Die Nacht des Erwachens

 
Wolken verdunkelten den Mond über Havena, und nur flackernder Kerzenschein hinter dem Butzenfenstern einer Schenke bewahrte die Gasse davor, in völliger Finsternis zu versinken.
Wie zum Trotz lief sie die Gasse entlang, als wäre sie die Herrin all dieser Häuser, Buden und Winkel der Stadt. Die Nacht war bisher wenig erfolgreich gewesen. Ein Fischkopf am Hafen, zu wenig, um sich damit zufrieden zu geben. Aber zur Not blieb der Fleischhauer.
Sie sprang auf ein Fass und zog sich ohne Mühe den Bretterzaun hoch. Der Müllhaufen des Fleischhauers war vielversprechend. Man musste nur wissen, welcher Teil des Innenhofes sicher war.
Flink balancierte sie den Zaun entlang und sprang in aller Stille neben der alten Eiche hinab. Sie schaute zufrieden zur großen Kiste auf der anderen Seite des Hofes. Es wurde wohl langsam schwerhörig. Mit stolz empor gerecktem Schwanz näherte sie sich dem herrlich duftenden Müllhaufen. Er versprach Fleisch, Knochen und Gedärm für jeden, der nur mutig oder dumm genug war zuzugreifen.
  Sie zögerte. Dämmerlicht erfüllte den Hof, doch es war nicht die Morgenröte. Geisterhaftes, blaues Licht schien den Himmel entlagzuwandern, als würde ein brennender Wagen jenseits der Wolken über das Firmament rasen. Für einen Moment wurde der Hof fast taghell erleuchtet, nur um dann wieder in Dunkelheit zu versinken.
Verwirrt schaute sie zum Himmel, zögerte, doch der Duft des Haufens lockte.
  Dumpfes Grollen erklang aus der alten Kiste und ein rötlich schimmerndes Augenpaar starrte sie zornig an. Es war erwacht.
Knurrend und kläffend schoss es aus seinem Unterschlupf, ein Monstrum mit massigem Schädel, sicher zehn Mal so schwer wie sie. Es raste heran, Geifer spritzte, und dann, ein Ruck, und es schien in der Luft zu hängen. Eine Kette spannte sich klirrend und hielt es an seinem Halsband zurück. Es röchelte, stellte sich auf die Hinterbeine, doch alles Zerren und Ziehen half nichts. Sie war keine zwei Schritt von ihm entfernt, und doch unerreichbar.
Ihr Schwanz peitschte aufgeregt hin und her. Das Monstrum war direkt vor ihr, voller Hass auf sie, auf die Kette, auf alles. Und doch war es hilflos. Sie betrachtete es, seine langen Zähne, seinen muskulösen Leib. Dann setzte sie sich hin, direkt vor es, und verrichtete ihre Notdurft. Kaum etwas machte deutlicher, wessen Hof dies war.
  Ein fernes Donnern rollte über die Dächer. Hoch erhobenen Hauptes schlenderte sie weiter zum Haufen, langsam und ganz ohne Eile, das zornige Monstrum hinter sich lassend. Ein Knacken, dann ein Knall, Klauen, die über das Pflaster des Hofes kratzten. Sie musste sich nicht umsehen, um zu wissen, was das bedeutete. Sie machte einen Satz zur Seite, doch die Spitze ihres Schwanzes blieb zwischen den zuschnappenden Kiefern hängen. Es hatte sich losgerissen. Es war nicht mehr hilflos. Es war ein zorniger Koloss, darauf aus, sie in Stücke zu reißen. Kreischend riss sie sich los, obwohl es sie ihre Schwanzspitze kostete. Drei, vier schnelle Sprünge, während das Monstrum sich umdrehte, um ihr nachzusetzen. Ihr Herz pochte, als sich ihre Krallen tief in die rettende Rinde der Eiche bohrten. Mit wenigen Zügen hatte sie es auf einen Ast geschafft, als das Monstrum schon den Stamm hochsprang. Es konnte nicht klettern, das wusste sie. Es sprang, wieder und wieder, knurrte und bleckte die Zähne.
Es dauerte eine Weile, bis das Ungetüm die Sinnlosigkeit seines Treibens einsah. Es schnaufte, setzte sich vor den Baum und schaute hinauf. Ihre Blicke trafen sich, während sie die blutende Schwanzspitze leckte.
  Was dann geschah, könnte kein Gelehrter der Stadt erklären, selbst wenn er darüber Kenntnis hätte. Stammte der feine Staub, der in dieser Nacht wie glitzernder Schnee vom Himmel rieselte, von Rondras Streitwagen, der des Nächtens über das Firmament gerast war? War es Asche eines missglückten alchemistischen Gebräus? Oder war es schlichtweg eine Laune der Natur? Niemand stellte diese Fragen, denn noch bevor der Morgen graute, war der Staub wieder verschwunden, als sei nichts geschehen.
Sie blickte auf das Monstrum herab, doch etwas war anders. Sie war anders. Wissen erfüllte sie, nie erlebte Erinnerungen, Erkenntnis. Sie war sie. Sie war hier. Und sie wusste.
  Unsicher holte sie Luft, ohne zu wissen warum. "Was willst du?", zischte sie, überrascht von ihrer eigenen Stimme. Das Monstrum legte den Kopf schief, sein Blick sprach von der gleichen Überraschung, die auch sie erfüllte.
"Das ist mein Hof", knurrte es. Seine Worte waren ungelenk wie die Pfoten eines Welpen.
"Du ... du kannst sprechen. Ich kann sprechen." Sie ärgerte sich über sich selbst, noch bevor das letzte Wort gesprochen war. Die Offensichtlichkeit des Gesagten schon ihm aber nicht aufzufallen. Einzig ein "Ja" bekam es heraus.
"Du bist ein Hund. Dummer Hund. Geh weg!"
"Das ist mein Hof. Du hast hier nichts verloren", knurrte der Hund nun sicherer und zeigte seine Eckzähne.
"Du hast mir nichts zu befehlen. Ich kann gehen, wohin ich will." Sie stand auf, streckte sich theatralisch und sah sich um. Der Ast. Er war ihr nie zuvor aufgefallen. Er reichte über den Zaun hinweg.
"Wenn du noch einmal hierher kommst, bleibt nicht nur deine Schwanzspitze hier", knurrte er drohend. Sie wusste, dass er es ernst meinte. Er konnte sie mit Leichtigkeit in Stücke reißen, wenn er sie erwischte.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und antwortete fast schon trotzig: "Von mir kriegst du gar nichts. Du bist zu dumm und zu langsam."
Mit erhobenem Haupt und ramponiertem Schwanz tänzelte sie über den Ast und landete mit einem Satz auf der anderen Seite des Zaunes. Es gab so viel zu tun, so viel zu verstehen. Der Müllhaufen konnte warten.    

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