Hammer und Segen I - Die Architektin und der Priester by Racussa | World Anvil Manuscripts | World Anvil

5. Mai

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Die letzten Tage waren für Johann zugleich beeindruckend und bedrückend gewesen. Er hatte in kürzester Zeit einen gewissen Eindruck vom historischen und modernen Moskau bekommen. Und wenngleich die Plattenbauten ihm immer noch nicht besser gefielen, so verstand er doch, dass sie zu einem Symbol der staatlichen Fürsorge für jeden einzelnen geworden waren. Das stand in bewusstem Gegensatz zu den Prunkbauten der Zaren, deren Paläste neben den Hütten der einfachen Menschen gestanden und deshalb durch eine Mauer als Sichtschutz abgetrennt worden waren. Jeden Tag war Aleksandra pünktlich um acht Uhr dreißig bei ihm erschienen und hatte ihm verschiedene Dokumente gebracht, die ohne Schwierigkeit zu seinem Forschungsthema passten. Schachlikow hatte übersetzt. Die gemeinsamen Mittag- und Abendessen waren von zwanglosen Gesprächen begleitet, die fast den Eindruck vermittelten, er würde in Wien oder Rom forschen.

Und doch war die zuvorkommende Betreuung auch beklemmend. Schachlikow war entweder bei ihm, um zu übersetzen, oder nebenan, um sich auszuruhen. Ein Privatleben schien er nicht mehr zu haben. Und so sehr Johann die herzliche Art des Dolmetschers schätzte, so sehr machte er sich Vorwürfe, Anlass dieser fehlenden Privatsphäre zu sein.

Noch schwieriger war für ihn der Umgang mit Aleksandra. Er konnte nicht leugnen, dass sie eine faszinierende Frau war. Damit meinte er gar nicht ihre körperliche Schönheit, die sie durch eine kluge Auswahl unauffälliger Kleidung zugleich verbarg und damit erst recht unterstrich. Ihn faszinierte vielmehr die Schärfe ihres Geistes. Er hatte einen stumpfsinnigen Kommunisten erwartet, der einstudierte Parolen wiederholte. Er hatte erwartet, mit einer unreflektierten Feindseligkeit erwartet und behandelt zu werden; so, wie alle seine römischen Vorlesungen über die Manifestation aller Übel im Kommunismus ihn gelehrt hatten. Auch in Österreich, in dem es ja offiziell keine Parteien gab, sondern nur die gewählten Ständevertretungen, die vieler seiner Studienkollegen in Rom auffällig an das Sowjet-System erinnerten, kannte er einige, die durchaus Interesse an kommunistischen Umstürzen gehabt hätten. Ideen wie eine Abschaffung der kirchlichen Mitgliedschaft im Kulturrat, der für Schulaufsicht und Kunstförderung zuständig war und auch das staatliche Radio- und Fernsehsystem lenkte, hatte man hinter vorgehaltener Hand schon öfter angesprochen. Auch die Tradition, dass die Dekane der Theologischen Fakultäten immer automatisch die Rektoren der Universitäten waren, wurden von manchen – möglicherweise auch aufgrund personeller Fehlentscheidungen – kritisiert. Trotzdem gab es in Österreich niemanden, der einen Anschluss an die Sowjetunion befürwortet hätte. Der große Nachbar im Osten wurde respektiert und als Handelspartner akzeptiert, aber mehr auch nicht. Kaum ein österreichischer Student nützte die Chance zu den jedes Jahr ausgeschriebenen Austauschplätzen an den Universitäten in Moskau, Minsk, Kiew, Omsk oder Tiflis. Aleksandra war zugleich glühende Kommunistin und strikt denkende Wissenschaftlerin, was Johann völlig unverständlich schien. Interessanterweise hatte sie beim gestrigen Abendessen genau dieselbe Meinung ihm gegenüber geäußert: Es sei doch unverständlich, wie ein Mensch des 20. Jahrhunderts mit anderem als historischem Interesse zweitausend Jahre alte Texte lesen und sein Leben danach ausrichten könne.

Zumindest von einem war Johann inzwischen überzeugt: Aleksandra war nicht darauf angesetzt, ihn zu verführen und dadurch zu kompromittieren. Allein der Gedanke daran, den er beim ersten Treffen auf dem Moskauer Bahnhof gehabt hatte, tat ihm jetzt leid. Er hatte sich unwillkürlich all jene Vorurteile und Klischees zu eigen gemacht, deretwegen er die Romane, die sein britischer Studienkollege James so gerne las, immer lächerlich machte. Jeden Tag, den er mit Aleksandra verbrachte, meinte er besser zu verstehen, aus welchen Motiven heraus sie die Welt so wahrnahm, wie sie es schilderte: Die krasse Ausbeutung und Armut Millionen von Menschen in den europäischen Kolonien, die Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Besitz in der westlichen Welt, die Hierarchisierung der Gesellschaft durch Privateigentum. Aber all diese Dinge waren auch Johann zuwider. Er musste zugeben, dass die Kirche durch Jahrhunderte und auch in der Gegenwart nicht die Macht hatte, das zu ändern, zugleich aber manchmal aus Angst vor staatlichen Repressionen oder finanziellen Einbußen auch dort ihre Stimme nur sehr leise erhob, wo sie es unbedingt tun musste. Er hatte auf die zahlreichen Ordensschulen und –spitäler verwiesen, die in Österreich für alle unentgeltlich offen waren, zumindest für alle Katholiken, wie er auf Aleksandras Nachfrage zugegeben hatte.

Gemäß dem Zeitplan, den Aleksandra ihm vorgestellt hatte, war der Sonntag zu seiner freien Verfügung. Er hatte dennoch ihr Angebot gerne angenommen, um halb sechs bei ihm vorbeizukommen und ihn zu einer Abendführung durch die Tretjakow-Galerie abzuholen.

Um fünf Uhr kam Schachlikow in sein Arbeitszimmer. „Guten Abend, Herr Doktor.“ Johann war so in die Lektüre eines Lehrbuchs über Marxismus-Leninismus vertieft gewesen, dass er das Eintreten Schachlikows gar nicht bemerkt hatte.

„Guten Abend, Herr Schachlikow. Ist es schon Zeit für unseren Ausflug?“

Schachlikow schüttelte den Kopf: „Nein, ich wollte nur etwas früher vorbeischauen, ob sie eventuell noch etwas brauchen?“

Johann deutete auf das Buch: „Ich werde Frau Doktor Piatnizkaja heute über den tieferen Sinn einer Textpassage befragen, der mir nicht und nicht klar wird: In dem Buch ‚Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staates‘ schreibt ihr Friedrich Engels, dass durch die kommunistische Revolution die Familie ihre Bedeutung für Produktion und Reproduktion des Menschen verliere: ‚Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten Klassen; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefaßt im Staat, dessen Untereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände, sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von der Eigenthumsordnung beherrscht wird, und in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisherigen geschriebenen Geschichte besteht‘“. Johann hatte diesen Satz auf einen kleinen Zettel geschrieben, um ihn korrekt wiedergeben zu können. „Für mich ist das sehr befremdlich, weil nach unserer Auffassung gerade die Familie der Ort ist, an dem das Kind in die Ordnung des Staates und des erwachsenen Denkens hineinwächst, erzogen und gebildet wird.“

Schachlikow blickte auf den Zettel, den Johann ihm hinschob, dachte kurz nach und antwortete: „Ich finde es interessant, dass gerade sie das sagen, der aufgrund seiner Überzeugung auf eine eigene Familie und Nachkommen verzichtet, die sie ja dann in ihrem Sinn erziehen und bilden könnten. Und ist es nicht noch eigenartiger, dass Frauen in Klöstern auf ihre Mutterrolle verzichten. Ich meine, verstehen sie mich nicht falsch, aber wenn ein paar Männer sich dem Fortpflanzungswerk entziehen, ist das kein so großes Problem, denn die übrigen Männer können ja ihre ‚Arbeit‘ mitmachen, aber wenn Frauen aufhören, Kinder zu gebären, geht jede Gesellschaft zugrunde. In der Sowjetunion wird versucht, Frauen die Möglichkeit zu geben, zugleich ihrer Arbeit und ihrer Mutterschaft nachzukommen: Der Staat sorgt für die Erziehung und Bildung der Kinder, die Frau kann in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Das ist gut für sie und gut für den Staat. Und wenn man diesen Gedanken noch weiter denkt – was allerdings wahrscheinlich erst der nächsten Generation gelingt, die nicht mehr durch die jahrtausendelange Indoktrinierung behindert ist – wird sich das Institut der klassischen Familie von selbst erledigen: Wenn die lebenslängliche Gemeinschaft eines Mannes mit einer Frau zum Schutz der gemeinsamen Nachkommen nicht mehr nötig ist, weil diese Nachkommen vom Staat gemeinsam geschützt werden, dann eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten der Freiheit. Jede Frau kann mit jedem Mann zusammen sein – wenn sie die Direktheit entschuldigen – und problemlos Kinder gebären. Kein Mann müsste sich vor Klagen und Forderungen fürchten, keine Frau davor, verlassen und gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden. Vaterschaft und Mutterschaft würden zu rein biologischen Komponenten als Voraussetzung für eine staatliche Betreuung der nächsten Generationen. Die moralische und finanzielle Elternschaft übernimmt der Staat. Damit sind Männer und Frauen zugleich entlastet und befreit. Und trotzdem hat jeder als Teil des Staates Teil an der Verantwortung für die Kinder. Aber eben nicht mehr nur für die eigenen, sondern für alle Kinder. So wird der Weg zu wahrer Gleichheit geebnet. Und jeder kann in vollen Zügen seine sexuellen Möglichkeiten nützen. Und befriedigte Menschen arbeiten auch eifriger. Was wieder dem Staat zugutekommt.“

Johann versuchte bemüht, diesem Gedanken zu folgen. Schachlikows sorglose Art, solche Dinge einfach auszusprechen und sogar noch Begründungen dafür zu finden, war im ersten Augenblick absolut entwaffnend.

Schachlikow bemerkte Johanns Verstummen und setzte sofort hinzu: „Entschuldigung, ich wollte der Antwort der Genossin nicht zuvorkommen. Sie kann das sozialistische Anliegen dieses Textes sicher mit klareren Worten ausdrücken.“

Johann stand auf und ging zum Fenster. Er versuchte angestrengt, seine unzähligen Gegenargumente zu sammeln. Er wollte, noch vor Aleksandras Ankunft, Schachlikow argumentativ die Trugschlüsse dieser Ausführungen aufzeigen. Doch alles, was ihm einfiel, hörte sich nach dem moralisierendem Vorwurf an, diese Theorie nur zur Rechtfertigung der eigenen Beziehungspraxis oder besser Beziehungslosigkeit geschmiedet zu haben. Und es ging Johann ja nun wirklich nichts an, wie sein Dolmetscher seine Freizeit verbrachte. Er versuchte es deshalb mit einer humorvollen Bemerkung: „Ich bewundere ihre Aufopferung für den Staat. Mir scheint ihr Leben da dann nicht viel anders zu sein als das der Nonnen, die sich um die Pflege und Erziehung von Kindern kümmern, die nicht ihre eigenen sind. Vielleicht finden wir hier sogar eine Parallele.“

Schachlikow wirkte kurz verunsichert.

„Auf geistiger Ebene.“, setzte Johann hinzu.

Das Läuten der Türglocke unterbrach das Gespräch; und beide, Johann und Schachlikow, waren über diese Entlastung erleichtert. Um aber nicht, wie es ihm bei manchen Gesprächen mit Stabswachtmeister Winter ergangen war, als jemand da zustehen, der mit dogmatischen Äußerungen unangenehme Anfragen abbrach, setzte Johann hinzu, als Schachlikow schon an der Tür war: „Ich bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung des Gesprächs mit Ihrer Genossin.“ Schachlikow nickte, und Johann meinte, auf Schachlikows Gesicht ein verschmitztes Lächeln bemerkt zu haben.

 

Nach dem Besuch der Galerie kehrten Aleksandra, Johann und Schachlikow in das Hotelzimmer zurück. Schachlikow bestellte ein Abendessen, das kurz darauf im Speisezimmer serviert wurde.

„Ich hoffe, die Galerie hat Ihnen gefallen.“, eröffnete Aleksandra das Tischgespräch.

Johann antwortete: „Es ist faszinierend, dass Ihre Museen keinen Eintritt verlangen. Und das bei einer solchen Fülle an Kunstwerken, dass Versicherung und Pflege Unsummen kosten müssen.“

Aleksandra stimmte zu: „Früher waren diese Kunstwerke einer kleinen, privilegierten Oberschicht vorbehalten. Sie finanzierten die Künstler mit dem Geld, das sie den Armen vorenthielten. Ich muss zugeben, dass es sonst viele dieser Gemälde und Skulpturen nicht gäbe. Trotzdem sind diese Werke erst durch ihre öffentliche Betrachtbarkeit zu ihrer wahren Bestimmung gekommen.“

„Wobei diese Öffentlichkeit“, setzte Johann hinzu, „durch eine rigorose Enteignungspolitik zustande kam, wie die Schilder neben vielen Bildern ausdrücken, die auf die früheren Besitzerfamilien verweisen. Aber über die Legitimität des Privateigentums werden wir uns wohl nicht einigen. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich das Anliegen nun besser verstehe.“

Schachlikow räusperte sich und begann nach einem fragenden Blick zu Aleksandra, der Übersetzung von Johanns Worten noch etwas Eigenes hinzuzufügen.

Aleksandras Reaktion auf diese Bemerkung ließ Johann stutzen: Sie lachte kurz auf, nicht, ohne sich sofort wieder zu kontrollieren. „Was haben sie ihr gesagt? Ich habe doch nicht schon wieder etwas getan oder gesagt, was die Vorurteile von Genossin Piatnizkaja gegenüber den archaischen Römlingen bestärkt hat?“

Schachlikow versicherte sich mit einem weiteren Blick zu Aleksandra, dass er das Gesagte auch auf Deutsch wiederholen dürfte: „Ich habe mir erlaubt, der Übersetzung noch meine Beobachtung anzufügen, dass Sie möglicherweise nach Ihrer Rückkehr Schwierigkeiten bekommen könnten, weil Sie mehr und mehr unsere Sicht der Dinge zu teilen beginnen; und unsere Sprache: Sie haben heute von Frau Doktor Piatnizkaja zum ersten Mal als ‚Genossin‘ gesprochen. Und das nach nur zwei Wochen Aufenthalt.“

Johann dachte angestrengt nach. Hatte er wirklich den Ausdruck ‚Genossin’ gebraucht? War er durch das Gespräch über die alternative, familienlose Gesellschaft so durcheinander gewesen, dass ihm dieser Ausdruck über die Lippen gekommen war? „Kein Sorge, sie können Frau Doktor Piatnizkaja ausrichten, dass ich bei allem Bemühen um Verständnis der kommunistischen Denk- und Lebensweise gefestigt genug in meiner eigenen Tradition bin. Und gemäß dieser sind wir aufgrund unserer gemeinsamen Abstammung Schwestern und Brüder. Das kann man sicher auch mit Genosse wiedergeben.“

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