Jareds Geschichte by wintergoettin | World Anvil Manuscripts | World Anvil
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Erzählung von Jared

Craydon
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Erzählung von Jared

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Ich wusste nicht, wann mein Leben begann. Die meisten würden wohl sagen mit meiner Geburt, aber da bin ich anderer Meinung. Meine ersten bewussten Erinnerungen reichen in meine frühe Kindheit zurück. Meine Mutter war eine zierliche Frau und ich fasste ihr gern in ihre langen schwarzen Haare. An viel mehr erinnere ich mich nicht, denn sie starb, als ich etwa sechs Jahre alt war.

Ab dieser Zeit musste ich mich selbst durchschlagen. Doch wer will schon mit einem Sechsjährigen zu tun haben, der recht schwächlich war und zudem unheimlich brombeerfarbene Augen hatte? Teilweise sahen sie sogar violett aus, wurde mir immer wieder gesagt. Hinzu kam eine Eigenart, die ich anfangs nicht einordnen konnte. Meine Mutter freute sich immer, wenn ich sie berührte und von den Bildern erzählte, die ich sah. Ich lernte zum Beispiel meinen Vater nie kennen, wusste aber genau, wie er aussah. Ich sah es in ihren Erinnerungen.

Sobald ich diese Gabe jedoch bei anderen anwandte, wurde ich angesehen, als sei ich Methikles persönlich. Lange Zeit dachte ich mir nichts dabei, so machen das Kinder eben. Je älter ich wurde, desto mehr wurde mir bewusst, dass diese Gabe eher ein Fluch war. Ein Fluch der mich ausgrenzte und durch den ich verfolgt wurde. So kam es, dass meine einst schwarzen Haare schlohweiß wurden und es auch immer blieben. Das ist aber eine andere Geschichte und die will ich hier nicht erzählen. Viel interessanter ist es, wie ich den König kennenlernte. Zu dem Zeitpunkt war er es zwar noch nicht und war auch weit davon entfernt, aber er würde es eines Tages mal werden.

Ich war vielleicht 14 Jahre alt. Zu der Zeit schlug ich mich als Dieb durch und konnte einigermaßen davon leben. Um meine Gabe nicht immer unbewusst zu nutzen, hatte ich schon seit einiger Zeit Handschuhe an und es half. Auf einem Raubzug nach ein paar Lebensmitteln wurde ich jedoch erwischt. Der Händler hatte kein Mitleid mit mir und rief die Wache. Die Soldaten schafften mich in einem Käfig zum Schloss. In Llewellyn war ich noch nie und sah staunend umher, während wir über den verlassenen Markt zum Schloss hinauf fuhren. Einerseits war ich voller Neugier auf das Gebäude, andererseits graute mir davor, was mich erwartete. Einem Dieb wurde normalerweise die Hand abgeschlagen, mit der er gestohlen hatte, oder aber der Kopf. Ich versuchte, mir nicht gleich das Schlimmste auszumalen, die anderen Gefangenen jedoch erzählten und ich hörte zwangsläufig zu.

Als wir auf dem Innenhof ankamen, wurden wir unsanft heraus gezerrt und aneinander gekettet. Die Angst kroch mir langsam den Rücken hinauf und der Kerkermeister, der auf uns zutrat, förderte meine Zuversicht nicht im Mindesten. Er war ein grobschlächtiger Mann mit einem fiesen Grinsen. Seine Zähne waren faulige Stummel und als er bei uns war, löste er eine Peitsche von seinem Gürtel. »Los ihr Pack. Ab in die Kerker mit euch ihr Diebe und Mörder«, hörte ich seine raue, höhnische Stimme. Langsam setzte sich der erste in Bewegung und der Rest folgte ihm. Mich hatte man als Letzten angekettet. Wissbegierig sah ich mich ein wenig um, da dies das Letzte mal war, dass ich das Tageslicht sehen würde. Ich machte mir keine Illusionen, dass ich den Kerker überleben würde. Oft genug hatte ich Geschichten gehört, auch über den Kerkermeister von Llewellyn und der war von der ganz fiesen Sorte. Er war dafür bekannt, dass er die Gefangenen gern quälte, und schon spürte ich die Peitsche auf meinem Rücken. Der Streich ließ mich zucken und erst allmählich breitete sich ein Brennen auf meiner Haut aus.

»Schneller Gesindel«, schrie er uns an. Der Hieb auf meinen Rücken schmerzte und hatte mein fadenscheiniges Hemd zerfetzt. Wir liefen etwas schneller, da er nicht nur mir einen Vorgeschmack seines Folterwerkzeugs gab. Es war irrsinnig. Alle eilten schneller auf ihr Verderben zu. War das die sogenannte Ironie des Schicksals? Ich glaube schon. Trotz des schnelleren Ganges sah ich nach oben. Mein Nacken prickelte und ich hatte das Gefühl beobachtet zu werden und ich sollte Recht behalten. Auf einem Balkon sah ein Junge auf uns alle herab. Er hatte schwarze Haare und blaue Augen. 

Ich starrte ihn an und blieb unbewusst stehen. Erst ein neuerlicher Peitschenhieb ließ mich weiter stolpern, weiterhin zu ihm aufsehend. Der Bursche dort hatte nicht meine Sorgen. Sein Hemd war sauber und sein Gesicht gewaschen. Ein neuerlicher Knall war zu hören und ich zuckte wieder zusammen, als der Schmerz in meinem Rücken zunahm. Er war vermutlich älter als ich. Gern hätte ich mit ihm getauscht, da mir bang wurde vor dem Kerker, auf den ich unaufhaltsam zustrebte. Schließlich waren wir an dem Balkon vorüber und der Junge hatte sich schnell abgewandt. Vermutlich konnte er den Anblick oder aber den penetranten Geruch von uns nicht länger ertragen. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und unser Kerkermeister kam mit schnellen Schritten auf mich zu.

»Grins nicht so blöd. Das werde ich dir noch austreiben Bursche.« Hieb er mit dem Griff zwischen meine Schulterblätter. Es tat bei weitem nicht so weh wie das andere Ende seines Folterinstruments, aber der Schlag machte mich benommen und ich stolperte einige Schritte, bevor ich wieder normal laufen konnte. Wir erreichten den Eingang in die Kerker. Der Bogengang verschwand in einem tiefen schwarzen Loch. Nur spärlich war die gewundene Treppe nach unten mit Fackeln beleuchtet und ich musste auf jeden Schritt achten, um meine Mitgefangenen nicht die Treppe nach unten zu reißen.

Im Verlies angekommen, verschlug es mir den Atem. Schon von Weitem roch man die körperlichen Ausdünstungen und Exkremente, die von den Insassen hinterlassen wurden. Würde ich hier enden oder doch auf dem Richtblock? Einerseits wollte ich hier wieder raus, sodass es dann Richtblock hieß, andererseits wollte ich mein Leben gern noch eine Weile behalten. In Gedanken versunken, strauchelte ich und bemerkte erst, als ich erneut angerempelt wurde, dass meine Fesseln abgenommen waren. Diese Freiheit währte nur kurz, denn unmittelbar nach dem Stoß wurde ich in eine große Zelle gedrückt.

Es waren größtenteils meine Mitgefangenen, die mit mir zusammen auf das Schloss transportiert wurden. Voller Angst sah ich mich um und verkrümelte mich unauffällig in eine der Ecken. Unauffällig war ich allerdings weniger. Hier im Halbdunkel leuchteten meine Haare besonders hell und sämtliche Augen folgten meinen Bewegungen. Ich war der Aussätzige. Mit knurrendem Magen rollte ich mich zusammen und beobachtete das Treiben um mich herum. Der ein oder andere Gefangene wurde aus der Zelle geholt und ein anderer wieder hinein gebracht. Meist jedoch in einem wesentlich schlechteren Zustand als zuvor. Peitschenstriemen zierten häufig den Rücken der Personen. Mit wurde beklommen, als ich daran dachte, dass mich der Folterknecht womöglich als Nächstes aus der Zelle holte. Meine Bedenken waren begründet. In dem Moment, in dem ich wegdämmerte, wurde die Zellentür aufgesperrt und unser Peiniger strebte in meine Richtung. Wurstige Finger schlossen sich schmerzhaft um meinen Oberarm und ich wimmerte auf.

»Na komm schon Bürschchen. Du bist an der Reihe.« Ich taumelte hinter ihm her, da ich hungrig und müde war und mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Weit musste ich nicht laufen, oder vielmehr stolpern. Im Mittelgang wurde ich förmlich hingehängt. Meine Arme wurden nach oben gestreckt, als sie mir die Fesseln um die Handgelenke legten und meine Füße hatten kaum mehr Bodenkontakt. Den Kopf ließ ich nach vorn hängen und verkrampfte mich, als die Peitsche auf meinen Rücken knallte. Ein ums andere Mal hörte ich das Zischen der Peitsche, bevor sie meine Haut traf. Die Genugtuung, dass ich einen Laut von mir gab, wollte ich diesem Fettwanst nicht geben.

Kurzzeitig hatte ich vermutlich die Besinnung verloren und einen kleinen Moment lang spürte ich nur den gleichmäßig brennenden Schmerz auf meinem Rücken. Stimmen wurden laut und ich hob mühsam meinen Kopf, doch mehr als ein Paar saubere Stiefel erkannte ich nicht. Diese Person sprach, und seine Intonation ließ keinen Zweifel, dass er hier etwas zu sagen hatte. Gebieterisch schritt er zu mir und umfasste mit kühlen Fingern meinen Unterarm, um mich von den Ketten zu befreien.

»Den hier nehme ich mit.« Hörte ich seine tiefe Stimme. Kaum berührte er meine Fesseln, streifte er meine Handfläche und ich empfing Bilder. Grauenhafte Bilder, aber auch einige schöne Momente. Und dieser Kerl wollte mich mitnehmen? Ich schrie gepeinigt und bäumte mich auf. Der Schmerz in meinem Rücken und dem einen, noch befestigten Arm durchfuhren mich. Kurz darauf hieß mich eine allumfassende Dunkelheit willkommen. Was dann geschah, kann ich nur erahnen.

 

Ich erwachte und das Gesicht eines dunkelhaarigen Engels schwebte über mir. Er lächelte mich an, griff vorsichtig in meinen Nacken und flößte mir etwas Kaltes ein. Es schmeckte himmlisch und erfrischte mich. Insgeheim musste ich jedoch in der Hölle der Nexa gelandet sein. Ich hatte das Gefühl zu verglühen. Meine Lippen fühlten sich rissig an und mein Rücken erst. Noch ein paar weitere Schlucke und ich versank wieder in meiner Ohnmacht. Alles war besser, als diesen peinigenden Schmerz zu fühlen.

Auch wenn ich gern leben wollte, so war ich mir sicher, dass diese Schmerzen dem Tod vorzuziehen waren. Eine gefühlte Ewigkeit später erwachte ich wieder. Die Schmerzen waren zu einem dumpfen Pochen auf meinem Rücken verklungen, doch mir war immer noch so entsetzlich heiß. Wieder sah ich dieses Gesicht, doch jetzt klarer.

Die Prozedur wiederholte sich und der Junge flößte mir erneut etwas Kaltes ein. Er ging äußerst behutsam vor und lächelte mich unverbindlich an. Dann wechselte er einen Lappen, der auf meiner heißen Stirn lag. »Ich bin froh, dass es dir wieder etwas besser geht«, hörte ich seine klare und beruhigende Stimme. Sofort fühlte ich mich geborgen und war mir sicher, dass ich nicht mehr lebte. Ich war mir nicht sicher, ob er weiter redete, denn ich dämmerte in den Schlaf hinüber und dieses Mal träumte ich.

 

Ich stand in einem lichtdurchfluteten Raum. In der Ferne hörte ich Wasser plätschern, wie in einem träge dahinfließenden Bächlein und ich sah mich um. Die Möbel um mich herum strahlten von sich aus ein überirdisches, angenehmes warmes Licht ab. Langsam ging ich auf das plätschernde Geräusch zu und betrat einen schlichten Garten. Auch hier war alles hell und warm. Das Gemurmel von Wasser stammte aus einem kleinen Brunnen. Es war ebenfalls pures Licht und vorsichtig streckte ich die Hand danach aus. Bevor ich die Oberfläche berührte, hörte ich eine weiche Stimme.

»Oh, du bist hier. Ich dachte mir schon, dass ich dich bald hier antreffen würde.« Ein junger Mann mit hellen leuchtenden Augen trat auf mich zu, als ich mich zu ihm umwandte. Er hatte weiße fließende Gewänder an und seine Haare waren schneeweiß, so wie alles hier. Trotz des Farbmangels schien er nicht älter als Mitte 20 zu sein. »Lass dich anschauen Junge.« Musterte er mich von oben bis unten und streckte seine Hand nach mir aus. Plötzlich hielt er inne.

»Die Augen deiner Mutter. Ich vermisse sie. Vermutlich ebenso, wie du.« Mit langsamen Schritten ging er zu einer Bank und setzte sich. Dann deutete er neben sich. »Komm, setz dich. Du hast sicher ein paar Fragen an mich.« Scheu trat ich zu ihm und setzte mich auf die steinerne Bank. Unsicher sah ich ihn an und musterte seine Züge. Er kam mir merkwürdig vertraut vor.
»Woher kennst du meine Mutter?« War die erste Frage, die mir in den Sinn kam. Leise lachte er und wurde wieder ernst, fast etwas wehmütig. »Ich lernte sie vor vielen Jahren kennen und verliebte mich in sie. Leider ist mir ein Leben, dort wo du her kommst, nicht vergönnt. Und du bist eigentlich auch nicht wirklich hier.« Lächelte er mich geheimnisvoll an.

»Ich nehme mir die Freiheit heraus, dich kennenzulernen. Normalerweise ist mir auch das untersagt und ich habe nicht mehr viel Zeit, Jared.« Ich zog eine Augenbraue nach oben, schließlich hatte ich ihm meinen Namen nicht genannt. »Da du so schwach bist, war es mir ein Leichtes, deinen Geist zu mir zu holen. Ich bitte dich nicht um Vergebung, dass du mein Sohn bist, denn du bist ein Geschenk für mich, auch wenn ich dadurch unbeabsichtigt viel Leid über dich gebracht habe und vermutlich noch bringen werde.« Sein Mundwinkel zuckte freudlos und mein Unterkiefer klappte nach unten. Mein Vater, nach dem ich all die Zeit gesucht hatte?

»Ich muss dich gleich wieder gehen lassen, doch eines möchte ich dir noch sagen. Vertraue auf die Macht in dir, denn es ist meine Macht und nutze diese Macht für das Gute und hilf den Menschen, auch wenn sie dir deine Hilfe nicht immer vergelten werden. Dies ist das einzige Geschenk, das ich dir mitgeben kann.« Lächelte er mich jetzt an. »Ich liebe dich, mein Sohn.« Waren die letzten Worte, die ich von ihm vernahm, bevor diese weiße Welt vor meinen Augen verschwand und ich in einem weichen Bett erwachte.

 

Der schwarzhaarige Junge saß schlafend in einem Sessel neben meinem Bett und ich sah mich das erste Mal bei vollem Bewusstsein um. Vorher hatte ich meine Umgebung nur verschwommen wahrgenommen und ich kam mir reichlich fehl am Platze vor. Ich lag in einem monströsen und überaus weichen Bett. Meine Arme steckten in einem weichen, viel zu großen Hemd und als ich an meinem Oberkörper nach unten sah, entdeckte ich einen Verband auf meiner Brust. Er wickelte sich um meinen kompletten Rumpf und als ich mich leicht bewegte, fuhr ein stechender Schmerz in meinen Rücken.

Ja, der Kerker und die Peitsche. Daran konnte ich mich wieder erinnern, aber wie ich in diesen pompösen Raum kam, entzog sich meiner Kenntnis. Stöhnend versuchte ich mich aufzurichten und weckte damit meinen dunkelhaarigen Wächter. »Nicht, dein Rücken ist immer noch verletzt.« Versuchte er mich jetzt zurück zuhalten und war sofort an meiner Seite. Doch ich wollte nicht länger liegen, und wehrte seine helfende Hand ab.

»Wo bin ich hier?« Wuchtete ich mich ächzend und unter Schmerzen in eine halbwegs sitzende Position. Der Junge lächelte und setzte sich in seinem Sessel zurück. »Du bist immer noch auf Llewellyn, nur eben nicht mehr im Kerker.« Ich versuchte, diese Aussage zu verdauen, und wollte am Liebsten das Lächeln aus dem Gesicht dieses feinen Pinkels wischen. Er war definitiv einer, denn seine Kleidung war sauber, ordentlich und offensichtlich maßgeschneidert. Stellte sich mir jetzt die Frage, warum ich hier war. Und ich hatte ihn schon gesehen.

»Und warum bin ich noch hier?« Krächzte ich etwas und er reichte mir einen Becher. Kritisch beäugte ich das Gefäß, als ich es in Händen hielt und schnupperte vorsichtig daran. »Das ist Wasser. Wenn ich dich hätte vergiften wollen, wärst du längst tot und ich hätte mir über eine Woche Arbeit mit dir sparen können.« Zog sich seine linke Augenbraue abschätzig nach oben. »Und du bist noch hier, weil ich dir einen Vorschlag unterbreiten möchte.« Beugte er sich jetzt nach vorn und ich wurde hellhörig. Was wollte so ein Typ von einem kleinen abgerissenen, vierzehnjährigen Dieb, dass ihm nicht einer seiner Dienstboten bieten könnte?

Ich stürzte den Becher kalten Wassers meine Kehle hinab und bemerkte, dass es nicht ausreichend sein würde. Mein Magen fühlte sich wie ein riesiges Loch an, das unbedingt gefüllt werden wollte. Er musste das Knurren gehört haben, denn er stand auf und zog an einer Schnur neben meinem Bett. Kurz darauf stand ein Diener im Zimmer und verbeugte sich leicht.

»Bring unserem Gast eine kräftige Brühe. Er sollte etwas anderes als Wasser zu sich nehmen.« »Jawohl, Mylord.« Verneigte sich der Bedienstete und verschwand so unheimlich leise, wie er gekommen war. Ich starrte immer noch auf die Stelle, an der er in der Wand verschwand. »Willst du erst etwas essen und ich erzähle dir dann von meinem Vorschlag?« »Sofort reden.« Drehte ich meinen Kopf wieder zu ihm hin und sah sein leichtes Lächeln. Entspannt lehnte er sich zurück und faltete die Finger über seinem Bauch.

»Du wurdest des Diebstahls überführt und in meinen Kerker gebracht. Ich sah dich auf dem Hof und hatte so ein unbestimmtes Gefühl, dass du mir von Nutzen sein könntest. Kennst du das nicht auch?« Na klar, eigennützig. Dieses Attribut hatte ich vollkommen vergessen und reichte ihm meinen leeren Becher hin. Er schenkte umgehend nach und diesmal trank ich etwas langsamer. »Dieser Nutzen besteht darin, dass du Lesen, Schreiben und Rechnen lernst und mir bei meinen Aufgaben hier im Schloss hilfst. Ich habe den Eindruck, dass du mehr möchtest, als ein einfacher Dieb sein. Es nützt also nicht nur mir. Und ein weiterer Vorteil ist, dass du am Leben bleibst.«
Er schwieg und sah mich offen an. Es war ein verlockendes Angebot, doch es musste einen Pferdefuß bei der Sache geben. »Wo ist der Haken?« Er zuckte die Schultern.

»Weiß ich noch nicht. Du müsstest dein Leben hier bei mir im Schloss verbringen und für mich arbeiten. Ist das so ein großer Haken? Gut, die ganzen Bediensteten, die dir deine einfachen Wünsche erfüllen, oder aber das leckere Essen sind natürlich ein Grund sofort das Weite zu suchen.« Ich schüttelte den Kopf. Ein Leben hier war sicher allemal besser als draußen auf den Straßen, selbst wenn ich für ihn arbeiten musste. Er grinste nach seinen Ausführungen und ich hörte seinen Humor aus den Worten.
»Also willst du auf mein Angebot eingehen?« Ich überlegte nicht lange und nickte nur. Nachdem ich meinen Becher leerte, schenkte er sogleich nach und schien sich wie ein Honigkuchenpferd zu freuen. In diesem Moment betrat der Diener mit einem Tablett und einer abgedeckten Schüssel den Raum. Vor mir wurde ein kleines Gestell aufgebaut und das Tablett darauf gestellt. Die Suppe dampfte und roch unvergleichlich köstlich. Diener und Herr musterten mich aufmerksam, als ich den Löffel in die Suppe tauchte und vorsichtig den ersten Schluck vom Löffel nahm. 

Etwas Besseres hatte ich noch nie gegessen und ich stöhnte wohlig auf. Die Beiden sahen sich an und nickten, dann war ich mit dem schwarzhaarigen Jungen wieder allein und er sah mir beim Essen zu. »Ich sag ja, das Essen ist einfach nicht zu überbieten. Meine Köchin ist einfach die Beste.« Grinste er wieder und beobachtete mich weiter. Mit vollem Magen legte ich mich vorsichtig zurück und schlief fast unmittelbar ein. Dieser Tag ist unbestritten der Tag, an dem mein Leben tatsächlich begann.

 

Das alles ist jetzt fast 10 Jahre her. Heute stehe ich mit meinem besten Freund am Altar und wir warten auf seine Braut. Voller Ungeduld tritt er von einem Bein aufs Andere und nimmt mir damit die Ruhe. Gut, seine Braut ist durchaus wild und unberechenbar, doch sie würde wohl schwerlich ihren eigenen Hochzeitstag verpassen.
Die Entscheidung, damals bei ihm geblieben zu sein, habe ich durchaus das ein oder andere Mal bereut, aber niemals die Freundschaft, die mich inzwischen mit ihm verbindet. »Alexius, steh bitte still. Sie kommt jeden Augenblick und wird sicher umwerfend aussehen.« Angesprochener grinst mich an und in dem Moment erscheint seine große Liebe im lichtdurchfluteten Torbogen des Tempels. Sie ist wie eine Erscheinung.

 

© wintergoettin/snow


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