Hammer und Segen I - Die Architektin und der Priester by Racussa | World Anvil Manuscripts | World Anvil

28. Juli 1957

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Leonid schlug die Augen auf, orientierte sich kurz und strich dann sein zerzaustes Haar zurück. Neben sich bemerkte er den schlafenden Stabswachtmeister Winter. Er stieß den Schlafenden an, der nach dem Erwachen verschlafen fragte: „Wie spät ist es?“

Leonid wandte sich zum Nachtkästchen um, schaute auf seine dort liegende Armbanduhr und antwortete: „Kurz nach halb elf. Aber bleib ruhig liegen, heute ist Sonntag, kein Dienst. Und ich habe mich auch gestern abends noch bei unserem Priester erkundigt, ob er heute vorhabe, das Zimmer vor seinem 17-Uhr-Termin mit der Piatnizkaja zu verlassen. Hat er nicht und deshalb habe ich auch noch ein paar Stunden.“

Winter blickte Leonid von unten an und rieb sich dann mit der linken Hand den Kopf: „Ich bin erstaunt, wie wenig sich mein Kopf dreht. Das muss gestern jede Menge Wodka gewesen sein.“

Leonid lächelte: „Russischer Wodka ist ein Qualitätsprodukt, davon bekommt man keine Kopfschmerzen. Hast du auch alles andere vergessen; von gestern Abend?“

Als erste Antwort zog Winter den darauf nicht gefassten Leonid zu sich herunter auf den Polster und küsste ihn: „Natürlich nicht. Ich wünschte, dieser Tag würde nie enden; wir könnten für immer hier zusammen bleiben. Vielleicht gibt es einen Weg, dass“ Abrupt stand Leonid auf, stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. Ohne ihn anzusehen, sagte er zu Winter: „Es war das zweite und vorletzte Mal, dass wir uns so begegnet sind.“

Winter richtete sich im Bett auf und blickte verwirrt Richtung Fenster. „Wie meinst du das, das vorletzte Mal? Niemand kann etwas mitbekommen haben. So gut wie sich deine Chefin und der Priester verstehen, wird sein Visum sicher verlängert werden, dann brauchen sie dich als Dolmetscher hier. Und mein Oberstleutnant hegt nicht den geringsten Verdacht, ja, er hat sogar gemeint, es könnte sinnvoll sein, wenn du mir ein bisschen die Stadt zeigst und ich dann aus Sicherheitsgründen hier im Hotel übernachte und nicht zurück zur Botschaft fahre. Wahrscheinlich hofft er sogar, dass ich durch dich an zusätzliche Informationen komme.“ Leonid wandte sich wieder zum Bett um und genoss Winters Anblick. Dann setzte er sich auf einen der bequemen Sessel und überlegte. Schließlich sagte er: „Ich hätte dir etwas sagen sollen, bevor wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Ich lebe nach gewissen Regeln, die ich nie breche.“

Winter runzelte besorgt die Stirn: „Wenn du mir jetzt sagen willst, dass du mich ausspionieren wolltest und mich deshalb verführt hast; wenn du weiter sagen willst, dass es dir jetzt leid tut, weil du plötzlich doch etwas für mich empfindest, dann sag es gleich direkt. Ich bin Soldat und schätze klare Worte mehr als verzögerndes Herumreden. Und dass du als Dolmetscher sicher auch für den Geheimdienst arbeitest, ist mir so klar wie dir mein Auftrag, dich auszuhorchen, bewusst sein muss.“

Leonid schüttelte den Kopf: „Die Regeln, von denen ich sprach, haben nichts mit meinem Beruf zu tun. Du kannst dir vorstellen, dass ich öfters von Frauen und Männern angesprochen werde. Zum Teil lege ich es darauf an, zum Teil wirken meine Schönheit und mein Charme von selbst. Ich kann das ja nicht abstellen, ich bin einfach so.“

„Na, dein Selbstbewusstsein steht deiner Schönheit in Nichts nach.“ ätzte Winter, der immer unruhiger wurde und sich mit der Decke einwickelte.

„Ich weiß, Thomas, aber lass mich ausreden. Normalerweiser sage ich jeder Frau und jedem Mann, bevor ich mit ihnen schlafe, dass es nur für einmal ist. Ich verstehe das in gewisser Hinsicht auch als eine sozialistische Dienstleistung und eine Form von Gerechtigkeit.“

Winter sprang aus dem Bett und blieb fassungslos stehen: „Sag mir jetzt, dass das ein Scherz ist! Ich habe noch nie irgendeinem Menschen gegenüber so empfunden wie dir, nicht einmal gegenüber meiner Verlobten zuhause. Ich habe mich mit dir auf etwas eingelassen, wozu ich mein ganzes Leben noch nicht den Mut hatte. Ich habe das Ende meiner Karriere und die gesellschaftliche Ächtung riskiert, die mir droht, wenn irgendjemand jemals erführe, dass ich einen Mann liebe. Und du redest von Gerechtigkeit und Sozialismus, um mir indirekt deutlich zu machen, dass ich eine deiner vielen Trophäen bin? Da wäre es mir ja noch lieber gewesen, du hättest mich auf Befehl deiner Regierung verführt. Wie konnte ich nur so ein Idiot sein?“

Mit diesen Worten begann er, nach seinen Sachen zu suchen. Zuerst fand er ein Hemd, dann eine Jacke. Leonid kam auf ihn zu, packte ihn fest und zog seinen Kopf so nach oben, dass er ihm direkt in die Augen blicken konnte: „Es tut mir leid, dass es für dich ein so großes Problem ist, auch Männer zu lieben. Ich habe eine ganz andere Einstellung zur Sexualität. Ich sehe sie als erweiterte Form des Gesprächs; als Dialog, der beiden Freude macht, sie aber zu nichts verpflichtet. Je öfter man sich aber trifft, desto mehr tritt neben den körperlichen Effekt auch eine emotionale Bindung. Und die macht dich verletzlich, erpressbar und schwach. Aber du hast mich immer noch nicht ausreden lassen: Zu der ersten Regel, mit jemandem nur einmal zu schlafen und es ihm oder ihr auch vorher ausdrücklich so zu sagen, treten noch zwei weitere. Menschen, denen ich nicht nur die flüchtige Freude einer Begegnung machen möchte, sondern die mich auf eine faszinierende Art ansprechen, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, mit solchen Menschen schlafe ich drei Mal. Das erste Mal im Rausch der Neugierde, den Körper des anderen in jeder Faser zu erspüren, den anderen im wörtlichen Sinn zu begreifen. Das zweite Mal in dem Genuss, ein bekanntes Land zu betreten, in eine vertraute Heimat zurückzukehren. Das ist bei weitem nicht so explosiv wie das erste Treffen, aber es ist auf eine Art und Weise befriedigend, die mich für kurze Zeit alles vergessen lässt: Meine Vergangenheit und meine Zukunft, meinen Staat und meine Aufgabe, alle anderen Menschen, mit denen ich vorher geschlafen habe und später schlafen werde; einfach alles. So in den Armen eines Menschen einzuschlafen, ist eines der größten Gefühle, die uns Menschen möglich sind. Das dritte Mal, und wenn es dich tröstet, das gab es in meinem Leben erst bei zwei Personen, das dritte Mal ist eine ekstatische Form des Abschiednehmens. Es ist der verzweifelte Versuch, noch einmal die ersten beiden Begegnungen zusammenzufassen und zu übertreffen. Das dritte Mal ist aber auch die Trennung, und das wird nicht nur höchsten Genuss, sondern auch tiefste Verzweiflung auslösen. Ich werde alles tun, um es für dich zu einer besonderen Begegnung zu machen, die du nie vergisst; und auch ich werde sie nie vergessen. Aber danach werden wir uns wieder so begegnen, wie vor unserem ersten Sex. Und wir werden nie mehr über diese Erfahrungen sprechen. Dieses dritte Mal ist das Eingeständnis unserer Sterblichkeit: Wir sind Körper, die wachsen, blühen und verwelken. Und keine Liebe der Welt kann das verhindern. Und keine Liebe der Welt kann den anderen auch nur eine Sekunde länger leben lassen. Dieser ganze Schmerz ist zusammengefasst in diesem dritten und letzten Akt. Aufgehoben und für einen Augenblick völlig transzendiert. Und danach muss es vergessen sein, sonst wird der Schmerz unerträglich.“

Winter stand völlig ratlos da, Hemd und Jacke sinken lassend. Nach einiger Zeit der Stille sagte er mit heiserer Stimme: „Ich wünschte, ich wäre heute früh einfach gegangen und hätte nicht hören müssen, was du jetzt gerade gesagt hast. Ich kann mich nicht entscheiden, ob du ein völlig größenwahnsinniger Eisblock bist, der selbst glaubt, was er da sagt, oder ob du ein verdammter Sadist bist, der sich über mich und meine Gefühle lustig macht.“

Leonid ließ Winter los: „Weder noch: Ich habe vielleicht die Tiefe deiner Gefühle am Anfang unterschätzt, aber ich sehe sie jetzt mit einer Klarheit vor mir, die mich Qualen leiden lässt. Schon die Art, wie wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, damals im Zug von Lemberg nach Moskau, war so anders als die ungezählten Male vorher. Deshalb rede ich so ehrlich mit dir. Deshalb setze ich dich nicht einfach vor die Tür und gehe meinen bewährten Weg weiter. Und deshalb möchte ich auch das dritte Mal in ganz besonderer, nüchterner Weise mit dir genießen. Und bevor du fragst oder versuchst, mich dazu zu überreden ein gemeinsames Leben zu planen, muss ich dir noch die dritte Regel sagen, nach der ich lebe und von der die ersten beiden abgeleitet sind: Baue nie eine Beziehung auf gutem Sex auf, denn der wird auch mit dem schönsten Partner irgendwann Routine, sondern auf tiefem Vertrauen, einer gemeinsamen Zukunftsplanung und einer realistischen Perspektive für etwas Großes, das man zusammen erreichen kann. Und den Menschen, mit dem ich in dieser Weise verbunden bin, habe ich vor 6 Jahren kennengelernt. Und seither bin ich ihm in einer Weise verbunden, die durch nichts zerstört werden kann.“

Hemd und Jacke glitten aus Winters Hand auf den Boden. Für einen Augenblick wankten ihm die Knie und Leonid wollte ihn schon stützen, als er wütend dessen Hände zurückstieß und ihn mit der Faust so ins Gesicht schlug, dass er zurückfiel: „Du bist ja nicht ganz dicht! Du erzählst mir seelenruhig, dass du seit sechs Jahren eine Frau oder einen Mann hast; und im selben Atemzug rühmst du dich, mit wahrscheinlich jedem Mann und jeder Frau in ganz Moskau geschlafen zu haben? Bist Du denn völlig verrückt?“

Leonid stand auf und antwortete gefasst: „Ich habe dir das deshalb erzählt, weil du mir wichtig bist. Wenn du ihn kennen würdest, könntest du mich verstehen. Er ist dir in vielem sehr ähnlich. Ich habe ihn beim Militär kennengelernt. Er versteht mich und meine Bedürfnisse und Ideale, er“

Es klopfte so heftig an der Tür des Hotelzimmers, dass Leonid und Winter erschreckt zusammenzuckten. Reflexartig stieß Leonid Winter auf das Bett und warf  die Decke über ihn. Schon wurde das Klopfen, noch lauter, wiederholt. Leonid lief zur Tür und wollte sie einen Spalt öffnen. Doch kaum hatte er den Schlüssel umgedreht, stieß Aleksandra die Tür mit einer Wucht auf, die aus einem weiteren Klopfversuch resultierte. Sie stolperte fast in das Zimmer und wandte sich verwirrt um. Leonid versuchte, Haltung anzunehmen, bevor er bemerkte, dass er immer noch nackt war. Aleksandra schien das nicht einmal wahrzunehmen. Sie trug eine Marineuniform mit den Abzeichen eines Kapitäns. In der Hand hielt sie eine Reisetasche. Nach einem Augenblick der Orientierung stieß sie die Tür zu, stellte hastig die Tasche auf das Bett, öffnete sie und holte Teile einer Uniform heraus.

„Genosse Schachlikow, Sie werden sich jetzt sofort diese Uniform anziehen. Wir haben nicht viel Zeit. Es hat einen Putsch gegeben und Genosse Chrustschow ist von den Putschisten gefangengenommen worden. Es besteht höchste Gefahr für Doktor Erath, den wir auf höchsten Befehl sofort außer Landes bringen werden. Er wird als thüringischer Offizier verkleidet, sie sind sein Adjutant und Dolmetscher. Auf dem Militärflughafen wartet eine Maschine, die uns nach Weimar bringen wird.“

Als Aleksandra das Zögern Leonids wahrnahm, setzte sie hastig hinzu: „Ich bin über Ihre Funktion und Aufgabe beim KGB informiert und setze Sie in Kenntnis, dass ich in dieser Sache von höchster Stelle autorisiert bin, ihnen Befehle zu erteilen. Ich arbeite für denselben Dienst. Ihr Kommandant ist Oberst Erenzow von der II. Hauptabteilung. Ihr letzten Aufträge für den Geheimdienst haben Sie in Wladikawkas, Tallinn und Odessa erledigt.“ Mit diesen Worten warf sie Leonid die Uniform zu, die er nun als zur Nationalen Volksarmee der Volksrepublik Thüringen gehörig erkannte.

Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, für den er seinen besorgten Blick auf das Bett richtete, doch er genügte, um Aleksandra zu alarmieren. Sie zog ihre Pistole aus dem Holster, entsicherte sie und richtete sie auf den Haufen Bettdecke: „Wer ist da? Kommen Sie sofort heraus!“ Da keine Reaktion erfolgte, zog Aleksandra mit der linken Hand die Decke mit einem Zug weg und entblößte den auf dem Bett liegenden Winter.

Aleksandras Gesicht spiegelte Verwirrung, Winter versuchte angesichts der auf ihn gerichteten Waffe nicht, sich zu bedecken. „Was ist hier los?“, fragte Aleksandra direkt. Geistesgegenwärtig antwortete Leonid: „Genossin Kapitän, Stabswachtmeister Winter versteht kein Russisch. Es ist am besten, wenn er sich anzieht und sofort das Hotel verlässt. Er wird niemandem etwas sagen können.“

Unbeirrt hielt Aleksandra ihre Waffe auf den nackten Österreicher gerichtet: „Er hat mich in Uniform gesehen; er weiß, dass Sie auch involviert sind. Wir können ihn nicht gehen lassen.“

Winter blickte verwirrt von Aleksandra zu Leonid. Dessen Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sekunden der Stille vergingen. Dann sagte Aleksandra: „Wir ändern den Plan. Da Sie ungefähr die gleiche Statur haben, geben Sie ihm diese Uniform. Er soll sie sofort anziehen. Sie werden Ihre russische Marineuniform anziehen. Haben Sie sie hier oder in Ihrer Wohnung?“

Leonid atmete voll Erleichterung aus, und auch Winter entspannte sich leicht, als er sah, dass Aleksandra ihre Waffe sicherte und einsteckte. „Noch einmal: Haben Sie Ihre Uniform hier? Es interessiert mich nicht im Geringsten, mit wem Sie Ihre Freizeit verbringen. Wichtig ist jetzt nur, dass wir so schnell als möglich mit Doktor Erath zum Flughafen kommen. Und deshalb brauche ich Sie als Dolmetscher.“

Leonid fasste sich und antwortete: „Genossin Kapitän, ich habe meine Uniform und meinen Ausweis hier. Aber wie kommt Thomas, wie kommt Stabswachtmeister Winter durch die Kontrolle des Flughafens ohne Ausweis?“

Aleksandra griff in die Tasche und holte zwei Thüringische Pässe heraus. „Sie ziehen sich sofort an und sagen ihm, dass ich seinen Pass brauche. Ich werde mit der Photographie ein wenig improvisieren müssen, aber aufgrund der chaotischen Zustände werden die Kontrollen heute nicht so genau sein. Er soll sich währenddessen ebenfalls die Uniform anziehen. Der zweite Pass ist für Doktor Erath. Sie werden als Kraftfahrer den Wagen lenken, der hinter dem Hotel parkt. In die Maschine bekomme ich Sie dann schon, auch wenn ich dafür vorher noch telefonieren muss.“

Leonid übersetzte und unterstrich, dass Winter auf keinen Fall Fragen stellen durfte. Dieser gab zögernd Aleksandra seinen Pass, den er aus seiner am Boden liegenden Jacke genommen hatte. Als Leonid ihm die Uniform gab, schüttelte er den Kopf: „Ich kann keine fremde Uniform anziehen. Ich muss sofort zu Oberstleutnant Bruschek. Ich werde über diese Begegnung nichts sagen. Du musst ihr das erklären. Ich kann doch nicht zum Verräter werden!“

Leonid sprach kurz mit Aleksandra und antworte dann Winter: „Wir haben gerade einen Putsch laufen. Das gesamte diplomatische Personal wurde unter Hausarrest gestellt; die Botschaften sind von Truppen der Putschisten ‚zum Schutz der Diplomaten‘ umstellt worden. Es gibt für dich sowieso keine Möglichkeit, unbemerkt in die Botschaft zurückzukehren. Und dein Vorgesetzter wird im Moment andere Gedanken haben, als wo sein Unteroffizier ist. Zieh bitte die Uniform an. Mit einem Geheimdienstoffizier ihres Ranges ist nicht zu spaßen. Es ist ein Wunder, dass du noch lebst.“ Er warf Winter die Uniform zu, und dieser begann sie zögerlich anzuziehen.

Währenddessen entfernte Aleksandra vorsichtig Winters Photographie aus seinem österreichischen Pass und Leonids Bild aus dem gefälschten Thüringischen Pass. Zuletzt heftete sie Winters Photographie in diesen Pass und betrachtete ihn aus der Entfernung, die auch die Wache an der Einfahrt des Flughafens zum Ausweis haben würde. Sie wiegte unsicher den Kopf.

Winter hatte sich inzwischen angezogen und schloss die letzten Knöpfe der Uniformjacke. Auch Leonid hatte seine Marineuniform angelegt und seine Mütze aufgesetzt. Winter blickte ihn verwundert an und versuchte immer noch, die Situation zu verstehen. Zumindest, dachte er, weiß ich jetzt sicher, was ich bisher nur vermutet hatte: Beide sind beim Geheimdienst. Aber ob sie auf Seite der Putschisten oder der gestürzten Regierung standen, das konnte Winter nicht sagen.

 

Als wäre es von unsichtbarer Hand eingefädelt, legte Johann just in dem Augenblick sein Gebetbuch weg, als es heftig an seiner Tür klopfte. Verwirrt schaute er auf seine Uhr, stand auf und ging zu der Verbindungstür zu Schachlikows Wohnung. Ein erneutes Klopfzeichen war schneller, als er öffnen konnte. Schließlich blickte er verwundert auf das ungewöhnliche Trio: Aleksandra in einer militärischen Uniform, ebenso Leonid und auch Winter, doch halt, Winter hatte keine österreichische Uniform an.

„Treten Sie ein“, sagte Johann höflich, als sich die drei schon an ihm vorbei in das geräumige Zimmer drängten und er die Tür schloss. Auf Aleksandras Wink begann Leonid zu sprechen, während Winter die Tasche öffnete und eine weitere Uniform herausholte. „Herr Doktor, es sind gewisse politische Umstände eingetreten, die Ihre sofortige Evakuierung nötig machen. Es ist nicht möglich, Sie in die österreichische Botschaft zu bringen, deshalb wird Genossin Piatnizkaja sie persönlich nach Weimar bringen. Dort sind Sie in Sicherheit. Stabswachtmeister Winter wird Sie ebenfalls begleiten. Bitte ziehen Sie diese Uniform an. Wir haben auch einen entsprechenden Pass für Sie vorbereitet. Diese Maßnahmen sind leider notwendig und die Zeit drängt.“

Johann blickte verwirrt zuerst auf Aleksandra, dann auf die Uniform. Schließlich wandte er sich an Schachlikow: „Das ist eine Thüringische Uniform? Ich kann doch keine kommunistische Uniform tragen! Das widerspricht allen meinen Prinzipien. Und nicht zuletzt würde jeder sofort sehen, dass ich nie gedient habe. Thomas, sie müssen ihm das verständlich machen! Herr Schachlikow, bitte übersetzten Sie das für Frau Doktor Piatnizkaja!“

Bevor Leonid etwas sagen konnte, hielt Winter ihn zurück: „Johann, es ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt, um über Prinzipien nachzudenken. Das kannst du in Weimar machen, oder noch besser in Österreich. Wir haben doch öfter darüber gesprochen, dass es hier sehr ungemütlich werden könnte, wenn sich das politische Klima ändert. Ich denke, die ungemütlichst mögliche Situation ist eingetreten. Leonid, hast du noch Wodka in deinem Schrank? Hol ihn!“ Leonid blickte verwirrt auf Winter:

„Thomas, was hast du vor?“

„Doktor Erath wird ein betrunkener thüringischer Offizier sein, der nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Niemand wird sich daran stoßen, wenn er dann nicht militärisch korrekt grüßt. Alle werden lachen und denken, dass wieder einmal jemand den russischen Trinkgewohnheiten nicht gewachsen war. Sag es deiner Chefin und hol den Schnaps!“

Während Leonid Aleksandra übersetzte, protestierte Johann heftig: „Ich trinke außerhalb der Messe nie Alkohol, schon gar keinen Schnaps. Ich werde bei dieser Scharade nicht mitwirken. Wenn wir hier im Hotel bleiben, sind wir doch sicher.“ Als Leonid auch das übersetzt hatte, klopfte es erneut an der Tür.

Als Johann sich zur Tür umwandte, nutzte Aleksandra die Gelegenheit, ihm durch das Hemd eine kleine Spritze anzusetzen und den Inhalt zu injizieren. Verwirrt griff er an die schmerzende Stelle und sackte dann zusammen, von ihr geistesgegenwärtig aufgefangen. Gemeinsam mit Winter legte sie ihn auf die Bank. Aleksandra ging durch Schachlikows Zimmer und holte Olga herein, die einen Koffer bei sich trug.

Aleksandra zog sie förmlich in das Zimmer und schloss die Tür. „Aleksandra, was ist hier los? Was hast Du da an? Und wieso sind in deinem Kasten in der Wohnung zig verschiedene Uniformen? Weißt Du, was auf den Straßen passiert? Überall fahren Panzer? Was soll das?“

Aleksandra nahm Olga den Koffer aus der Hand, stellte ihn auf das Bett und öffnete ihn. Ohne auf die beiden Männer zu achten, zog sie Uniformjacke, Hemd und Rock aus und begann, die Uniform aus dem Koffer anzuziehen. Winter blickte verwirrt auf den ohnmächtigen Johann, Olga und Leonid schauten noch verwunderter auf Aleksandra, die nun im Gold eines Generalmajors der Luftwaffe glänzte. Vor dem Spiegel überprüfte sie den Sitz ihrer Uniform und rückte das Schiffchen auf ihrem Kopf zurecht. Sie wandte sich an Olga: „Ich konnte dich nicht einweihen, aber jetzt ist es egal. Du hast immer von Abenteuern geschwärmt; und davon, wie langweilig mein Leben im Verhältnis zu deinem sei. Nun ja, meines war so aufregend, dass ich dir nicht davon erzählen durfte. Obwohl du der Mensch bist, dem ich außer Wladi am meisten vertraue.“

„Du, du bist Agentin?“, stotterte Olga fassungslos. Aleksandra nickte. „Und der tote Priester auf der Bank, den hast du umgebracht? Aber warum jetzt, nachdem du ihn vier Monate lang so sorgfältig betreut hast, dass ich schon glaubte, ihr hättet etwas miteinander. Und du Leonid? Warst du die ganze Zeit in die Sache eingeweiht? Deshalb warst du so aufgelöst, als ich nach unserem Stelldichein in diese Wohnung gekommen bin? Aus Angst vor einer Strafe des KGB? Du bist auf jeden Fall ein besserer Liebhaber als Agent!“

Aleksandra runzelte die Stirn: „Du warst schon einmal in dieser Wohnung, Olga? Genosse Schachlikow, Ihr Privatleben interessiert mich nicht, aber das ist unverzeihlich. Über die Strafe für dieses Dienstvergehen reden wir später noch!“ Dabei glitt ihr Blick von Leonid zu Winter und dann zu Olga, wobei Winter verständnislos in die Runde blickte.

„Und, Olga, Doktor Erath ist nicht tot. Er war nur nicht leicht davon zu überzeugen, evakuiert zu werden. Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht, das ich von Doktor Bodin bekommen habe. Es besteht keine Gefahr für seine Gesundheit. Die Putschisten wollen den Kurs der Öffnung, zu dem auch Doktor Eraths Aufenthalt zählt, mit allen Mitteln verhindern. Wir werden ihn als thüringischen Offizier nach Weimar bringen. Dafür werden wir ihm jetzt diese Uniform anziehen.“

Olga war immer noch verwirrt, fasste sich aber: „Aleksandra, ich habe mit Leonid geschlafen, um die Gerüchte über dich und ihn zu entkräften.“

Aleksandra hörte nur halb zu, weil sie eilig die thüringische Uniform auseinander faltete: „Du hast eine sehr uneigennützige Art der Unterstützung gewählt. Danke sehr. Aber darüber können wir reden, wenn das alles hier vorbei ist. Von mir wird Ilja nichts erfahren. Jetzt aber drängt die Zeit!“

Ohne Zögern beugte sich Aleksandra vor und öffnete Johanns Gürtel, um ihm danach die Hose auszuziehen. Währenddessen zog ihm Schachlikow das Hemd aus. Johanns schlaffer Körper wurde in die thüringische Uniform gehüllt. „Leonid, Sie bringen ihn gemeinsam mit Stabswachtmeister Winter ins Auto. Sein Pass und sein Geld müssen auf jeden Fall hierbleiben, ebenso sein Gewand und alle persönlichen Gegenstände.“ Schachlikow übersetzte für Winter, der nun erleichtert nickte und gemeinsam mit ihm Johann aufhob und hinaustrug.

Aleksandra machte einen letzten Blick durch das Zimmer. Schon wollte sie sich umdrehen, da fiel ihr Blick auf Johanns Brevier, das geschlossen auf dem Tisch lag. Sie zögerte einen Augenblick, dann nahm sie es. Als wollte sie sich entschuldigen, sagte sie zu Olga: „Dieses Buch ist ihm anscheinend sehr wichtig, es wird nicht auffallen, weil niemand das Gepäck eines Generalmajors durchsuchen wird. Olga, bitte, du musst den Koffer und die Reisetasche in meine Wohnung bringen. Ich werde dir von Weimar aus Bescheid geben, dass es uns gut geht. Du wirst meine Botschaft erkennen, auch wenn sie in einer Weise verschlüsselt ist, die nur du verstehen kannst.“

Langsam löste sich Olgas Erstarrung: „Aleksandra, ich werde dir natürlich helfen, auch wenn ich so gut wie nichts von dem verstehe, was hier vor sich geht. Aber meinst du wirklich, dass ihr in Weimar sicher seid? Und wie willst du überhaupt dorthin kommen?“ Aleksandra steckte das Buch in eine kleine Handtasche, die sie aus der Reisetasche genommen hatte, packte dann die Reisetasche in den Koffer und gab diesen Olga. „Auf dem Militärflughafen wartet eine Maschine, die einen thüringischen Offizier nach Weimar zurück bringen soll. Ich werde ihn dorthin begleiten. Mein Rang wird die Wache trotz der chaotischen Situation so beeindrucken, dass er uns durchlassen wird. Der Pilot der Maschine ist auf unserer Seite.“

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