Vom blutigen Neumond Prose in Das Koenigreich Stauchen | World Anvil

Vom blutigen Neumond

Der Himmel leuchtet heute Nacht in einem schimmernden Rot, das dir das Atmen schwer macht. Du weißt, wovon seine Farbe erzählt, und ich weiß, dass du die Geschichte nicht hören willst, aber sie will erzählt werden in solchen Nächten wie dieser. Lass sie dir Mahnung sein oder erschrecke, wenn du die Wahrheit in ihr entdeckst - oder dich selbst.   Hätte Sinam die Geschichte gehört, vielleicht hätte sie niemals erzählt werden müssen.   Sinam, Sohn des Hatūn, nämlich war ein Hirte, der auf dem Kamm des Drachenrückens, dort wo die Ebenen des Mitleids im Süden an die Hügelketten von Jun'Johari und Manu'Azra grenzen, seine Ziegen über die karg bewachsenen Felsrippen trieb. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang führte er sie in die Grassteppen von Duygon und am Abend folgte er ihnen wieder hinab in sein Dorf, Faz'Fazar - und ja, du tust gut daran, dass dein Atem stockt und deine Augen sich weiten, denn ich werde dir erzählen, wie jene Stadt blutete und starb und bis heute das Heulen und Jammern der Toten jeden Reisenden den Berg jener Felsenstadt und die Grassteppen meiden lässt.   Der Hirte Sinam lebte ein einfaches Leben, bescheiden, rechtmäßig und bedacht. Sein Qismat hatte ihn - früh auf sich gestellt - erwachsen werden lassen. Er besaß einen Mūl und eine der Felsenhöhlen am Rande der Stadt und eben jene Ziegen. In Faz'Fazar lobte man seine Geduld und jeder, der selbst nicht die Ziegen führen konnte, gab sie Sinam in seine Herde, denn er kannte die Stellen mit den besten Gräsern und nahrhaftesten Wurzeln, die die Tiere ansehnlich wachsen ließen. Die jungen Männer holten sich Rat bei ihm, wenn es um die Wasserstellen der Bergtiere ging, die sie jagen wollten, und die Mädchen scherzten gerne mit ihm und die ein oder andere machte ihm schöne Augen.   Sinams Blick war jedoch auf Shuma gefallen, eine Tochter der Nesrati, einer angesehenen Familie in Faz'Fazar, die Sinam 10 Ziegen zum Hüten gegeben hatte und ihn dafür gut entlohnte. Auch Shuma lachte gerne mit ihm und sie war immer gerade dann am Brunnen, wenn Sinam die Ziegen hinab ins Tal führte. Der Moment, bis die Sonne in den Lippen der Bergzähne ganz versunken war, gehörte den beiden.   Doch nicht nur Sinam machte sich Hoffnungen auf die schöne Shuma. Imitras, Sohn des Toman, der nicht nur Jäger war, sondern aus den Fellen der Tiere das weichste Leder gerben konnte. Er besah sich die beiden mit Neid und tat viel darum, ihre Zweisamkeit zu stören, doch Sinam und Shuma fanden ihrerseits Wege, Imitras Tun erfolglos werden zu lassen.   So meint man der Geschichte nichts Böses abgewinnen zu können, aber das Qismat ist grausam hier im Drachenrücken und weiß, aus Gold Asche werden zu lassen.   Als im Dilek'Hutun nämlich das rote Furwinsauge in Nahalanis Sternbild leuchtete und der Regen schon viele Wochen ausgeblieben war, musste Sinam seine Herde weit hinaus in die Hochebene treiben. Viele Tage sollte er dort sein und weil das Grün auch auf jener Grasebene bescheiden und traurig aus dem Trockenen Boden lugte, kletterte er noch weiter hinaus, sodass er erst viele Wochen später wieder hinab steigen konnte. Vier Ziegen hatte er verloren, zwei waren verhungert und auch die anderen hatten wenig mehr als ihr Fell am Leib.   In Faz'Fazar war es den Menschen nicht viel anders ergangen. Der fehlende Regen hatte auch sie hungrig und krank werden lassen. Mager und düster waren ihre Gedanken und der Neid auf das wenige Mehr, das ihre Nachbarn hegten, machte aus ihnen Bluthunde ihres Verlangens.   Imitras hatte Shuma zu seiner Frau erwirkt und sorgte dafür, dass sie und ihre Familie nicht Hunger leiden mussten, denn die Beute, die er mit in sein Heim brachte, war wie ein Segen der guten Geisterund Götter, an dem er - für Gefallen versteht sich - auch andere teilhaben ließ.   Sinam war zornig, fluchte der Dürre und dem Qismat und am meisten Imitras, der den Hochmut des Siegers in seinem Erhabenen Lächeln zur Schau trug. Hinzu kam, dass man nun in den mageren Ziegen Sinams leckere Festbraten sah und das Leid die Menschen von Faz'Fazar dazu trieb, den Besitz der Ziegen weitaus weniger zu achten als ihrem Bedürfnis, ihren Bauch endlich wieder zu füllen. So überwältigten sie Sinam, der seine Ziegen verteidigen wollte, und trieben ihn als Geächteten aus der Stadt, denn er hatte es gewagt, den Menschen dort zu verweigern, ihren Hunger zu stillen.   Geschlagen und geprügelt wie ein Hund lief Sinam lange durch das Gebirge, doch bei allem Schmerz, den man ihm zugefügt hatte, war es der Hochmut Imitras und die Gleichgültigkeit Shumas, die ihm das Herz zerrissen und Zorn daraus wachsen ließ, der jeden klären Gedanken im roten Rausch verbrennen ließ. So kam er zu einem ausgetrockneten Bachlauf. An dem saß ein alter Mann, das Haar weiß wie die Wolken, die man so lange nicht mehr gesehen hatte, die Augen so blau und gnadenlos wie der Himmel, der der Sonne soviel Raum gab, das sie Boden und Fleisch gleichermaßen versengen konnte. Mit einem milden Lächeln sprach ihn der Greis mit einer weichen jungen Stimme an: "Qismat hat dich nicht verraten, mein Sohn, du musst ihr Zeit geben, den richtigen Weg zu offenbaren." Sinams Zorn brach mit Wucht aus ihm heraus, als er antwortete: "Alter Mann, du willst mir einen Rat geben und sitzt hier an einem Bach, der in diesem Monat kein Wasser mehr führen wird? Was kannst du mir geben außer das Bild eines Narren!"   Der alte Mann lächelte nur. "Einzig der Narr weiß um die Beständigkeit des Unmöglichen und wird belohnt für seinen Unsinn." Sinam schüttelte den Kopf und verließ den Greis, dessen Schakalpelz in der untergehenden Sonne golden glitzerte.   Der Mond brachte die Kühle der Nacht, doch kühlte er nicht den Hass, in den sich Sinams Zorn nun verwandelt hatte. Als er einen grobzackigen Abhang hinabstieg auf seinem Weg ins Nichts, verletzte er sich und drei Tropfen Blut fielen auf einen schmalen Felsspalt neben seiner linken Hand. Da hörte Sinam ein dumpfes Grollen daraus hervordringen und er hielt inne, für einen Augenblick den Zorn gegen Furcht tauschend. Aus der Dunkelheit blinzelten ihn rote Augen aus einem bärtigen, kleinen Gesicht an. Man möchte meinen, es sei ein Kind, so klein war es, doch in seinem Haar und seinem Bart zeigten graue Strähnen sein scheinbares Alter an. "Deine Wut dröhnt mir in meinem Schädel!   Was bildest du dir ein, des nachts so herumzuklettern auf mir und deinen Zorn mir aufzudrängen?", schimpfte das Wesen mit einer Stimme, die so scharrend wie Steine klang, die aufeinander rieben. Sinams Wut pochte erneut gegen seine Stirn, auch wenn seine Vernunft ihn warnen wollte vor dem Berggeist, den er verärgert hatte. "So fühlt es sich nun einmal an, wenn das Qismat einem einen Berg auf den Leib rammt, der einem die Luft zum Atmen nimmt", fauchte er zurück, dass die Augen des Geistes sich weiteten, bevor sie sich zu Schlitzen verengten. "Es ist traurig, dass du nur den Berg siehst und nicht die Möglichkeiten, die er dir offenbart." Sinam drehte dem Wesen den Rücken zu und kletterte weiter hinab. Er wollte nicht noch mehr weise Sprüche, die ihm nichts halfen gegen den lodernde Zorn und den Wunsch, denen zu schaden, die ihm dies angetan hatten.   Den Gedanken hatte er noch nicht beendet, als er eine schwarze Feder auf dem Boden vor ihm liegen fand. Sie war im Dunkel der Nacht kaum zu sehen gewesen. Ein Blick an den Himmel ließ Sinam erkennen, dass in der morgigen Nacht der Neumond jedes Himmelslicht verstecken würde. Als er seinen Blick wieder auf die Feder lenken wollte, verfing er sich in einer nachtschwarzen Gestalt: eine Frau, krähengleich vorgebeugt, Kleid oder Haut in spinnwebfeinen Fäden über den Leib gezogen, die Augen tief in ihren Höhlen verborgen, das Haar und Federn darin zu einem wilden Knäuel gebunden und die Lippen in blutroter Verheißung geschürzt.   "Keiner der beiden, nicht der Junge und nicht der Alte, werden dir die Fesseln um dein Herz zerreißen können. Doch ich kann dir helfen." Wild pochten Zorn und Angst in seinem Körper, in rotem Schleier war die Welt getaucht und Sinam küsste die Lippen, die sich ihm anboten und ihm Erlösung versprachen.   Kühl wurde sein Sinn, das Zornespochen sein Herzschlag und der Rhythmus seiner Schritte. Er wusste nun, was er tun musste.   Er nahm die Feder auf, stach sich mit ihrem spitzen Ende in den Finger und ließ einen Tropfen Blut darauf fallen, der wie Wasser auf trockenem Boden sofort im weichen Flaum verschwand. Ein Versprechen war gegeben und an einen Gegenstand gebunden worden. Nun müssten es und er an den Ort, an dem es eingelöst werden sollte.   Sinam erklomm den Berg, den er hinter sich gelassen hatte, wanderte den Morgen und den ganzen Tag, bis das Licht der Sonne blutrot am Horizont versunken war. Diese Nacht blieb ein feiner, leuchtender Ring wie ein Echo des Feuers des Tages am Saum des Nachthimmels hängen. Der Neumond beließ alles andere Schwarz und Blau.   Sinam betrat Faz'Fazar, besah sich die dunkel starrenden Türschlitze seiner Heimat, die in tiefem Schlaf lag. Das vertraute Lachen alter Freuden drang nicht an sein Ohr oder in seine Sinne, diese waren ganz und gar angefüllt mit dem Zorn auf jene, die ihn vertrieben hatten. Sein Blick verfing sich in Imitras Tür und das Lodern der Wutflamme nahm zu. Shuma würde zu ihm zurückkehren, wenn er nicht mehr wäre. Und so ging er zu jener Tür und grub vor ihr ein Loch in den staubtrockenen Boden.   Dieser war hart und steinig und seine Finger begannen nach kurzer Zeit zu bluten, doch Sinam grub weiter, bis ein Bett für jenen Rachepfand gegraben war, in das er die Feder legte und mit Erde bedeckte. "Die Rache ist Genugtuung und befreit Geist und Körper von den Fesseln des Zornes", so flüsterte er mit geschlossenen Augen, wie die Krähenfrau es ihm zugeflüstert hatte. Dann verließ er die Stadt, zog sich zurück, um zu sehen, was seine Rache bewirkte.   Die Nacht blieb schwarz, doch der Ring aus rotem Licht wuchs zu leckenden Flammen heran, als aus schwarzen Federn die geifernde Gestalt herauswuchs, deren süße Lippen er eine Nacht zuvor gekostet hatte. Sie sah sich um, sah ihn und lächelte, bevor sie im Haus seines Rivalen verschwand.   Es war totenstill. Kein Tierlaut, nicht einmal der Wind waren zu hören und so zerschnitt nur das Morden der Krähenfrau wie eine scharfe Klinge die Schwere der Nachtluft, bis der erste Schrei aus einem der ferneren Felsenhäuser an Sinams Ohr drang. Ein zweiter, schriller Schrei, der eines Kindes, folgte und mit einem Mal waren Blut und Sturm in Faz'Fazar und wüteten unter allem und jedem, der diese Stadt seine Heimat genannt hatte. Kinder, Greise, Frauen und Männer fielen im Toben der Krähenfrau.   Sinams Zorn wich aus seinen Gliedern und Sinnen. Was hatte er entfacht? Zu spät! Er schrie sein Entsetzen hinaus, rief hinab, mit dem Wüten aufzuhören, doch es war zu spät. Verzweifelt fiel er auf die Knie, hob den Blick in den Himmel, das Qismat anzurufen, den Seelen dort unten gnädig zu sein, doch sein Bittruf blieb ungehört. Stattdessen sah er eine Gestalt auf der anderen Seite der Steilwand, die die Stadt umgab, stehen, den Blick ebenso entsetzt in die Tiefe gerichtet, dann zu ihm, Sinam, blickend. Es war Imitras. Shuma hatte ihn am frühen Morgen ihres letzten Tages hinaus gebeten, um Sinam zu suchen und ihn zurück zu bringen - aus Sorge um sein Leben und seinen Geist.   Imitras starrte hinab, sah wie seine junge Frau, die schöne Shuma, blutend und sterbend zu Boden fiel. Seine Augen füllten sich mit Tränen, er konnte sich nicht bewegen.   Dann sah er den Mann auf der anderen Seite des Steilhangs: Sinam, und er wusste, was geschehen war.   Nun füllte Wut auch sein Herz und das Feuer von Zorn und Hass wütete in seinen Sinnen wie lodernde Flammen auf trockenem Holz. Er fühlte, wie jenes Gefühl ihn mitriss, wie er seinen Speer fester packte und in seinem Geiste dessen Spitze in Sinams Leib versenkte. Gleichsam einem Flammensturm stob der Zorn der Rache dort unten im Tal auf ein Neues an und Imitras wurde gewahr, dass seine aufbegehrende Rache das grausame Tun der Krähenfrau dort unten beflügelte. Er trat vom Steilhang zurück, durch seine Tränen fast blind, doch war sein Geist Sieger über das Verlangen der Rache. Er warf einen letzten Blick zurück auf Sinam. Der am Rande der Stadt zusammengebrochen war. Ein Keim von Mitleid umwogt von wütenden Flammen, so besah er sich den Mann, der der Stadt den Tod gebracht hatte.   Dann lief Imitras davon.   Manche erzählen, dass Sinam noch heute am Fuße jenes Tales sitzt, ein Mahnmal für Faz'Fazar, und das Imitras in Neumondnächten warnend die Geschichte von jener Stadt all jenen erzählt, für das Qismat einen schweren Weg vorgesehen hat. So frage ich dich, hättest du auf den Greis mit dem Schakalfell oder das bärtige Kind gehört? Oder hättest auch du die Lippen der Krähenfrau kosten wollen? Alles hat seinen Preis.


Cover image: by Zoltan Tasi @unsplash

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