusst nicht danach fragte, waren sie längst darüber hinweg, zum Schein an Architekturgeschichte zu arbeiten. Es hatte sich ein gewisser Rhythmus herausgebildet: Montag, Mittwoch und Freitag wurden kommunistische Texte gelesen und diskutiert, Dienstag, Donnerstag und Samstag katholische. An den Sonntagen wurden Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten organisiert. Diese Form des gemeinsamen Ringens war zu einer Art Wettbewerb geworden: Wem würde es wohl am Ende gelungen sein, den anderen von der eigenen Position zu überzeugen? Mit welchem Gepäck würde Schelepin Johann zurück nach Österreich oder Rom schicken?

„Aleksandra! Wo bist du heute nur mit deinen Gedanken? Ich kann doch auf deine Konzentration zählen? Mir ist schon klar, welche Mühe es bedeutet, keinen freien Tag zu haben. Aber nach seiner Abreise wirst du dafür ausführlich Urlaub bekommen, auf der Krim oder in KlaipÄ—da.“

Aleksandra war nun wieder voll bei der Sache: „Ich möchte mich in diesem Punkt auch lobend über den zugeteilten Übersetzer äußern, Genossen Schachlikow. Er erledigt seinen Dienst mit großer Gewissenhaftigkeit. Und auch er sollte entsprechenden Urlaub bekommen, vielleicht in Sotchi oder in Sillamäe.“

Schelepin nickte: „Das wird sich einrichten lassen. Was hältst du privat von ihm?“

Aleksandra war über die Frage verwundert. Hörte sich der General nun schon an wie ihre Freundin Olga? Warum vermuteten anscheinend alle, dass sie dem unleugbaren Charme des sorglosen Übersetzers erliegen würde? „Genosse General, ich kann frei versichern, dass ich keinerlei Interesse an einer privaten Beziehung zu ihm habe. Nicht nur, weil er in diesem Fall mein Untergebener ist, sondern weil er grundsätzlich nicht die Art von Mann ist, die für mich in Frage kommen.“

Schelepin dachte über diese Antwort nach: „Liegt es daran, dass er offensichtlich zahlreiche wechselnde Partnerinnen hat?“

Aleksandra schüttelte den Kopf: „Ich habe Gerüchte dieser Art gehört, aber in Bezug auf seinen Dienst – und nur den beurteile ich – gab es nie auch nur die kleinste Nachlässigkeit. Ich sehe auch kein Problem in einer solchen Lebensführung, möglicherweise ist sie bei unserem Arbeitsprofil sogar realistischer als eine dauerhafte Beziehung zu einer Person, der man nie garantieren kann, dass man nicht morgen an das andere Ende der Welt versetzt wird. Am Beginn der Mission habe ich den Genossen klar darauf hingewiesen, dass möglicher Damenbesuch in seinem Hotelzimmer auf keinen Fall in Berührung mit unserem Gast kommen darf. Alles andere wäre seine Sache. Es ist ja wohl klar, dass man einem Mann seines Alters und Temperaments keine viermonatige Askese auferlegen kann. Das würde auch der Qualität seiner Arbeit abträglich sein.“

Schelepin lachte auf. „Aleksandra, Schachlikow ist so alt wie du! Soweit ich weiß, hast du dir selbst eine noch viel längere Askese auferlegt. Aber das tut jetzt wirklich nichts zur Sache. Wenn alles wie geplant verläuft, wird Erath als unser verdeckter Kontaktmann in den Westen zurückgeschickt. Er wird seine Weltsicht weiterpraktizieren, davon konnte ich mich bei meiner Begegnung mit ihm in der osmanischen Botschaft überzeugen, aber er wird zugleich um Verständnis für unsere Positionen werben können. Und wir werden ihm ein Geschenk mit auf den Weg, die Freilassung aller christlichen Geistlichen, die aus politischen Gründen gefangen halten werden. Dieser Akt stellt für uns keine Bedrohung dar, weil es nicht mehr so viele sein werden, für sie wird es aber ein großer Erfolg sein; und die Brücke, über die weitere Gesprächspartner aufeinander zugehen können. Für dich steht dann die Beförderung an eine Position an, von der aus du noch unabhängiger diesen Kontakt pflegen kannst. Und dann ist die Frage, ob du Genossen Schachlikow mit an deine neue Stelle nehmen möchtest.“

Aleksandra war es langsam leid, immer nur zusammenhanglose Brocken des „Großen Planes“ hingeworfen zu bekommen, zugleich wollte sie ihrem Mentor gegenüber nicht drängen. Sie konnte sich vorstellen, wie viel ihm durch den Kopf ging. Viele der möglichen Handlungen waren höchst riskant, für seine Karriere und für die gesamte Regierung. Um ihm zumindest diese Sorge zu nehmen, antwortete sie: „Genosse General, Sie wissen, dass Sie sich immer auf mich verlassen können. Ob Genosse Schachlikow mich auf einen neuen Posten begleitet, sollte in erster Linie davon abhängen, ob seine spezifischen Qualitäten dort gefordert sind. Aber so oder so, wenn Sie es wünschen, werde ich gerne weiter mit ihm zusammenarbeiten. Und das sage ich nicht aus bloßem Gehorsam, sondern weil er eifrig, linientreu und motiviert ist.“

Schelepin klappte die vor ihm liegende Mappe zu und stand auf: „Das ist gut so. Möglicherweise werdet ihr eine sehr lange Zeit miteinander zu tun haben.“ Er wandte sich zum Gehen: „Und eines noch: Nach deiner nächsten Beförderung wirst du in eine größere Wohnung umziehen, endgültig. Wenn schon nicht deinetwegen, dann meinetwegen, denn dieser Schrankeingang ist ja geradezu lächerlich!“ Nachdem er das gesagt hatte, ging er in das Schlafzimmer und verließ Aleksandras Wohnung wie immer durch den Kleiderschrank.

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